TE Bvwg Erkenntnis 2019/2/1 L521 2123146-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 01.02.2019
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Entscheidungsdatum

01.02.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs3
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
EMRK Art.8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52 Abs3
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L521 2123146-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde des XXXX, Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, 1090 Wien, Alser Straße 20, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.02.2016, Zl. 536432505-14056965, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 03.01.2019 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Türkei, erlangte am 04.10.2013 erlangte beim spanischen Konsulat in Istanbul ein vom 07.10.2013 bis zum 07.01.2014 gültiges Visum C für den Schengenraum. Unter Verwendung dieses Visums reiste er am 09.10.2013 in Barcelona rechtmäßig in den Schengenraum ein ein und gelangte in weiterer Folge nach Österreich, wo er am 12.11.2013 einen Wohnsitz in 1200 Wien, XXXX begründete.

2. Am 15.11.2018 brachte der Beschwerdeführer beim Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 35, unter Verwendung des dafür vorgesehen Formulars einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels Rot-Weiß-Rot-Karte plus zur Aufrechterhaltung des Familienlebens gemäß § 41a Abs. 9 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) in der damals geltenden Fassung BGBl. I Nr. 144/2013 ein. Unter der Rubrik Begründung ist die Wortfolge "nachträglich schriftlich" angeführt.

Der Magistrat der Stadt Wien forderte den Beschwerdeführer noch am Tag der Antragstellung schriftlich zur Vervollständigung seines Antrages auf.

3. Am 19.11.2013 langte die Vollmachtsbekanntgabe des Dr. Rudolf Mayer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, beim Magistrat der Stadt Wien ein.

4. Mit Schriftsatz vom 17.12.2013 führte der Beschwerdeführer im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung zur Begründung seines Antrages vom 15.11.2013 aus, er sei in das Bundesgebiet eingereist, um seinen in Wien lebenden Vater XXXX zu unterstützen. Sein Vater sei schwer erkrankt und deshalb betreuungsbedürftig. In der Türkei habe er bislang mit seiner Mutter und zwei seiner drei Schwestern zusammengelebt. Eine weitere Schwester sei in der Türkei verheiratet und lebe mit ihrem Ehemann zusammen. Der Grund der Einreise in das Bundesgebiet sei alleine die gesundheitliche Situation des Vaters gewesen. Dessen Rückkehr in die Türkei komme nicht in Betracht, da er den Ärzten in Österreich vertrauen würde und seit jeher im Bundesgebiet behandelt wurde.

5. Am 01.01.2014 wurde die Verfahrensführung gemäß § 81 Abs. 24 NAG vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl übernommen, da der das Verfahren einleitende Antrag nach 01.10.2013 gestellt wurde.

4. Mit Note des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.03.2015 wurde der Beschwerdeführer zur Beantwortung von Fragen zu seiner persönlichen Situation sowie zur Vorlage von Beweismitteln angehalten. Der Beschwerdeführer nahm zur Aufforderung fristgerecht mit Eingabe vom 10.04.2015 Stellung und brachte ein Konvolut an Urkunden in Vorlage.

5. Nach Urgenz einer Entscheidung am 15.102.2015 brachte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Beschwerdeführer mit Note vom 22.12.2015 die beabsichtigte Abweisung seines Antrages zur Kenntnis, übermittelte dem Beschwerdeführer außerdem aktuelle Informationen zur Lag ein der Türkei und gewährte ihm hiezu eine Frist zu Äußerung.

Der Beschwerdeführer ließ die Frist zur Äußerung (nach Gewährung einer Fristerstreckung bis zum 02.02.2016) ungenutzt verstreichen.

6. Mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 03.02.2016, Zl. 536432505-14056965, wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 15.11.2013 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 abgewiesen. Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG 2005 erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig ist. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 wurde ferner ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Rückkehr zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

7. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 03.02.2016 bzw. vom 15.02.2016 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

8. Gegen den dem rechtsfreundlichen Vertreter des Beschwerdeführers am 19.02.2016 zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege seiner damaligen rechtsfreundlichen Vertretung fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid abzuändern und die Erlassung einer Rückkehrentscheidung wider den Beschwerdeführer auf Dauer für unzulässig zu erklären und dem Beschwedeführer den angestrebten Aufenthaltstitel zu erteilen. Eventualiter wird ein Aufhebungsantrag gestellt und jedenfalls die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht begehrt.

In der Sache bringt der Beschwerdeführer nach Wiederholung der bereits im Verfahren erster Instanz dargelegten Antragsbegründung im Wesentlichen vor, aus dem vorgelegten Schreiben des Wiener Krankenanstaltenverbundes vom 05.01.2015 gehe hervor, dass der Vater des Beschwerdeführers nach einem erlittenen Schlaganfall besonders pflegebedürftig sei. Es werde beantragt, dieses Schreiben entsprechend zu würdigen und den Vater des Beschwerdeführers zum Beweis einer bestehenden Nahebeziehung und den aufgrund seiner gesundheitlichen Situation bestehenden Abhängigkeit von der Anwesenheit des Beschwerdeführers als Zeugen einzuvernehmen.

