TE Vwgh Erkenntnis 2019/4/25 Ro 2019/08/0004

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Veröffentlicht am 25.04.2019
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Index

32/02 Steuern vom Einkommen und Ertrag
62 Arbeitsmarktverwaltung
66/02 Andere Sozialversicherungsgesetze

Norm

AlVG 1977 §33 Abs2
AlVG 1977 §33 Abs3
AlVG 1977 §36 Abs2
AlVG 1977 §36a Abs3 Z1 idF 2013/I/067
EStG 1988 §29 Z1
NotstandshilfeV §2 Abs1 idF 1989/388
NotstandshilfeV §2 Abs2 idF 1989/388

Betreff

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Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des Arbeitsmarktservice Baden in 2500 Baden, Josefsplatz 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 6. November 2018, Zl. W228 2192724-1/3E, betreffend Einstellung der Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: B S in U), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Mit Bescheid des revisionswerbenden Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) vom 13. Oktober 2017 wurde die Notstandshilfe der Mitbeteiligten ab dem 7. Oktober 2017 mangels Notlage gemäß § 33 und § 38 iVm § 24 Abs. 1 AlVG sowie § 2 der Notstandshilfe-Verordnung eingestellt. Die Mitbeteiligte habe Unterhaltsansprüche gegen ihren (nicht im gemeinsamen Haushalt lebenden) Ehemann nicht betrieben, weshalb diese fiktiv anzurechnen seien.

2 Die Mitbeteiligte erhob gegen diesen Bescheid Beschwerde und brachte vor, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Ehepartners seien nur dann zu berücksichtigen, wenn er im gemeinsamen Haushalt leben würde. Es sei unklar, wie eine "fiktive Anrechnung" der Unterhaltsansprüche aussehen soll.

3 Mit Beschwerdevorentscheidung vom 20. Dezember 2017 wies das AMS die Beschwerde ab. Es liege kein gemeinsamer Wohnsitz der Ehegatten vor. Wenn ein Berechtigter seine Unterhaltsansprüche ohne nachvollziehbare Begründung - offensichtlich zu Lasten der Arbeitslosenversicherung - nicht betreibe, könnten diese auf die Notstandshilfe angerechnet werden. Das durchschnittliche monatliche Nettoeinkommen des Ehemanns aus einer Pension belaufe sich 2017 auf EUR 2.617,02. Der Notstandshilfebezug der Mitbeteiligten belaufe sich monatlich auf EUR 589,50. Von 40 % des gemeinsamen Einkommens der Ehepartner (EUR 1.282,61) sei das Einkommen der Mitbeteiligten abzuziehen, sodass sich ein fiktiver Unterhaltsanspruch der Mitbeteiligten gegen ihren Ehemann in Höhe von EUR 693,11 ergebe. Dieser Unterhaltsanspruch überschreite die monatliche Geringfügigkeitsgrenze im Jahr 2017 von EUR 415,72 und sei auf den Notstandshilfeanspruch anzurechnen. Da der tägliche Anrechnungsbetrag auf Grund des Unterhaltsanspruches der Mitbeteiligten von EUR 22,78 ihren Anspruch auf Notstandshilfe in Höhe von EUR 19,65 übersteige, sei ab dem 7. Oktober 2017 keine Notlage mehr gegeben.

4 Die Mitbeteiligte stellte einen Vorlageantrag, in dem sie das Bestehen von Unterhaltsansprüchen gegenüber ihrem Ehemann ohne nähere Begründung bestritt. Sie sei jedenfalls nicht verpflichtet, Unterhaltsansprüche gegen ihren Mann mit Klage durchzusetzen. 5 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht der Beschwerde gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG stattgegeben und die Beschwerdevorentscheidung vom 20. Dezember 2017 (ersatzlos) aufgehoben. Es stellte fest, dass die Mitbeteiligte gegen ihren von ihr getrennt lebenden Ehemann keine Unterhaltsklage eingebracht und keine Unterhaltsansprüche geltend gemacht habe. "Ohne das Hinzutreten tatsächlicher und konkreter Hinweise eines Rechtsmissbrauchs" sei dies kein rechtsmissbräuchliches Verhalten. Eine Verpflichtung zur Einbringung der Klage würde nicht bestehen, weil die Mitbeteiligte das Prozesskostenrisiko, das Erfolgsrisiko sowie das Insolvenzrisiko tragen müsste. Das AMS habe den Unterhaltsanspruch zu Unrecht auf den Notstandshilfeanspruch der Mitbeteiligten angerechnet.

6 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig sei, weil in der bisherigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur "Frage, ob die Abwälzung der wirtschaftlichen Folgen auf die Versichertengemeinschaft im Falle der unterlassenen Einbringung einer Unterhaltsklage aufgrund der oben erwähnten Risiken rechtsmissbräuchlich" sei, noch nicht Stellung genommen worden sei.

7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision. Die Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der sie die Abweisung der Revision beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Revision ist zulässig, weil das Verwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Anrechnung nicht geltend gemachter Unterhaltsansprüche eines Notstandshilfebeziehers abgewichen ist.

