TE Vwgh Erkenntnis 2019/7/12 Ra 2018/14/0240

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Veröffentlicht am 12.07.2019
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB)
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

ABGB §1332
AVG §71
AVG §71 Abs1 Z1
AVG §72
VwGG §46
VwGVG 2014 §33
ZustG §17

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schweinzer, über die Revision der X Y, vertreten durch Mag. Michaela Jurkowitsch, Rechtsanwältin in 1130 Wien, Einsiedeleigasse 15, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 2018, I412 2204811-1/6E, I412 2204811-2/3E, betreffend Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist in Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG und Zurückweisung einer Beschwerde in diesen Angelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. zu Recht erkannt:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinem Spruchpunkt A) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 Euro binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

II. den Beschluss gefasst:

Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.

Begründung

1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige Marokkos, stellte am 11. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheid vom 9. August 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag der Revisionswerberin zur Gänze ab, erteilte ihr keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Marokko zulässig sei, sprach aus, dass keine Frist für ihre freiwillige Ausreise bestehe und erkannte einer Beschwerde gegen die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung ab.

3 Nach dem im Verwaltungsakt erliegenden Rückschein erfolgte am 14. August 2017 ein Zustellversuch betreffend diesen Bescheid und wurde eine Verständigung über die Hinterlegung in der Abgabeeinrichtung eingelegt. Als Beginn der Abholfrist wurde am Rückschein der 16. August 2017 eingetragen.

4 Mit Schriftsatz vom 1. August 2018 stellte die Revisionswerberin einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist und brachte unter einem eine Beschwerde gegen den Bescheid des BFA vom 9. August 2017 ein. Begründend brachte die Revisionswerberin vor, sie habe in einer Wohngemeinschaft gelebt. Unter den Mitbewohnern sei vereinbart gewesen, dass jene Person, die im Besitz des Postschlüssels sei, nach Entleeren des Briefkastens der anderen Person die an sie adressierte Post überreiche. Im Zeitpunkt der versuchten Zustellung habe sich der Postschlüssel im Besitz des Mitbewohners der Revisionswerberin befunden. Die Revisionswerberin habe darauf vertraut, dass dieser sie über Zustellungen in Kenntnis setzen werde, wie er es auch in der Vergangenheit getan habe. Der Mitbewohner habe sie jedoch nicht über eine allfällige im Postkasten hinterlegte Verständigung über die Hinterlegung des Bescheides des BFA informiert. Die Revisionswerberin habe daher ohne ihr Verschulden keine Kenntnis von der Hinterlegungsanzeige und damit von der Zustellung dieses Bescheides erlangt. 5 Dem Wiedereinsetzungsantrag beigelegt war eine eidesstattliche Erklärung des Wohnprojektbetreuers vom 1. August 2018, wonach die Revisionswerberin im August 2017 mit einer weiteren Person in der Wohngemeinschaft gelebt habe. Grundsätzlich werde jeweils ein Postschlüssel für die gesamte Wohneinheit zur Verfügung gestellt. Dieser sei von den Bewohnern für alle in der Wohneinheit gemeldeten Personen zugänglich zu machen. Es würden jedoch regelmäßig abweichende Regelungen unter den Mitbewohnern getroffen und könnte deshalb nicht ausgeschlossen werden, dass Einzelpersonen über einen längeren Zeitraum im Besitz des Postschlüssels seien. Er betreue derzeit den damaligen Mitbewohner der Revisionswerberin. In bisherigen Wohngesprächen sei aufgefallen, dass dieser sehr großen Wert auf laufenden Zugang zum Postschlüssel lege und erst nach mehrmaligem Hinweis auf die bestehende Regelung zur Einsicht gekommen sei, den Schlüssel nach Benützen wieder an den für alle Bewohner zugänglichen Verwahrort zu retournieren. Dass ein derartiges Verhalten auch schon im Sommer 2017 aufgetreten sei, sei wahrscheinlich.

6 Mit Bescheid vom 22. August 2018 wies das BFA den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab. Gegen diesen Bescheid erhob die Revisionswerberin Beschwerde und beantragte die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und ihre Einvernahme, wobei sie als Beweisthema ihre Sorgfalt in Bezug auf das Erlangen der an sie adressierten Post angab.