9. Die Beschwerdevorlage langte am 16.03.2016 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Die Rechtssache wurde in weiterer Folge der Gerichtsabteilung L502 des Bundesverwaltungsgerichts zur Erledigung zugewiesen. Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses wurde das Beschwerdeverfahren mit 01.04.2016 zunächst der Gerichtsabteilung L520 des Bundesverwaltungsgerichts und infolge einer weiteren Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses mit 02.11.2017 der Gerichtsabteilung L513 des Bundesverwaltungsgerichts zur Erledigung zugewiesen. Mit neuerlicher Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses wurde das Beschwerdeverfahren mit 13.08.2018 der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

10. Nach Anberaumung einer mündlichen Verhandlung für den 03.01.2019 gab zunächst am 12.11.2018 die rechtsfreundliche Vertretung des Beschwerdeführers die Auflösung des Vollmachtsverhältnisses bekannt.

Zur Vorbereitung der für den 03.01.2019 anberaumten mündlichen Verhandlung wurden dem Beschwerdeführer mit Note vom 15.11.2018 länderkundliche Informationen zur Lage im Herkunftsstaat zur Abgabe einer Stellungnahme übermittelt. Die Postsendung wurde dem Bundesverwaltungsgericht mit dem Vermerk "nicht behoben" zurückgestellt.

Am 28.12.2018 langte schließlich die Vollmachtsbekanntgabe der nunmehrigen rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein.

11. Am 03.01.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seiner nunmehrigen rechtsfreundlichen Vertretung und eines gerichtlich beeideten Dolmetschers für die türkische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich die Gründe seiner Antragstellung sowie seine persönliche Situation in Österreich umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung in der Türkei anhand der bereits vor der Verhandlung übermittelten aktueller Länderdokumentationsunterlagen erörtert, die der rechtsfreundlichen Vertretung des Beschwerdeführers zur Abgaben einer Stellungnahme ausgefolgt wurden. Ferner wurden einerseits der Vater des Beschwerdeführers sowie andererseits die zur Verhandlung stellig gemachte nunmehrige Lebensgefährtin des Beschwerdeführers als Zeugen einvernommen.

Innerhalb der eingeräumten Frist langte keine Stellungnahme zu den dem Beschwerdeführer ausgefolgten Länderdokumentationsunterlagen ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX, ist Staatsangehöriger der Türkei, Angehöriger der türkischen Volksgruppe und bekennt sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung. Der Beschwerdeführer wurde am XXXX in Istanbul geboren und lebte dort bis zur Ausreise gemeinsam mit seiner Mutter und zwei Schwestern.

In Istanbul besuchte der Beschwerdeführer die Grundschule und anschließend die Hauptschule, die er ohne Abschluss verließ. Der Beschwerdeführer erlernte im Anschluss den Beruf des Schneiders und arbeitete als solcher bis zur Ausreise. Nähere Feststellungen zum beruflichen Werdegang des Beschwerdeführers können nicht getroffen werden.

Der Beschwerdeführer ist gesund und steht nicht in medizinischer Behandlung.

In der Türkei leben die Mutter des Beschwerdeführers und seine drei Schwestern. Die Mutter des Beschwerdeführers bezieht in der Türkei eine Eigenpension und bewohnt gemeinsam mit zwei Schwestern eine Mietwohnung in Istanbul. Die dritte Schwester des Beschwerdeführers leb ebenfalls in Istanbul, ist verheiratet und lebt bei ihrem Ehemann. Die Schwestern des Beschwerdeführers sind als Modedesignerin, als Angestellte in einer Apotheke und als Buchhalterin erwerbstätig.

Der Beschwerdeführer beherrscht die türkische Sprache. Er verfügt über ein gültiges türkisches Reisedokument, ausgestellt in Izmir am 27.08.2013 (mit Gültigkeit bis 28.08.2023).

1.2. Am 04.10.2013 erlangte der Beschwerdeführer beim spanischen Konsulat in Istanbul ein vom 07.10.2013 bis zum 07.01.2014 gültiges Visum C für den Schengenraum. In der Folge reiste er am 09.10.2013 in Barcelona legal in den Schengenraum ein und gelangte in weiterer Folge nach Österreich, wo er an einem nicht feststellbaren Tag eintraf.

Vor der Einreise wurde seitens der österreichischen Vertretungsbehörden in der Türkei Visumanträge des Beschwerdeführers in den Jahren 2010 und 2013 wegen mangelnder Unterhaltsmittel und mangelnder glaubhafter Wiederausreiseabsicht negativ beschieden.

Das Motiv der Ausreise aus dem Herkunftsstaat am 09.10.2013 kann nicht festgestellt werden.

1.3. Der Beschwerdeführer begründete am 12.11.2013 einen Wohnsitz in 1200 Wien, XXXX, begründete. Der Beschwerdeführer unterhält auch derzeit dort noch seinen Hauptwohnsitz, obwohl er die Wohnung bereit an einem nicht feststellbaren Tag im Januar 2018 infolge gerichtliche Räumung verlassen musste. Nach der Räumung lebte er zunächst gemeinsam mit seinem Vater bei einem Freund seines Vaters, anschließend einen weiteren Monat bei einem seiner Freunde, ehe er in die Wohnung seiner Lebensgefährtin XXXX in 1210 Wien, XXXX, und begründete dort am 27.12.2018 einen Nebenwohnsitz, der am 11.01.2019 aus nicht feststellbaren Gründen wieder abgemeldet wurde.

