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L4000 Anstandsverletzung, Bettelei, Ehrenkränkung, LärmerregungNorm
EMRK Art10Leitsatz
Verletzung im Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung durch Verhängung einer Verwaltungsstrafe auf Grund Schwenkens einer Fahne mit der Aufschrift "A.C.A.B." – all cops are bastards – bei einem Fußballmatch mangels Vorliegens einer Anstandsverletzung; Unverhältnismäßigkeit der Bestrafung wegen nicht ausreichender Beachtung der Art und Umstände der ÄußerungSpruch
I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt worden.
Das Erkenntnis wird aufgehoben.
II. Das Land Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Dem Beschwerdeführer wurde mit Bescheid der Landespolizeidirektion Wien eine Geldstrafe in der Höhe von € 350,– (Ersatzfreiheitsstrafe von drei Tagen und zwölf Stunden) wegen Verstoßes gegen den öffentlichen Anstand gemäß §1 Abs1 Z1 des Wiener Landes-Sicherheitsgesetzes – WLSG auferlegt, weil er im April 2017 während eines Fußballspieles in einem Stadion "eine mehrere quadratmetergroße Fahne" (ein an einer Stange befestigtes Transparent) mit dem Schriftzug "A.C.A.B." geschwenkt hat.
2. Das Verwaltungsgericht Wien bestätigte den Bescheid mit der Maßgabe, dass die Geldstrafe auf € 150,– und die Ersatzfreiheitsstrafe auf zwei Tage herabgesetzt wurden. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung stellt es folgenden Sachverhalt fest:
"Der Beschwerdeführer befand sich am 15.04.2017 von 19:34 bis 19:44 Uhr während eines Fußballspiels in Gerhard-Hanappi-Platz 1, 1140 Wien[,] im Block West auf der Zuschauertribüne, während eine Vielzahl sonstiger Zuschauer ebenso anwesend war[…] und dem Spielverlauf folgte[…]. Der Beschwerdeführer schwenkte dabei eine Fahne[,] auf welcher die Buchstabenkombination 'A.C.A.B.' zu lesen war. Im Stadion waren nicht nur Zuschauer, Fans, Spieler, sondern auch eine Mehrzahl an sich im Dienst befindliche[r] Sicherheitswacheorgane[…] an[wesend]."
Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes Wien erfüllt der Beschwerdeführer mit seinem Verhalten den Tatbestand der öffentlichen Anstandsverletzung, und zwar aus folgenden Gründen:
"Gegenständlich […] wurde eine – unstrittig mehrere Quadratmeter große – Fahne mit der Aufschrift 'A.C.A.B.' geschwenkt. Die Fahne wurde nicht nur gehalten, sondern der Schriftzug durch das Schwenken zur Schau gestellt. Wie in der bisherigen Rechtsprechung betont wird, wird dies […] häufig in Jugendsubkulturen bzw [der] Neonaziszene [als] eine Abkürzung für 'all cops are bastards' verwendet […]. 'A.C.A.B.' ist daher nicht so verschlüsselt, dass es als eine Geheimsprache unter Eingeweihten gelten könnte.
Der dieses Wort Verwendende bringt damit eine nicht unerhebliche Geringschätzung des Gegenübers zum Ausdruck, da damit Sicherheitswacheorgane mit Bastarden gleichgestellt werden. Dies bedeutet, den anderen Menschen damit als minderwertig einzustufen und ist ein Schimpfwort (vgl Erklärung Duden). Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes wurden damit unmittelbar bei der Vollziehung ihrer Aufgaben mit einer Beschimpfung konfrontiert. Dass dies entweder milieubedingt oder situationsbedingt normal sei, kann nicht erkannt werden. Nicht nur, dass derartige Herabwürdigungen situationsbedingt nicht anzuerkennen sind, sondern ist auch darauf hinzuweisen, dass sich im Stadion nicht nur derartige Fans [befanden], für welche dies unter Umständen milieubedingt normal erscheinen mag, sondern auch die betroffenen Sicherheitswacheorgane und ebenso eine sonstige Öffentlichkeit. Einen anderen Menschen als 'bastard' zu bezeichnen[,] ist bereits für sich allein genommen als anstößig oder unschicklich anzusehen, sodass dies jedenfalls jene Formen des äußeren Verhaltens verletzt, die nach Auffassung gesitteter Menschen der Würde des Menschen als sittliche[…] Person beim Heraustreten aus dem Privatleben in die Öffentlichkeit entsprächen.
