TE Vfgh Erkenntnis 2019/6/17 E1832/2019

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Veröffentlicht am 17.06.2019
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1
EMRK Art8 Abs1
StbG 1985 §28 Abs1
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Abweisung des Antrags auf Beibehaltung der österreichischen Staatbürgerschaft bei Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit; Gleichheitswidrigkeit wegen Nichtvornahme der Prüfung des Privat- und Familienlebens auf Grund des Staatsbürgerschaftserwerbs durch Verleihung

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Das Land Wien ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist seit seiner Geburt im Jahr 1974, abgeleitet von seinem Vater, iranischer Staatsangehöriger. Seine Mutter hatte zu diesem Zeitpunkt die österreichische Staatsbürgerschaft inne. Auf Grund der damals geltenden Bestimmung des §7 StbG 1965 (der zufolge ein eheliches Kind die Staatsbürgerschaft mit seiner Geburt erwirbt, wenn sein Vater in diesem Zeitpunkt Staatsbürger ist) erwarb der Beschwerdeführer die österreichische Staatsbürgerschaft nicht kraft Abstammung von seiner Mutter. Sie wurde ihm aber mit Bescheid der Wiener Landesregierung vom 3. Dezember 1981 gemäß §10 Abs3 StbG 1965 aus berücksichtigungswürdigen Gründen – da er von einer österreichischen Staatsbürgerin abstamme – verliehen.

Seit 17 Jahren lebt der Beschwerdeführer in den Vereinigten Staaten von Amerika und möchte nun die US-amerikanische Staatsangehörigkeit erwerben. Für diesen Fall beantragte der Beschwerdeführer am 26. Mai 2017 bei der Wiener Landesregierung die Bewilligung der Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß §28 StbG aus Gründen seines Privat- und Familienlebens.

2. Mit Bescheid vom 4. Oktober 2018 wies die Wiener Landesregierung diesen Antrag ab.

3. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht Wien mit Erkenntnis vom 1. April 2019 als unbegründet ab. Die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft aus Gründen des Privat- und Familienlebens setze gemäß §28 Abs2 StbG voraus, dass die Staatsbürgerschaft durch Abstammung erworben wurde. Die Bestimmung finde hingegen keine Anwendung in Fällen der Verleihung der Staatsbürgerschaft, selbst wenn diese bereits in sehr jungen Jahren erfolgt sei. Der Beschwerdeführer habe die österreichische Staatsbürgerschaft nicht durch Abstammung im Zeitpunkt seiner Geburt, sondern erst nachfolgend durch Verleihung erworben. Weder diese Verleihung noch die in späteren Übergangsbestimmungen des StbG geschaffene Möglichkeit, die österreichische Staatsbürgerschaft durch Erklärung zu erwerben, wenn die Mutter die Staatsbürgerschaft am Tag der Geburt des Kindes besessen hat, hätten ex tunc gewirkt. Die weiteren Kriterien des §28 Abs2 StbG, also das Vorliegen eines für die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft besonders berücksichtigungswürdigen Grundes im Privat- und Familienleben, seien daher nicht zu prüfen.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz (Art2 StGG, Art7 Abs1 B-VG) und auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) sowie in Rechten wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof, beantragt wird.