1.4. Der Vater des Beschwerdeführers, XXXX, hält sich aufgrund eines Aufenthaltstitels Niederlassungsbewilligung rechtmäßig im Bundesgebiet auf und begründete erstmals am 11.11.1998 einen Wohnsitz in 1200 Wien. Er war zuletzt Hauptmieter einer Wohnung in 1200 Wien, XXXX, bestehend aus einem Zimmer und einem Kabinett, Küche, Baderaum/WC und Vorraum mit 41 m² Nutzfläche. Diese Wohnung bewohnten der Beschwerdeführer und sein Vater gemeinsam, ehe sie an einem nicht feststellbaren Tag im Januar 2018 aus nicht näher feststellbaren Umständen gerichtlich geräumt wurde. Nach der Räumung lebte XXXX gemeinsam mit dem Beschwerdeführer bei einem Freund, anschließend wurde er vom Beschwerdeführer "einen Monat in die Türkei geschickt".

Am 06.03.2018 verlegte der Vater des Beschwerdeführers seinen Wohnsitz nach 1040 Wien, Wiedner Gürtel 10, er war dort bis zum 27.12.2018 obdachlos gemeldet. Seither verfügt XXXX über keinen Wohnsitz im Bundesgebiet mehr. Er begründete am 27.12.2018 in der Wohnung der Lebensgefährtin des Beschwerdeführers in 1210 Wien, XXXX, einen Nebenwohnsitz und lebt dort im Wohnzimmer. Am 11.01.2019 wurde der Nebenwohnsitz von XXXX abgemeldet, er verfügt seither über keinen Wohnsitz im Bundesgebiet.

XXXX bezieht Invaliditätspension im Betrag von EUR 266,82 (per 01.03.2015), die im Wege der Ausgleichszulage auf den jeweils geltenden Ausgleichszulagenrichtsatz für alleinstehende Pensionisten aufgestockt wird. Er ist der türkischen Sprache mächtig und arbeitete in der Türkei bis zur Einreise in das Bundesgebiet als Schneider.

1.5. Der XXXX erlitt am 25.07.2011 eine transitorische ischämische Attacke (kurzzeitige Durchblutungsstörung des Gehirns) und wurde deshalb medizinisch im Allgemeinen Krankenhaus der Stadt Wien behandelt. Am 10.08.2011 wurde der Vater des Beschwerdeführers entlassen und eine medikamentöse Therapie verordne.

Am 24.09.2014 bemerkte der Vater des Beschwerdeführers neuerlich Sensibilitätsstörungen, erschien jedoch erst am 25.09.2014 bei seinem Hausarzt, der ihn in der Folge in das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien überwies. Dort wurde ein Thalamusinfarkt linksseitig in Form einer punktförmigen Diffusionseinschränkung diagnostiziert, wobei lediglich Wandunregelmäßigkeiten ohne strömungsrelevante Stenosen oder Thromben festgestellt wurden. Der Vater des Beschwerdeführers wurde am 02.10.2014 in häusliche Pflege entlassen. Eine im Anschluss durchgeführte Rehabilitation führte zu einer Besserung der kognitiven Leistungen. Bei einer Einstufung des Vaters des Beschwerdeführers am 19.12.2014, erreichte XXXX an allen drei Beurteilungstagen von drei verschiedenen Personen bewertet die Höchstwertung und konnte demnach 500m unabhängig gehen, unabhängig Treppe steigen, er bewältige Transfers selbständig, war bei der Nahrungsaufnahme unabhängig, verrichtete die persönliche Pflege/Körperhygiene selbständig, kleidete sich selbständig an und benutzte die Toilette selbständig.

Am 02.01.2015 wurde XXXX von Rettung und Polizei in das Otto-Wagner-Spital eingeliefert, nachdem ein Nachbar die Rettung verständig hatte (der Beschwerdeführer kam erst später dazu). Bei XXXX wurde ein Bruch des Ellenschaftes diagnostiziert (er erhielt dagegen einen Oberarm-Spaltgips), ein Alkomattest ergab eine Intoxikation von 0,69 Promille Alkohol. In einem Befundbericht vom 05.01.2015 wird von der Notwendigkeit einer Bezugsperson und von Unterstützung in alltäglichen Angelegenheiten ausgegangen wird. Im Patientenbrief zur Entlassung wird von einer Alkoholisierung des Vaters des Beschwerdeführers und von Nikotinmissbrauch berichtet und eine Alkoholentzugstherapie und nervenärztliche Betreuung empfohlen.

Der Vater des Beschwerdeführers leidet derzeit an arterieller Hypertonie, Nikotinabusus, Hyperlipidämie (erhöhte Konzentration des Cholesterins), Depressionen sowie einer ACE-Hemmerunverträglichkeit und befindet sich in einem Status nach dem linksseitigen Thalamusinfarkt im Jahr 2014. Er nimmt gegen seine Leiden Medikamente ein (Pantoprazol, Clopidogrel, Amelior, Simvastatin, Mexalen und Ability). Nicht festgestellt werden kann, dass der Vater des Beschwerdeführers Unterstützung bei der Einnahme von Medikamenten benötigt. Dem Beschwerdeführer selbst ist die aktuelle Medikation seines Vaters nicht bekannt.

Es nicht festgestellt werden, dass der Vater des Beschwerdeführers pflege- bzw. betreuungsbedürftig ist. Er steht nicht in psychologischer oder psychiatrischer Behandlung. In Abwesenheit des Beschwerdeführers fühlt er sich einsam und hat Angstzustände. Der Beschwerdeführer unterstützt seinen Vater derzeit bei der Körperpflege. Die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers erledigt den Einkauf, kocht und reinigt die Wohnung.

Der Vater des Beschwerdeführers besuchte die Türkei in den Jahren 2015, 2017 und 2018 jeweils für mehrere Wochen, ohne vom Beschwerdeführer begleitet zu werden.