Gegenständlich lag ein bewusstes Schwenken der Fahne (von sichtbarer Größe) über jedenfalls einige Minuten hinweg mit dem – durch das Schwenken – jedenfalls sichtbaren Schriftzug im[…] mit Zuschauern und auch Sicherheitswachbeamten gefüllten Stadion während eines Fußballspiels vor."
Auch das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung steht nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes Wien der Bestrafung des Beschwerdeführers nicht entgegen. Zwar fordere dieses Grundrecht – so das Verwaltungsgericht Wien – besondere Zurückhaltung bei der Beurteilung einer Äußerung als strafbare Anstandsverletzung. Der vorliegende Sachverhalt sei jedoch nicht mehr vom Grundrecht erfasst, auch wenn der Beschwerdeführer mit dem Schwenken der Fahne "seine Meinung zum schwierigen Verhältnis zwischen Exekutivorganen und Fußballfans sowie insbesondere Kritik an der bisweiligen Vorgehensweise der Polizei generell und deren starke[r] Präsenz zum Ausdruck bringen [habe] wollen […], so ist dies angesichts der klaren Beschimpfung nicht als solche[…] zu werten".
Den vorliegenden Fall hält das Verwaltungsgericht Wien mit deutschen Fällen, denen ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde gelegen ist, für nicht vergleichbar. Dort habe das deutsche Bundesverfassungsgericht die Verurteilung des Beschwerdeführers zwar als Verletzung im Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung angesehen, dies jedoch deshalb, weil der Verurteilung nach dem deutschen Straftatbestand der Beleidigung die für die Erfüllung des Tatbestandes erforderliche Individualisierung gefehlt habe.
Abschließend hebt das Verwaltungsgericht Wien nochmals hervor, dass die Bedeutung der Abkürzung ACAB nicht nur für eine kleinere Gruppe von eingeschworenen Fußballfans "manifest erkennbar" sei. "[D]urch die Größe des verwendeten Aufdrucks (mehrere Quadratmeter große Fahne) sowie das besondere Zur-Schau-Stellen durch ein Schwenken über zumindest mehrere Minuten hindurch (wodurch sich sonstige Zuseher dem auch schwerer entziehen konnten, da es nicht nur passiv war, sondern die Aufmerksamkeit auf sich zog)", unterscheide sich der vorliegende Fall von jenen Fällen, in denen die Verwaltungsgerichte eine Anstandsverletzung verneint hätten. Zwar sei zu berücksichtigen, dass man sich während eines Fußballspieles im Fußballstadion auf eine gewisse Inszenierung einlasse, welche im täglichen Leben nicht anerkannt werden würde. Jedoch gelte auch hier, dass nicht jede Äußerung in jeder Form erlaubt sei, sondern auch hier die Grenzen des Anstandes gegeben seien. Da der Beschwerdeführer auch erkennen hätte können, dass er durch sein Verhalten den öffentlichen Anstand verletze, sei auch der subjektive Tatbestand des Deliktes erfüllt.
3. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung gemäß Art10 EMRK behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.
Zur geltend gemachten Verletzung im Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit wird im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer mit dem Hochhalten der Fahne mit der Aufschrift "ACAB ULTRAS RAPID" während eines Fußballspieles seine kritische Haltung gegenüber der Polizei zum Ausdruck gebracht habe. Es sei bekannt, dass das Verhältnis zwischen Polizei und Fußballfans von zahlreichen Konflikten geprägt sei und die Parole ACAB seit jeher die in der Fanszene verbreitete Ablehnungshaltung gegenüber der Polizei zum Ausdruck bringe. Auch wenn die Äußerung "All Cops Are Bastards" als verstörend oder verletzend aufgefasst werden könnte, seien vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit gerade auch solche Äußerungen umfasst, die verletzen, schockieren oder beunruhigen. Wie der Verfassungsgerichtshof in VfSlg 10.700/1985 ausgesprochen habe, müsse eine demokratische Gesellschaft auch derbe und obszöne Ausdrücke hinnehmen, ohne dass die öffentliche Ordnung oder die Moral dadurch Schaden erleide.