Gemäß §28 Abs1 StbG sei einem österreichischen Staatsbürger für den Fall des Erwerbes einer fremden Staatsangehörigkeit die Beibehaltung unter bestimmten Voraussetzungen zu bewilligen. Gemäß §28 Abs2 StbG gelte dies insbesondere für Staatsbürger, wenn sie die Staatsbürgerschaft durch Abstammung erworben haben und in ihrem Privat- und Familienleben ein für die Beibehaltung besonders berücksichtigungswürdiger Grund vorliege. Bei der Frage nach der Abstammung iSd §28 Abs2 StbG stelle das Verwaltungsgericht auf die zum Zeitpunkt der Geburt des Beschwerdeführers geltende Bestimmung des §7 StbG 1965 ab, die eine unzulässige Diskriminierung von ehelichen Kindern ebenso wie eine unzulässige Diskriminierung nach dem Geschlecht zur Folge gehabt habe. Weil die mit der Staatsbürgerschaftsnovelle 1983 herbeigeführte Gleichbehandlung der Geschlechter auch eine Folge gesellschaftlicher und rechtlicher Veränderungen sei, die im Hinblick auf Art14 EMRK und Art7 Abs1 B-VG relevant seien, verbiete sich eine Interpretation des §28 Abs2 StbG dahingehend, dass die Bestimmungen über den Erwerb durch Abstammung jeweils zum Geburtszeitpunkt des Betroffenen heranzuziehen seien. Um den geänderten gesellschaftlichen Voraussetzungen Rechnung zu tragen, müsse die Bestimmung des §28 Abs2 StbG zumindest immer dann Anwendung finden, wenn – wie dies in Bezug auf den Beschwerdeführer der Fall wäre – nach der derzeit geltenden Rechtslage der Erwerb der Staatsbürgerschaft erfolgen würde. Das Verwaltungsgericht Wien habe §28 Abs2 StbG hingegen einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt und die unzulässige Diskriminierung des Beschwerdeführers durch den Nichterwerb der Staatsbürgerschaft mit der Geburt fortgesetzt.

Der Gesetzgeber habe mit §28 Abs2 StbG jenen Personen, die von österreichischen Staatsbürgern abstammen, die zusätzliche Möglichkeit der Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft bei extremer Beeinträchtigung des Privat- und Familienlebens einräumen wollen, um Bindungen nach Art8 EMRK entsprechend zu berücksichtigen. Nach Art8 EMRK sei es jedoch nicht zulässig, bei der Frage der Anwendbarkeit dieser Bestimmung auf ein rein formales Kriterium, nämlich den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft mit der Geburt, abzustellen. Entscheidend sei für die Bindungen nach Art8 EMRK unter anderem die tatsächliche Abstammung von österreichischen Staatsbürgern. Das Verwaltungsgericht Wien unterstelle §28 Abs2 StbG somit auch einen Art8 EMRK widersprechenden Inhalt.

Ein für die Beibehaltung besonders berücksichtigungswürdiger Grund im Privat- und Familienleben könne nicht nur bei österreichischen Staatsbürgern auftreten, die durch Abstammung die Staatsbürgerschaft erworben haben, sondern auch bei jenen, die sie auf anderem Weg erlangt haben. Eine Differenzierung dieser beiden Gruppen durch die Einschränkung des Anwendungsbereiches des §28 Abs2 StbG erscheine sachlich nicht begründet.

Sollte eine verfassungskonforme Interpretation der Bestimmung nicht möglich sein, werde angeregt, ein Gesetzesprüfungsverfahren einzuleiten und die Wortfolge "sie die Staatsbürgerschaft durch Abstammung erworben haben und" in §28 Abs2 StbG als verfassungswidrig aufzuheben.

5. Die Wiener Landesregierung und das Verwaltungsgericht Wien haben die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.

II. Rechtslage

Die maßgeblichen Bestimmungen des Bundesgesetzes über die österreichische Staatsbürgerschaft (Staatsbürgerschaftsgesetz 1985 – StbG), BGBl 311/1985 (WV) idF vor BGBl I 68/2017, lauten auszugsweise wie folgt:

"ABSCHNITT III

VERLUST DER STAATSBÜRGERSCHAFT

§26. Die Staatsbürgerschaft wird verloren durch

1. Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit (§§27 und 29);

[…]

Erwerb einer fremden Staatsangehörigkeit

§27. (1) Die Staatsbürgerschaft verliert, wer auf Grund seines Antrages, seiner Erklärung oder seiner ausdrücklichen Zustimmung eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt, sofern ihm nicht vorher die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft bewilligt worden ist.