XXXX beantragte kein Pflegegeld. Einen Behindertenausweis beantragte er eigenen Angaben zufolge, jedoch wurde ihm ein solcher bis dato nicht ausgestellt. Die Beiziehung eines (mobilen) Hilfsdienstes lehnt er aus Scham ab.

1.6. Der Beschwerdeführer hält sich zumindest seit dem 12.11.2013 in Österreich auf. Er reiste rechtmäßig in Österreich ein, wobei sein Visum C am 07.01.2014 seine Gültigkeit verlor. Bereits am 15.11.2013 brachte er beim Magistrat der Stadt Wien, Magistratabteilung 35, einen Antrag auf Erteilung einer Rot-Weiß-Rot-Karte plus zur Aufrechterhaltung des Familienlebens gemäß § 41a Abs. 9 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG) in der damals geltenden Fassung BGBl. I Nr. 144/2013 ein. Am 01.01.2014 wurde die Verfahrensführung gemäß § 81 Abs. 24 NAG vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl übernommen, da der das Verfahren einleitende Antrag nach 01.10.2013 gestellt wurde.

1.7. Der Beschwerdeführer ist derzeit nicht erwerbstätig. Er war vom 20.01.2016 bis zum 22.02.2018 Geschäftsführer und Gesellschafter der XXXX, FN 83253 g des Handelsgerichtes Wien mit einer Stammeinlage von ATS 250.000,00 (50% des Stammkapitals). Eigenen Angaben zufolge war der Beschwerdeführer bei dieser Gesellschaft als Änderungsschneider tätig und brachte eigenen Angaben zufolge monatlich EUR 2.064,00 brutto ins Verdienen. Er musste er aus der Gesellschaft ausscheiden, da er nicht näher bezeichnete Verpflichtungen nicht mehr bedienen konnte.

Der Beschwerdeführer verfügt derzeit über keine Beschäftigung und hat auch keine unselbständige Beschäftigung am regulären Arbeitsmarkt in Aussicht. Der Beschwerdeführer bestreitet seinen Lebensunterhalt derzeit durch Zuwendungen seines Vaters und seiner Lebensgefährtin. Er entnimmt die seinem Vater ausbezahlte Pension und hat dermaßen in den letzten Monaten Ersparnisse im Betrag von EUR 5.000,00 aufgebaut. Mit dem Geld beabsichtigt er, in Wien eine Schneiderei zu eröffnen. Die Gründungskosten beziffert er mit EUR 15.000,00 - EUR 17.000,00, er erwartet sich zur Bestreitung der Gründungskosten auch finanzielle Unterstützung von Seiten seiner Lebensgefährtin.

Der Beschwerdeführer verfügt über keine aufrechte Krankenversicherung und hat bei der Wiener Gebietskrankenkasse Verbindlichkeiten in unbekannter Höhe, die er im Wege der Ratenzahlung begleicht. Der Beschwerdeführer ist für keine Person sorgepflichtig. Der Beschwerdeführer pflegt im Übrigen normale soziale Kontakte, überwiegend mit türkischen Staatsbürgern. Er hat keine gemeinnützige Arbeit verrichtet und ist weder in einem Verein, noch in einer sonstigen Organisation Mitglied.

Der Beschwerdeführer besuchte im Jahr 2015 sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache auf dem Niveau A2, legte jedoch keine Prüfungen ab. Er beherrscht die deutsche Sprache nur in geringfügigem Ausmaß.

Der Beschwerdeführer ging im Januar 2016 eine Beziehung mit der türkischen Staatsangehörigen XXXX, ein. Der Beschwerdeführer lebt derzeit mit seiner Lebensgefährtin in deren Mietwohnung in 1210 Wien, XXXX, im gemeinsamen Haushalt, wobei dieser an einem nicht feststellbaren Tag im Frühjahr 2018 begründet wurde. Der Beschwerdeführer beabsichtigt, mit XXXX die Ehe einzugehen. XXXX ist geschieden und lebt mit einer Tochter aus der früheren Ehe im gemeinsamen Haushalt. Sie ist als Kassiererin erwerbstätig.

1.8. Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG geduldet. Sein Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Er wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.9. Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt wäre.

Dem Beschwerdeführer droht im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.

Der Beschwerdeführer gehört der Gülen-Bewegung nicht an und war nicht in den versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verwickelt.

1.10. Der Beschwerdeführer ist ein junger, anpassungs- und arbeitsfähiger Mensch mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage. Er verfügt über grundlegende Schulbildung und im Herkunftsstaat erworbene Berufserfahrung. Dem Beschwerdeführer ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung seines Auskommens möglich und zumutbar. Der Beschwerdeführer verfügt für den Fall der Rückkehr über eine Wohnmöglichkeit bei Familienangehörigen.

1.11. Es liegen im gegenständlichen Fall keine Anhaltspunkte zum Bestehen eines aktuellen Familienlebens des Beschwerdeführers im Bundesgebiet vor, welches ihm die Stellung eines begünstigten Drittstaatsangehörigen im Sinne der Stillhalteklausel ermöglichen würde bzw. dass die Bestimmungen des FRG 1997 für begünstigte Drittstaatsangehörige bzw. des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19.09.1980 zur Anwendung gelangen würden.