Dem Eingriff in Art10 EMRK fehle der legitime Zweck, weil die Kritik des Beschwerdeführers an der staatlichen Ordnungsmacht eine gewaltfreie weltanschauliche Auseinandersetzung sei. Sie sei keine mutwillige Verunglimpfung einzelner Beamter, weshalb der Eingriff in das Grundrecht in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig sei. Ähnlich wie bei einer Demonstration, bei der Transparente hochgehalten werden, sei die Kritik des Beschwerdeführers durch das Schwingen der Fahne für ein breites Publikum, nämlich sowohl für Besucher des Fußballspieles als auch für andere Menschen im Stadion ersichtlich gewesen. Zudem müssten sich Polizeibeamte in ihrer Tätigkeit als öffentlich Bedienstete mehr Kritik gefallen lassen als Privatpersonen. Auch habe sich der Beschwerdeführer als Angehöriger der Ultras-Bewegung so geäußert, wie es für die "Ultras" und während eines Fußballspieles üblich sei, nämlich mittels einer Fahne mit einem die Polizei kritisierenden Aufdruck.
Bei der Beurteilung der Notwendigkeit des Eingriffes in die Meinungsäußerungsfreiheit sei stets auch der Rahmen, in dem eine Äußerung getätigt werde, zu berücksichtigen. Es sei daher im Sinne des Erkenntnisses VfSlg 10.700/1985 stets auf die Art des Publikums abzustellen, vor dem die Äußerung getätigt worden sei. Bei Fußballspielen müsse das Publikum jedenfalls damit rechnen, dass Fahnen mit kritischen, gar anstößigen oder derben Äußerungen geschwenkt werden würden. Dies gelte umso mehr für jenen Block im Stadion, in dem sich die Fans des jeweiligen Klubs sammeln würden. Da das Verwaltungsgericht Wien §1 Abs1 Z1 WLSG einen verfassungswidrigen, die Schranken des Art10 EMRK missachtenden Inhalt unterstellt habe, habe es das Gesetz denkunmöglich angewendet und den Beschwerdeführer im Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt.
4. Das Verwaltungsgericht Wien hat die Verwaltungs- und Gerichtsakten vorgelegt, eine Gegenschrift hat es nicht erstattet.
II. Rechtslage
§1 Abs1 des Wiener Landes-Sicherheitsgesetzes – WLSG lautet auszugsweise wie folgt:
"Anstandsverletzung und Lärmerregung
§1. (1) Wer
1. den öffentlichen Anstand verletzt […]
[…] begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu 700 Euro, im Falle der Uneinbringlichkeit mit einer Ersatzfreiheitsstrafe bis zu einer Woche zu bestrafen."
III. Erwägungen
Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.
1. Der Beschwerdeführer macht in erster Linie geltend, dass ihn die Bestrafung wegen Verletzung des öffentlichen Anstandes nach §1 Abs1 Z1 WLSG wegen Schwenkens einer Fahne mit dem Aufdruck ACAB während eines Fußballspieles im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletze.