7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die gegen den Bescheid vom 22. August 2018 (betreffend den Wiedereinsetzungsantrag) gerichtete Beschwerde als unbegründet ab (Spruchpunkt A) und die gegen den Bescheid vom 9. August 2017 (betreffend den Antrag auf internationalen Schutz) gerichtete Beschwerde als verspätet zurück (Spruchpunkt B) und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

8 Begründend führte das BVwG aus, die bloße Behauptung, es habe keine Verständigung über die Hinterlegung gegeben, stelle noch keinen Wiedereinsetzungsgrund dar, sondern allenfalls einen Zustellmangel, der nach den Feststellungen jedoch nicht vorliege. Die Revisionswerberin habe die ordnungsgemäße Zustellung auch nicht bestritten. Ihr Vorbringen ziele vielmehr darauf ab, dass ihr Mitbewohner, der im Besitz des Postschlüssels gewesen sei, die Hinterlegungsanzeige nicht an sie weitergeleitet habe oder diese verloren gegangen sei. Der Verfassungsgerichtshof habe ausgesprochen, dass kein unvorhersehbares und unabwendbares Ereignis vorliege, wenn die Möglichkeit bestehe, dass die Benachrichtigung von der Hinterlegung vom anderen Mitbewohner aus dem Briefkasten entnommen und nicht an den Antragsteller weitergeleitet oder versehentlich vernichtet worden sei (Hinweis auf VfGH 11.10.2017, E 2959/2017).

In der von der Revisionswerberin vorgelegten eidesstaatlichen Erklärung des Betreuers des Mitbewohners werde festgehalten, dass der Mitbewohner erst nach mehrmaligem Hinweis auf die bestehenden Regelungen zur Einsicht gekommen sei, den Schlüssel nach Benützung wieder zurückzugeben. Der Revisionswerberin sei somit der sorglose Umgang mit dem Postschlüssel bewusst gewesen. Sie hätte gerade deshalb erhöhtes Augenmerk auf Postzustellungen, zumindest in diesem Zeitraum, legen müssen. Sie habe dazu weder im Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand noch in der Beschwerde vorgebracht, den Mitbewohner jemals konkret nach an sie adressierte Poststücke gefragt zu haben.

Eine mündliche Verhandlung habe unterbleiben können, da der Sachverhalt unbestritten geblieben und die Beurteilung einer Rechtsfrage offen gewesen sei, die nicht durch Befragung der Revisionswerberin gelöst werden habe können.

9 In der gegen dieses Erkenntnis erhobenen Revision wird zur Zulässigkeit vorgebracht, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, wonach die Unkenntnis von der ordnungsgemäßen Hinterlegung eines Schriftstückes geeignet sein könne, einen Wiedereinsetzungsgrund zu begründen. Das BVwG hätte die Revisionswerberin wie beantragt einvernehmen müssen, um beurteilen zu können, ob ein Verschulden vorliege.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Zu Spruchpunkt A) des angefochtenen Erkenntnisses 11 Zulässig und auch begründet ist die Revision, insoweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde in Bezug auf den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Beschwerdefrist richtet.

12 Zustellungsmängel bilden zwar grundsätzlich keinen Wiedereinsetzungsgrund, weil bei mangelhafter Zustellung die (versäumte) Frist nicht zu laufen beginnt. Soweit aber der Zustellvorgang rechtmäßig erfolgt ist, eine Hinterlegung der Postsendung gemäß § 17 ZustG stattgefunden und der Empfänger dennoch keine Kenntnis vom Zustellvorgang erlangt hat, kann diese Unkenntnis von der ordnungsgemäßen Hinterlegung eines Schriftstückes - sofern sie nicht auf einem Verschulden beruht, welches den minderen Grad des Versehens übersteigt - nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes geeignet sein, einen Wiedereinsetzungsgrund zu begründen (vgl. VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0302, mwN).

13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist das Verschulden des Vertreters einer Partei an der Fristversäumung dem Verschulden der Partei selbst gleichzuhalten, nicht jedoch ein Verschulden anderer Personen. Führt das Fehlverhalten anderer Personen zu einer Fristversäumung, so ist zu prüfen, ob die Partei selbst dadurch ein schuldhaftes Verhalten gesetzt hat, dass sie eine ihr auferlegte Sorgfaltspflicht außer Acht gelassen hat (zB Auswahlverschulden, vgl. etwa VwGH 26.9.2018, Ra 2018/14/0003, mwN).