1.12. Zur Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und gegenüber dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

1. Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems per 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder der Großen Türkischen Nationalversammlung, ein Einkammerparlament, werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

In der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben, wodurch die türkische Verwaltung zentralistisch aufgebaut ist. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter vor. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk direkt gewählt, doch ist die politische Autonomie auf der kommunalen Ebene stark eingeschränkt (bpb 11.8.2014).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Muharrem Ince, erhielt 30.6%. Der seit November 2016 inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, erhielt 8,4% und die Vorsitzende der neu gegründeten Iyi-Partei, Meral Aksener, erreichte 7,3%. Die übrigen Mitbewerber lagen unter einem Prozent. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Internationale Wahlbeobachter der ODIHR-Beobachtermission konstatieren in ihrem vorläufigen Bericht vielfältige Verstöße gegen den Fairnessgrundsatz (u.a. ungleicher Medienzugang, Wahl unter Ausnahmezustand) die aber die Legitimität des Gesamtergebnisses insgesamt nicht in Frage stellen. Der Wahlkampf fand freilich in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018).

Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

In der Nacht vom 15.7. auf den 16.7.2016 kam es zu einem versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee. Insbesondere Istanbul und Ankara waren von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. In Ankara kam es u.a. zu Angriffen auf die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude. In Istanbul wurde der internationale Flughafen vorrübergehend besetzt. Der Putsch scheiterte jedoch. Kurz vor Mittag des 16.7.16 erklärte der türkische Ministerpräsident Yildirim, die Lage sei vollständig unter Kontrolle (NZZ 17.7.2016). Mehr als 300 Menschen kamen ums Leben (Standard 18.7.2016). Sowohl die regierende islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die pro-kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt (SD 16.7.2016). Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch wurden 3.000 Militärangehörige festgenommen. Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt (WZ 19.7.2016a). Das Innenministerium suspendierte rund 8.800 Beamte, darunter 7.900 Polizisten, über 600 Gendarmen sowie 30 Provinz- und 47 Distriktgouverneure (HDN 18.7.2016). Über 150 Höchstrichter und zwei Verfassungsrichter wurden festgenommen (WZ 19.7.2016a; vgl. HDN 18.7.2016). Die Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter zeigte sich tief betroffenen über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Laut Richtervereinigung dürfen in einem demokratischen Rechtsstaat Richterinnen und Richter nur in den in der Verfassung festgelegten Fällen und nach einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren versetzt oder abgesetzt werden (RIV 18.7.2016).

Staatspräsident Erdogan und die Regierung sahen den im US-amerikanischen Exil lebenden Führer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, als Drahtzieher der Verschwörung und forderten dessen Auslieferung (WZ 19.7.2016b). Präsident Erdogan und Regierungschef Yildirim sprachen sich für die Wiedereinführung der 2004 abgeschafften Todesstrafe aus, so das Parlament zustimmt (TS 19.7.2016; vgl. HDN 19.7.2016). Neben zahlreichen europäischen Politikern machte daraufhin auch die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, klar, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei unvereinbar mit Einführung der Todesstrafe ist. Zudem sei die Türkei Mitglied des Europarates und somit an die europäische Menschrechtskonvention gebunden (Spiegel 19.7.2016).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen

457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018).

Sowohl die türkische Regierung, Staatspräsident Erdogan als auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erklärten Ende Juli 2015 angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen den seit März 2013 bestehenden Waffenstillstand bzw. Friedensprozess für beendet (Spiegel 25.7.2015; vgl. DF 28.7.2015). Hinsichtlich des innerstaatlichen Konfliktes forderte das EU-Parlament einen sofortigen Waffenstillstand im Südosten der Türkei und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses, damit eine umfassende und tragfähige Lösung zur Kurdenfrage gefunden werden kann. Die kurdische Arbeiterpartei (PKK) sollte die Waffen niederlegen, terroristische Vorgehensweisen unterlassen und friedliche und legale Mittel nutzen, um ihren Erwartungen Ausdruck zu verleihen (EP 14.4.2016; vgl. Standard 14.4.2016). Die Europäische Kommission bekräftigt das Recht der Türkei die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die weiterhin in der EU als Terrororganisation gilt, zu bekämpfen. Allerdings müssten die Anti-Terrormaßnahmen angemessen sein und die Menschenrechte geachtet werden. Die Lösung der Kurdenfrage durch einen politischen Prozess ist laut EK der einzige Weg, Versöhnung und Wiederaufbau müssten ebenfalls von der Regierung angegangen werden. (EC 9.11.2016).

2. Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018).

Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018).

Neben Anschlägen der PKK und ihrer Splittergruppe TAK wurden mehrere schwere Anschläge dem sog. Islamischen Staat zugeordnet. Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Touristengruppe im Zentrum Istanbuls wurden im Jänner 2016 zwölf Deutsche getötet. Die Regierung gab dem IS die Schuld für den Anschlag (Zeit 17.1.2017). Am 28. Juni 2016 kamen bei einem Terroranschlag auf den Istanbuler Flughafen Atatürk über 40 Menschen ums Leben. Die Behörden gingen von einer Täterschaft des sog. Islamischen Staates (IS) aus (Standard 30.6.2016). Am 20.8.2016 riss ein Selbstmordanschlag des sog. IS auf eine kurdische Hochzeit in Gaziantep mehr als 50 Menschen in den Tod (Standard 22.8.2016). Mahmut Togrul, lokaler Parlamentarier der HDP, sagte, dass die Hochzeitsgäste größtenteils Unterstützer der HDP gewesen seien, weshalb der Anschlag nicht zufällig, sondern als Racheakt an den Kurden zu betrachten sei (Guardian 22.8.2016). In einer Erklärung warf die HDP der Regierung vor, sie habe Warnungen vor Terroranschlägen durch den sog. IS ignoriert. Vielmehr habe die Regierungspartei AKP tatenlos zugesehen, wie sich die Terrormiliz IS gerade in der grenznahen Stadt Gaziantep ausgebreitet hat (tagesschau.de 21.8.2016). Ein weiterer schwerer Terroranschlag des sog. IS erfolgte in der Silvesternacht 2016/17. Während eines Anschlags auf den Istanbuler Nachtclub Reina wurden 39 Menschen getötet, darunter 16 Ausländer (Zeit 17.1.2017).

Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018). In den Jahren 2017 und 2018 wurden außerdem keine großflächigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei mehr verhängt, die Untersuchung anhaltender Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen während der 24-stündigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei in den Jahren 2015 und 2016 kam jedoch ebenfalls nicht voran (AI 22.02.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

Die PKK hat am 12.3.2016 eine Dachorganisation linker militanter Gruppen gegründet, um ihre eigenen Fähigkeiten auszuweiten und ihre Unterstützungsbasis jenseits der kurdischen Gemeinschaft auszudehnen. Die neue Gruppe, bekannt als die "Revolutionäre Bewegung der Völker" (HBDH), wird vom Chef der radikalsten linken Fraktion innerhalb der PKK, Duran Kalkan, geleitet. Erklärte Absicht der Gruppe, die den türkischen Staat und im Speziellen die herrschende AKP ablehnt, ist es, die politische Agenda voranzutreiben, wozu auch Terroranschläge u.a. gegen Ausländer gehören. Die Gruppe unterstrich zudem das Scheitern der kurdischen Parteien in der Türkei, auch der legalen HDP (Stratfor 15.4.2016). Laut Berichten beabsichtigt die HBDH Propagandaaktionen durchzuführen, um auch die Unterstützung von türkischen Aleviten zu erhalten, und um "Selbstverteidigungsbüros" in den Vierteln der südlichen und südöstlichen Städte zu errichten. Die HBDH will auch Druck auf Dorfvorsteher und Beamte ausüben, die in Schulen und Gesundheitsdiensten arbeiten, damit diese entweder kündigen oder die Ortschaften verlassen (HDN 4.4.2016). Neun verbotene Gruppen trafen sich auf Einladung der PKK am 23.2.2016 zur ihrer ersten Sitzung im syrischen Latakia, darunter die Türkische kommunistische Partei/ Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML), die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) [siehe 3.4.], die Revolutionäre Kommunistische Partei (DKP), die Türkische Kommunistische Arbeiterpartei/ Leninistin (TKEP/L), die Kommunistische Partei der Vereinten Nationen (MKP), die türkische Revolutionäre Kommunistenvereinigung (TIKB), das Revolutionshauptquartier und die Türkische Befreiungspartei-Front (THKP-C) [siehe 3.5] (HDN 4.4.2016; vgl. ANF News 12.3.2016). Die HBDH sieht in der Türkei eine Ein-Parteien-Diktatur bzw. ein faschistisches Regime entstehen, dass u. a. auf der Feindschaft gegen die Kurden gründet (ANF News 12.3.2016).

3. Rechtsschutz/Justizwesen

Die Gewaltenteilung wird in der Verfassung durch Art. 7 (Legislative), 8 (Exekutive) und 9 (Judikative) festgelegt. Laut Art. 9 erfolgt die Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte "im Namen der türkischen Nation". Die in Art. 138 der Verfassung geregelte Unabhängigkeit der Richter ist durch die umfassenden Kompetenzen des in Disziplinar- und Personalangelegenheiten dem Justizminister unterstellten Rates der Richter und Staatsanwälte (HSK, bis 2017 "Hoher Rat der Richter und Staatsanwälte", HSYK) in Frage gestellt. Der Rat ist u. a. für Ernennungen, Versetzungen und Beförderungen zuständig. Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Rates sind seit 2010 nur bei Entlassungen von Richtern und Staatsanwälten vorgesehen. Im Februar 2014 wurden im Nachgang zu den Korruptionsermittlungen gegen Mitglieder der Regierung Erdogan Änderungen im Gesetz zur Reform des HSK vorgenommen. Sie führen zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz mit Übertragung von mehr Kompetenzen an den Justizminister, der gleichzeitig auch Vorsitzender des Rates ist. Durch die Kontrollmöglichkeit des Justizministers ist der Einfluss der Exekutive im HSK deutlich gestiegen. Seitdem kam es zu Hunderten von Versetzungen von Richtern und Staatsanwälten. Im ersten Halbjahr 2015 wurde auch gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt, die als mutmaßliche Gülen-Anhänger illegale Abhörmaßnahmen angeordnet haben sollen. Nach dem Putschversuch von Mitte Juli 2016 wurden fünf Richter und Staatsanwälte des HSK verhaftet. Tausende von Richtern und Staatsanwälten wurden aus dem Dienst entlassen. Seit Inkrafttreten der im April 2017 verabschiedeten Verfassungsänderungen wird der HSK zur Hälfte von Staatspräsident und Parlament ernannt, ohne dass es bei den Ernennungen einer Mitwirkung eines anderen Verfassungsorgans bedürfte. Die Zahl der Mitglieder des HSK wurde von 22 auf 13 reduziert (AA 03.08.2018).

Das Verfassungsgericht (Anayasa Mahkemesi) prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen.