9 Gemäß § 33 Abs. 2 AlVG ist Voraussetzung für die Gewährung der Notstandshilfe unter anderem, dass sich der Arbeitslose in einer Notlage im Sinn des § 33 Abs. 3 AlVG befindet. Nach § 2 Abs. 1 der Notstandshilfeverordnung (NH-VO), BGBl. Nr. 352/1973, in der hier zeitraumbezogen anzuwendenden Fassung BGBl. Nr. 388/1989, liegt Notlage vor, wenn das Einkommen (§ 36a Abs. 1 AlVG) des Arbeitslosen und das seines Ehepartners (Lebensgefährten bzw. seiner Lebensgefährtin) zur Befriedigung der notwendigen Lebensbedürfnisse des Arbeitslosen nicht ausreicht. Bei der Beurteilung der Notlage sind gemäß § 2 Abs. 2 NH-VO die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des Arbeitslosen selbst sowie des mit dem Arbeitslosen im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehepartners (Lebensgefährten bzw. Lebensgefährtin) zu berücksichtigen.

10 Ein aus Unterhaltsleistungen des geschiedenen oder getrennt lebenden Ehepartners bezogenes Einkommen des Arbeitslosen wird gemäß § 36a Abs. 3 Z. 1 AlVG (in der Fassung BGBl. I Nr. 67/2013) iVm § 29 Z 1 - EStG 1988 (in der Fassung BGBl. I Nr. 22/2012) in gleicher Weise berücksichtigt wie ein Einkommen aus eigener Erwerbstätigkeit des Arbeitslosen.

11 Im konkreten Fall ist unstrittig, dass die Mitbeteiligte und ihr Ehemann im relevanten Zeitraum in getrennten Haushalten wohnten. Damit ist bei der Prüfung des Vorliegens einer Notlage der Mitbeteiligten grundsätzlich nur auf das tatsächlich der Arbeitslosen zufließende Einkommen abzustellen. Es kommt dabei nicht darauf an, ob sie durch eine bessere Verwertung ihres Vermögens ("bestmögliche Nutzung von Einnahmequellen") überhaupt bzw. höhere Einkünfte erzielen könnte, es sei denn, sie würde sich für bestimmte die Erzielung von Einkünften betreffende Gestaltungsmöglichkeiten nur deshalb entscheiden, um einer Einkommensanrechnung "zu entgehen", indem sie z.B. ihren Schuldner von seiner Verpflichtung zu Lasten der Versicherungsgemeinschaft befreit; eine derartige Konstellation kann auch vorliegen, wenn es die Arbeitslose unterlässt, eigene Unterhaltsforderungen zu verfolgen.

12 Im vorliegenden Fall hat die Mitbeteiligte keine Umstände ins Treffen geführt, die ein Absehen von der Geltendmachung von Unterhaltsforderungen verständlich und damit nicht rechtsmissbräuchlich erscheinen ließen (VwGH 12.9.2012, 2010/08/0230). Die vom Verwaltungsgericht amtswegig ins Spiel gebrachten Gründe sind in Anbetracht der Möglichkeit einer Verfahrenshilfe und in Anbetracht des Fehlens jeglicher Anhaltspunkte für das Vorliegen der genannten Risiken nicht nachvollziehbar.

13 Es reicht für eine "fiktive Unterhaltsanrechnung" in der Höhe von 40 % des Familiennettoeinkommens allerdings nicht aus, dass der getrennt lebende Ehepartner keine Unterhaltsklage eingebracht hat. Vielmehr ist anhand der konkreten Umstände des Einzelfalles zu prüfen, in welcher Höhe ein Unterhaltsanspruch der Arbeitslosen gegenüber ihrem getrennt lebenden Ehepartner tatsächlich besteht oder bestehen würde, hätte die Arbeitslose nicht auf den Unterhaltsanspruch (allenfalls teilweise) nur deshalb verzichtet, um einer Einkommensanrechnung zu entgehen. Übersteigt der solcherart zu beurteilende Anspruch die der Arbeitslosen tatsächlich zufließenden Unterhaltsleistungen, so ist festzustellen, in welcher Höhe Unterhaltsleistungen bei rechtmäßigem Alternativverhalten zugeflossen wären. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes grundsätzlich nur bei durchschnittlichen Verhältnissen aus Praktikabilitäts- und Gleichbehandlungsgründen pauschalierte, nach Prozenten der Einkommensbemessungsgrundlage festgesetzte Unterhaltsbeträge zugesprochen werden; eine gesetzliche Grundlage für die (starre) Anwendung eines bestimmten Berechnungssystems besteht nicht; Unterhaltsentscheidungen sind grundsätzlich Ermessensentscheidungen und keine reinen Rechenexempel (vgl. zum Ganzen VwGH 22.12.2010, 2008/08/0270).

14 Das Verwaltungsgericht hat infolge seiner verfehlten Rechtsansicht von weiteren Erhebungen - gegebenenfalls auch durch Einvernahme des Ehemanns der Mitbeteiligten - abgesehen. Das angefochtene Erkenntnis war gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

Wien, am 25. April 2019

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RO2019080004.J00

Im RIS seit

01.08.2019

Zuletzt aktualisiert am

02.08.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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