[…]

§28. (1) Einem Staatsbürger ist für den Fall des Erwerbes einer fremden Staatsangehörigkeit (§27) die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft zu bewilligen, wenn

1. sie wegen der von ihm bereits erbrachten und von ihm noch zu erwartenden Leistungen oder aus einem besonders berücksichtigungswürdigen Grund im Interesse der Republik liegt, und – soweit Gegenseitigkeit besteht – der fremde Staat, dessen Staatsangehörigkeit er anstrebt, der Beibehaltung zustimmt sowie die Voraussetzungen des §10 Abs1 Z2 bis 6 und 8 sinngemäß erfüllt sind, oder

2. es im Fall von Minderjährigen dem Kindeswohl entspricht.

(2) Dasselbe gilt für Staatsbürger, wenn sie die Staatsbürgerschaft durch Abstammung erworben haben und in ihrem Privat- und Familienleben ein für die Beibehaltung besonders berücksichtigungswürdiger Grund vorliegt.

[…]"

III. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1. Eine Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (zB VfSlg 10.413/1985, 14.842/1997, 15.326/1998 und 16.488/2002) unter anderem dann vor, wenn das Verwaltungsgericht der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt.

2. §28 StbG regelt die Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft für den Fall des Erwerbes einer fremden Staatsangehörigkeit, der sonst unter den Voraussetzungen des §27 Abs1 StbG ex lege zum Verlust der österreichischen Staatsbürgerschaft führt, ohne dass es dafür einer behördlichen Entscheidung bedarf (VfGH 11.12.2018, E3717/2018). In diesem System kommt dem Verfahren zur Bewilligung der Beibehaltung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß §28 StbG insofern grundrechtliche Bedeutung zu, als die Behörde anlässlich eines Antrages auf Beibehaltung der Staatsbürgerschaft die Folgen eines allfälligen Verlustes auf ihre Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf Art8 EMRK prüfen kann und muss (EGMR 21.6.2016, Fall Ramadan, Appl 76.136/12, Z90 ff.; für die unionsrechtlich gebotene Abwägung der Folgen des Verlustes der Unionsbürgerschaft siehe im gegebenen Zusammenhang EuGH 12.3.2019, Rs. C-221/17, Tjebbes ua, Rz 41 f.). Gegebenenfalls besteht ein Rechtsanspruch auf Beibehaltung der Staatsbürgerschaft gemäß §28 StbG.

Vor diesem Hintergrund ist der mit BGBl 394/1973 zur Vermeidung von Härtefällen (Erläut zur RV 729 BlgNR 13. GP, 7) in das StbG 1965 eingefügte und nunmehr in §28 Abs1 Z1 StbG normierte Tatbestand, dass "aus einem besonders berücksichtigungswürdigen Grund" die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft im Interesse der Republik liegt, auch dann erfüllt, wenn der gesetzlich angeordnete Verlust der Staatsbürgerschaft eine Verletzung des durch Art8 EMRK gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens und damit einen Verstoß gegen die Verpflichtung der Republik Österreich zur Gewährleistung dieses Konventionsrechts bedeuten würde. Denn es wäre sachlich nicht gerechtfertigt, dass entsprechend gewichtige Gründe des Privat- und Familienlebens die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft für den Fall des Erwerbes einer fremden Staatsangehörigkeit nur begründen können sollen, wenn die Staatsbürgerschaft durch Abstammung (siehe §28 Abs2 StbG), nicht aber, wenn sie auf anderem Weg, insbesondere durch Verleihung, erworben wurde (also ein Fall des hinsichtlich des Erwerbes der Staatsbürgerschaft allgemeinen §28 Abs1 StbG vorliegt).

3. Indem das Verwaltungsgericht Wien eine Prüfung von im Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers begründeten Umständen von vornherein schon deshalb ausschließt, weil dieser die österreichische Staatsbürgerschaft nicht durch Abstammung bei der Geburt, sondern durch Verleihung erworben hat, hat es §28 StbG einen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.

Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

2. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– sowie eine Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in der Höhe von € 240,– enthalten.

Schlagworte

Staatsbürgerschaftsrecht, Privat- und Familienleben, Auslegung verfassungskonforme, Entscheidungsbegründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:E1832.2019

Zuletzt aktualisiert am

06.08.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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