2. Nach Art10 Abs1 EMRK hat jedermann Anspruch auf freie Meinungsäußerung. Vom Schutzumfang dieser Bestimmung, die das Recht der Freiheit der Meinung und der Freiheit zum Empfang und zur Mitteilung von Nachrichten und Ideen ohne Eingriffe öffentlicher Behörden einschließt, werden sowohl reine Meinungskundgaben als auch Tatsachenäußerungen sowie Werbemaßnahmen erfasst. Auch die Mitteilung von Tatsachen unterfällt daher dem Schutzbereich des Art10 EMRK (vgl VfSlg 19.091/2010 mwN). Die "Mitteilung von Nachrichten oder Ideen" im Sinne des Art10 Abs1 EMRK kann dabei nicht nur sprachlich (auch durch Plakate – VfSlg 18.652/2008 – oder Aufdrucke – VfSlg 19.159/2010), sondern auch durch andere Formen der Kommunikation wie beispielsweise Symbole (vgl etwa EGMR 8.7.2008, Fall Vajnai, Appl 33.629/06; 3.11.2011, Fall Fratanoló, Appl 29.459/10, sowie bereits VfSlg 1207/1929; vgl auch VfSlg 19.662/2012), künstlerische Ausdrucksformen (VfSlg 18.893/2009) oder sonstige Verhaltensweisen erfolgen, wenn und insoweit diesen gegenüber Dritten ein kommunikativer Gehalt zukommt (vgl VfSlg 19.662/2012; zu Akten nonverbaler Kommunikation vgl weiters EGMR 23.9.1998, Fall Steel, Appl 24.838/94, Z92). Dass derartige Mitteilungen als belästigend, ja unter Umständen auch als störend oder schockierend empfunden werden, ändert ebenso wenig etwas am grundsätzlichen Schutz derartiger kommunikativer Verhaltensweisen durch Art10 EMRK (EGMR 7.12.1976, Fall Handyside, Appl 5493/72, Z43 ff.; 24.5.1988, Fall Müller, Appl 10.737/84, Z27 ff.; VfSlg 10.700/1985) wie der Umstand, dass diese primär aus finanziellen Antrieben gesetzt werden (EGMR 24.2.1994, Fall Casado Coca, Appl 15.450/89, Z35).
Der Beschwerdeführer äußert durch das Schwenken einer Fahne, genauer eines mehrere Quadratmeter großen Transparentes, mit der Aufschrift ACAB während eines Fußballspieles in einem Stadion seine kritische Haltung gegenüber der Polizei und gibt in dieser Weise sein Bedürfnis nach Abgrenzung von der staatlichen Ordnungsmacht kund. Dass die Buchstabenfolge ACAB für den englischen Ausspruch "All Cops are Bastards" steht und ihre Verwendung in einem bestimmten Milieu eine die Polizei ablehnende Haltung zum Ausdruck bringen und die Distanz zur Polizei aufzeigen soll, war auch der Polizei und (zumindest der Mehrheit) der im Stadion anwesenden Öffentlichkeit bekannt, wovon auch das Verwaltungsgericht Wien ausgegangen ist. Die Bestrafung des Beschwerdeführers greift somit zweifellos in das Grundrecht auf Freiheit der Meinungsäußerung ein.
3. Eingriffe in die Meinungsäußerungsfreiheit sind nach Art10 Abs2 EMRK zulässig, sie müssen jedoch im Hinblick darauf, dass die Ausübung dieser Freiheit Pflichten und Verantwortung mit sich bringt, gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Unversehrtheit oder der öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, des Schutzes der Gesundheit und der Moral, des Schutzes des guten Rufes und der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung von vertraulichen Nachrichten oder zur Gewährleistung des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung notwendig sein (vgl nur EGMR 26.4.1979, Fall Sunday Times, Appl 6538/74, EuGRZ 1979, 386 [390]; 24.2.1994, Fall Casado Coca, Appl 15.450/89, sowie VfSlg 12.886/1991, 14.218/1995, 14.899/1997, 16.555/2002).
Nach §1 Abs1 Z1 WLSG darf gegen Personen eine Geldstrafe verhängt werden, die den öffentlichen Anstand verletzen. Der Verfassungsgerichtshof geht weiterhin davon aus, dass diese Bestimmung als eine Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit gelten kann, die in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zum Schutz der Moral und der Rechte anderer notwendig im Sinne des Art10 Abs2 EMRK sein kann (VfSlg 10.700/1985). Der verhältnismäßig vage Begriff des öffentlichen Anstandes erlaubt es auch, eine Gesetzesverletzung nur dann anzunehmen, wenn die Notwendigkeit der damit verbundenen Einschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung unter Bedachtnahme auf das in Rede stehende Grundrecht im Einzelfall außer Zweifel steht (VfSlg 10.700/1985, zur "Beleidigung" einer Abgabenbehörde nach §112 Abs3 BAO siehe VfSlg 13.035/1992). Eine Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes kann daher im gegebenen Zusammenhang nur dann – aber auch immer dann – verfassungswidrig sein, wenn das Verwaltungsgericht dem Gesetz einen die besonderen Schranken des Art10 EMRK missachtenden Inhalt unterstellt (VfSlg 13.035/1992, 13.612/1993, 19.742/2013).