14 Das BVwG schließt aus der vorgelegten eidesstattlichen Erklärung, der Revisionswerberin sei der sorglose Umgang ihres Mitbewohners mit dem Postschlüssel bewusst gewesen, sodass sie eine erhöhte Sorgfaltspflicht in Bezug auf Postzustellungen getroffen hätte. Diese Ausführungen sind nicht nachvollziehbar. Der eidesstattlichen Erklärung ist lediglich zu entnehmen, dass der Mitbewohner den Postschlüssel im fraglichen Zeitraum womöglich nicht für die Revisionswerberin zugänglich gemacht hat, und dass eine abweichende Vereinbarung hinsichtlich des Postschlüssels, wie sie von der Revisionswerberin behauptet wurde, zulässig und üblich war. Aus der eidesstattlichen Erklärung ist jedoch nichts für die hier maßgebliche Frage zu gewinnen, ob die Revisionswerberin bei der von ihr mit ihrem Mitbewohner getroffenen Vereinbarung hinsichtlich des Postschlüssels und der Weitergabe der an den jeweils anderen adressierten Post die ihr zumutbare Sorgfalt außer Acht gelassen hat.

15 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen (vgl. VwGH 21.5.2019, Ra 2018/19/0141, mwN). Vor diesem Hintergrund erweist sich die Auffassung des BVwG, die in der Beschwerde beantragte Einvernahme der Revisionswerberin in einer mündlichen Verhandlung hätte zur Lösung der hier maßgeblichen Frage nichts beitragen können, als unzutreffend. Dadurch hat das BVwG sein Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit belastet.

16 Das angefochtene Erkenntnis war daher in seinem Spruchpunkt A) (Abweisung der Beschwerde in Bezug auf den Wiedereinsetzungsantrag) gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Zu Spruchpunkt B) des angefochtenen Erkenntnisses 17 Nach der Aktenlage und den unbestrittenen Feststellungen des BVwG wurde der Revisionswerberin der Bescheid des BFA vom 9. August 2017 am 16. August 2017 durch Hinterlegung zugestellt. Die mit Schriftsatz vom 1. August 2018 erhobene Beschwerde war daher jedenfalls verspätet, sodass die mit Spruchpunkt B) des angefochtenen Erkenntnisses erfolgte Zurückweisung der Beschwerde mit dem Gesetz in Einklang steht, was von der Revision auch gar nicht in Zweifel gezogen wird.

18 Der Vollständigkeit halber wird angemerkt, dass die Vorgangsweise des BVwG, welches über die Zurückweisung des der Aktenlage nach verspäteten Rechtsmittels unabhängig vom bloß anhängigen, aber noch nicht bewilligten Wiedereinsetzungsantrag entschieden hat, zulässig war. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Frage der Verspätung eines Rechtsmittels unabhängig von einem bloß anhängigen, aber noch nicht entschiedenen Wiedereinsetzungsantrag sogleich auf Grund der Aktenlage zu entscheiden (vgl. VwGH 25.2.2019, Ra 2019/19/0005, mwN). Wird die Wiedereinsetzung später bewilligt, tritt die Zurückweisungsentscheidung von Gesetzes wegen außer Kraft (vgl. näher VwGH 9.9.2015, Ra 2015/03/0032, mwN). 19 Die Revision war daher, soweit sie sich gegen Spruchpunkt B) des angefochtenen Erkenntnisses richtet, schon mangels Darlegung einer Rechtsfrage, der im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme, gemäß § 34 Abs. 1 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.

20 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das auf Ersatz der Umsatzsteuer gerichtete Mehrbegehren war abzuweisen, weil in dem in der Verordnung vorgesehenen Pauschalbetrag die Umsatzsteuer bereits mitenthalten ist (vgl. VwGH 20.2.2018, Ra 2017/20/0303, mwN).

Wien, am 12. Juli 2019

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018140240.L00

Im RIS seit

06.09.2019

Zuletzt aktualisiert am

06.09.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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