Oberste Instanz der Verwaltungsgerichte ist der Verwaltungsgerichtshof/Staatsrat (Danistay), die der Straf- und Zivilgerichte der Kassationsgerichtshof (Yargitay). Für alle Rechtswege war seit Jahren die effektive Einführung einer Zwischeninstanz vorgesehen, jedoch in der Praxis nicht umgesetzt worden. Aufgrund der großen Überlastung der obersten Instanzen wurde unmittelbar vor dem Putschversuch Ende Juni 2016 die seit mehreren Jahren geplante Zwischeninstanz in Form von Regionalgerichten eingeführt und die mittlere Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit gestärkt. Im Zuge dieser Maßnahmen wurde durch eine Gesetzesänderung vom 01.07.2016 entschieden, die Mitgliederzahl der beiden obersten Gerichtshöfe zu reduzieren. Die Frist zur Umsetzung wurde mit Notstandsdekret 696 vom 20.11.2017 bis 2022 verlängert. Am 25.07.2016 wurden anstelle der entlassenen Richter (mit Ausnahme der jeweiligen Gerichtspräsidenten) 267 neue Mitglieder für den Kassationsgerichtshof und 75 für den Verwaltungsgerichtshof gewählt. Mit Dekret Nr. 696 vom 20.11.2017 wurde jedoch der Kassationsgerichtshof mit 100 neuen Posten aufgestockt und der Verwaltungsgerichtshof mit 16. Diese müssen innerhalb von 6 Monaten nach Inkrafttreten (24.12.2017) des Notstandsdekretes besetzt werden. Vorwürfe, dass diese personellen Veränderungen zu einer Verschiebung der parteipolitischen Orientierung an den Gerichten genutzt wurden, erscheinen plausibel.

Die früheren "Staatssicherheitsgerichte" (Devlet Güvenlik Mahkemesi - DGM) und die "Gerichte für schwere Straftaten mit Sonderbefugnis" sind aufgelöst. Ihre sachliche Zuständigkeit haben regionale "Gerichte für schwere Straftaten" (Agir Ceza Mahkemeleri) übernommen. Mit dem Verfassungsreferendum im April 2017 wurden auch die Militärgerichte abgeschafft (ÖB 10.2017).

Es gab einen schweren Rückschritt hinsichtlich der Funktionsfähigkeit des Justizwesens. Die Unabhängigkeit der türkischen Justiz wurde ernsthaft untergraben, unter anderem durch die Entlassung und Zwangsversetzung von 30% der türkischen Richter und Staatsanwälte nach dem Putschversuch 2016. Diese Entlassungen hatten eine abschreckende Wirkung auf die gesamte Justiz und bergen die Gefahr einer weitreichenden Selbstzensur unter Richtern und Staatsanwälten in sich (EC 17.4.2018, vgl. AI 22.2.2018). Es wurden keine Maßnahmen zur Wiederherstellung der Rechtsgarantien ergriffen, welche die Unabhängigkeit der Justiz gewährleisten. Im Gegenteil, Verfassungsänderungen in Bezug auf den Rat der Richter und Staatsanwälte haben dessen Unabhängigkeit von der Exekutive weiter untergraben. Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, um den Bedenken hinsichtlich des Fehlens objektiver, leistungsbezogener, einheitlicher und im Voraus festgelegter Kriterien für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten Rechnung zu tragen (EC 17.4.2018).

Obwohl Richter immer noch gelegentlich gegen die Interessen der Regierung entscheiden, hat die Ernennung Tausender neuer, der Regierung gegenüber loyaler Richter, die bei einem Urteil gegen die Exekutive in bedeutenden Gerichtsfällen mit potenziellen beruflichen Konsequenzen zu rechnen haben, die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei stark geschwächt. Gleiches gilt für die Auswirkungen der laufenden Säuberung insgesamt. Diese Entwicklung setzte zwar schon weit vor dem Putschversuch im Juli 2016 ein, verstärkte sich aber bis Ende 2017 angesichts der Massenentlassungen von Richtern und Staatsanwälten. In hochkarätigen Fällen werden Richter und Gerichtsverfahren transferiert, so dass das Gericht der Position der Regierung wohlgesonnen ist. Eine langfristige Erosion der Garantie für ordnungsgemäße Verfahren hat sich im Ausnahmezustand beschleunigt. Antiterroranschuldigungen, die seit dem Putschversuch erhoben werden, beruhen oft auf sehr schwachen Indizienbeweisen, geheimen Zeugenaussagen oder einer sich ständig erweiternden Schuldvermutung durch die Festlegung neuer Verbindungspunkte. In vielen Fällen wurden Rechtsanwälte, die die Angeklagten wegen Terrorismusdelikten verteidigen, selbst verhaftet. Längere Untersuchungshaft ist zur Routine geworden (FH 1.2018).

Das Verfassungsgericht prüft die Vereinbarkeit von einfachem Recht mit der Verfassung. Seit September 2012 besteht für alle Staatsbürger die Möglichkeit einer Individualbeschwerde beim Verfassungsgerichtshof. Nach dem Putschversuch wurden zwei Richter des Verfassungsgerichts verhaftet und mit Beschluss des Plenums des Gerichts entlassen. Im Januar 2018 entschied das Verfassungsgericht im Fall von zwei Journalisten, dass sie durch ihre Untersuchungshaft in ihren Grundrechten verletzt seien und aus der Haft zu entlassen seien. Die mit dem Fall befassten ordentlichen Gerichte weigerten sich jedoch, diese verbindliche Entscheidung umzusetzen (AA 3.8.2018).