4. Eben dies wirft die Beschwerde dem Verwaltungsgericht Wien zu Recht vor:
Der Verfassungsgerichtshof bleibt vorerst bei seiner in VfSlg 10.700/1985 näher begründeten Auffassung, dass die Äußerung einer Meinung als solche, sofern sie nicht aus anderen – zulässigen – Gründen verpönt ist, grundsätzlich keine Anstandsverletzung sein kann. Wird hingegen die Meinung in einer Art und Weise in der Öffentlichkeit geäußert, die die Grenzen des Anstandes in einer Weise überschreitet, die einen Eingriff im Interesse der Aufrechterhaltung der Ordnung zwingend erscheinen lässt, kann eine Bestrafung wegen Anstandsverletzung zulässig sein.
Das Verwaltungsgericht Wien bezieht sich in seiner Entscheidung in erster Linie auf Entscheidungen des Verwaltungsgerichtshofes, der den Tatbestand der Verletzung des öffentlichen Anstandes durch ein Verhalten erfüllt erachtet, das mit den allgemeinen Grundsätzen der Schicklichkeit nicht in Einklang steht und das einen groben Verstoß gegen diejenigen Pflichten darstellt, die jedermann in der Öffentlichkeit zu beachten hat (siehe etwa VwGH 19.10.2005, 2003/09/0074, und 15.10.2009, 2008/09/0272). Der Verfassungsgerichtshof hat jedoch stets – in Ergänzung – darauf hingewiesen, dass es bei der Beurteilung des tatbestandsmäßigen Verhaltens nicht bloß auf den Wortlaut einer Äußerung allein ankommt, sondern auch auf Art und Umstand der Äußerung, also wie und wo welche Öffentlichkeit und von wem diese Öffentlichkeit mit dieser Meinung konfrontiert wird (vgl VfSlg 10.700/1985).
Der hier bekämpften Entscheidung liegt eine Bestrafung wegen Schwenkens einer Fahne, nämlich eines mehrere Quadratmeter großen Transparentes, mit dem Aufdruck ACAB während eines Fußballspieles in einem Stadion zugrunde. Das Schwenken des Transparentes sollte primär auf das angespannte Verhältnis zwischen manchen Fußballfans und der Polizei hinweisen und die ablehnende Haltung gegenüber dem Stand der Polizei als Teil der staatlichen Ordnungsmacht zum Ausdruck bringen.
Das Schwenken dieses Transparentes stellt keine konkrete "Beschimpfung" bestimmter anderer Personen, hier Polizeibeamter, dar (zum Gebrauch unflätiger Worte im öffentlichen Raum vgl etwa VwSlg 11.886 A/1985; VwGH 29.6.1987, 85/10/0084 [Rechtssatz]).
Bedenkt man hier die in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien, übersieht das Verwaltungsgericht Wien, dass das Hochhalten von derartigen Transparenten bei einem Fußballspiel durch Fans – sofern nicht anderes Verhalten ohnehin durch andere Normen (vgl insb. §39 Abs2 iVm §40 PyroTG 2010, §82 SPG, ArtIII Z3 und 4 EGVG sowie das VerbotsG) strafbewehrt ist – jedenfalls in einer Gesamtsicht nicht geeignet ist, den Tatbestand der Anstandsverletzung zu erfüllen. Diese im Fußballstadion so geäußerte Kritik ist mit Blick auf die in einer demokratischen Gesellschaft besondere Bedeutung und Funktion der Meinungsäußerungsfreiheit (vgl dazu EGMR 7.12.1976, Fall Handyside, Appl 5493/72, Z49; 24.5.1988, Fall Müller, Appl 10.737/84, Z33) bei Beachtung aller Umstände des Falles hinzunehmen.
Die Bestrafung des Beschwerdeführers wegen Verletzung des öffentlichen Anstandes erweist sich daher im Hinblick auf sein Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit als unverhältnismäßig.
IV. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.
Schlagworte
Meinungsäußerungsfreiheit, Anstandsverletzung, Sicherheitspolizei, Strafe (Verwaltungsstrafrecht)European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:2019:E5004.2018Zuletzt aktualisiert am
06.08.2020