Das türkische Recht sichert die grundsätzlichen Verfahrensgarantien im Strafverfahren. Mängel gibt es beim Umgang mit vertraulich zu behandelnden Informationen, insbesondere persönlichen Daten, und beim Zugang zu den erhobenen Beweisen für Beschuldigte und Rechtsanwälte. Fälle mit Bezug auf eine angebliche Mitgliedschaft in der PKK oder ihrem zivilen Arm KCK werden häufig als geheim eingestuft, mit der Folge, dass Rechtsanwälte keine Akteneinsicht nehmen können. Anwälte werden vereinzelt daran gehindert bei Befragungen ihrer Mandanten anwesend zu sein. Dies gilt insbesondere in Fällen mit dem Verdacht auf terroristische Aktivitäten. Mit dem

3. Justizreformpaket wurde die Möglichkeit zu deutlichen Strafmilderungen und Haftaussetzung für Nichtmitglieder einer Terrororganisation geschaffen und mit dem 4. Justizreformpaket die Doppelbestrafung nach ATG und StGB abgeschafft (AA 3.8.2018).

Die maximale Untersuchungshaftdauer beträgt bei herkömmlichen Delikten je nach Schwere bis zu drei Jahre. Bei terroristischen Straftaten beträgt die maximale Untersuchungshaftdauer sieben Jahre (ÖB 10.2017). Eine Verurteilung in Abwesenheit des Angeklagten ist zulässig, wenn er zumindest einmal vom Gericht angehört wurde. War das nicht möglich, kommen die Fristen für Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung zum Tragen. Für Straftaten, die nicht von der Notstandsgesetzgebung berührt sind, gilt: Nach spätestens 24 Stunden zuzüglich 12 Stunden Transportzeit muss der Betroffene dem zuständigen Haftrichter vorgeführt werden (Art. 91 Abs. 1 tStPO). In Fällen von Kollektivvergehen, Schwierigkeiten der Beweissicherung oder einer großen Anzahl von Beschuldigten kann der polizeiliche Gewahrsam bis zu drei Tage (jeweils um einen Tag) verlängert werden (Art. 91 Abs. 3 tStPO). Es gibt Anzeichen dafür, dass diese Fristen in der Praxis in Einzelfällen überschritten werden. Gemäß Änderungen im sog. Sicherheitspaket vom 27.03.2015 können die 24 Stunden bei Einzelpersonen beim Ertappen auf "frischer Tat" beispielsweise während einer gewalttätigen Demonstration bis auf 48 Stunden ausgeweitet werden. Spätestens nach Ablauf dieser Frist und bei Kollektivvergehen innerhalb von vier Tagen müssen sie dem Richter vorgeführt werden (Art. 91 Abs. 4 tStPO) (AA 03.08.2018).

Die türkische Rechtsordnung garantiert die Presse- und Meinungsfreiheit, schränkt sie jedoch durch zahlreiche Bestimmungen der Straf- und Antiterrorgesetze ein. Kritisch sind die unspezifische Terrorismusdefinition und ihre Anwendung durch die Gerichte. Nach offiziellen Angaben des türkischen Justizministeriums wurde 2016 über 12.199 Straftaten gemäß Artikel 7 Absatz 2 ATG (Propaganda für eine Terrororganisation) entschieden; davon erging

3.195 mal eine Freiheitsstrafe und 4.492 Freisprüche. Hinsichtlich des Vorwurfs der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation gemäß Artikel 7 Absatz 1 ATG beläuft sich die Zahl auf 155 Straftaten, wovon bis heute vier mit Freiheitsstrafe und elf mit Freispruch entschieden wurden. Neuere Zahlen stehen nicht zur Verfügung. Dem türkischen Parlament liegen derzeit Vorschläge zur Neufassung von Teilen der Anti-Terror-Gesetzgebung vor, die Teile der Bestimmungen des am 19.07.2018 aufgehobenen Notstands in türkisches Recht überführen würden. Ebenso problematisch wie die Frage nach der Definition des Terrorismusbegriffs ist jedoch die bereits jetzt sehr weite Auslegung des Begriffs durch die Gerichte. So kann etwa auch öffentliche Kritik am Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte in den Kurdengebieten der Südosttürkei bei entsprechender Auslegung bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen. Die "Beleidigung des Türkentums" ist gemäß Art. 301 tStGB strafbar und kann von jedem Staatsbürger zur Anzeige gebracht werden, der Meinungs- oder Medienäußerungen für eine Verunglimpfung der nationalen Ehre hält. Offiziellen Zahlen zufolge wurden 2016 insgesamt 482 Verfahren wegen Beleidigung des derzeitigen Staatspräsidenten gemäß Art. 299 tStGB eingeleitet.

Das Recht auf sofortigen Zugang zu einem Rechtsanwalt innerhalb von 24 Stunden ist grundsätzlich gewährleistet. Für Personen, denen seit dem Putschversuch der Vorwurf einer Nähe zur Gülen-Bewegung und/oder der Beteiligung an dem Putschversuch gemacht wird, besteht das praktische Problem, dass sich - aus Angst selbst in Verdacht zu geraten oder wirtschaftliche oder gesellschaftliche Nachteile als vermeintliche "Gülenisten" zu erleiden - kaum Anwälte bereit erklären, diese zu verteidigen. (AA 03.08.2018). Die Zustellung von Gerichtsurteilen an Rechtsanwälte ist möglich (AA 03.08.2018).

Während des Ausnahmezustandes hat der Ministerrat m

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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