TE Vwgh Erkenntnis 2019/5/16 Ra 2018/02/0198

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Veröffentlicht am 16.05.2019
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein
10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren

Norm

MRK Art6
VStG §51e
VStG §51e Abs7
VStG §51f
VStG §51g
VStG §51h
VStG §51i
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §44
VwGVG 2014 §44 Abs5
VwGVG 2014 §46
VwGVG 2014 §47
VwGVG 2014 §47 Abs2
VwGVG 2014 §47 Abs4
VwGVG 2014 §48
VwRallg

Betreff

?

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Beck sowie die Hofräte Dr. N. Bachler und Mag. Straßegger als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des K in M, vertreten durch Dr. Johann Postlmayr, Rechtsanwalt in 5230 Mattighofen, Stadtplatz 6, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich vom 4. April 2018, Zl. LVwG-602191/20/FP, betreffend Übertretung der StVO (Partei gemäß § 21 Abs. 1 Z 2 VwGG: Bezirkshauptmannschaft Braunau am Inn), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Oberösterreich hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Straferkenntnis vom 25. Oktober 2017 legte die belangte Behörde dem Revisionswerber als Lenker eines dem Kennzeichen nach bestimmten Kraftfahrzeugs zur Last, er habe sich am 4. August 2017 um 23.03 Uhr an einem näher bezeichneten Ort in der Gemeinde S. nach Aufforderung durch ein besonders geschultes Organ der Bundespolizei geweigert, seine Atemluft auf Alkoholgehalt untersuchen zu lassen, wobei vermutet habe werden können, dass er zum angeführten Zeitpunkt am genannten Ort das Fahrzeug in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand gelenkt habe. Aus diesem Grund habe der Revisionswerber § 5 Abs. 2 StVO verletzt, weshalb die belangte Behörde über ihn eine Geldstrafe in der Höhe von EUR 1.600 (Ersatzfreiheitsstrafe 14 Tage) verhängte. 2 Dagegen erhob der Revisionswerber fristgerecht Beschwerde, in der er beantragte, das Verwaltungsgericht möge dieser Folge geben, das Straferkenntnis der belangten Behörde aufheben und das Verwaltungsstrafverfahren einstellen.

3 Daraufhin führte das Verwaltungsgericht am 16. Jänner 2018 eine mündliche Verhandlung durch, in der es unter Anwesenheit des Vertreters des Revisionswerbers die beiden amtshandelnden Beamten der Bundespolizei einvernahm. Dem Protokoll der Verhandlung ist zu entnehmen, dass der Vertreter des Revisionswerbers die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis dafür, dass der bei der Amtshandlung eingesetzte Alkomat unmöglich Blaszeiten zwischen 6,3 und 8,9 Sekunden anzeige, wenn der Proband - wie der Revisionswerber - mit offenem Mund lediglich in das Gerät hinein hauche, beantragte.

4 Anschließend verzichtete der Vertreter des Revisionswerbers ausdrücklich auf eine Verkündung der Entscheidung, woraufhin das Verwaltungsgericht die Verhandlung für geschlossen erklärte. 5 Mit Schreiben vom 24. Jänner 2018 beauftragte das Verwaltungsgericht einen Amtssachverständigen zur Erstattung eines technischen Gutachtens zur Funktionsweise des gegenständlichen Alkomaten. Dazu ersuchte es den Sachverständigen, folgende Frage zu beantworten:

"Ist es aus technischer Sicht möglich, dass der Alkomat Blaszeiten von bis zu 8,9 Sekunden anzeigt, wenn das Rohr beim Blasen nicht vollständig mit dem Mund umschlossen, sondern teilweise am Rohr vorbeigeblasen wird?"

Weiters merkte das Verwaltungsgericht an, es sei damit zu rechnen, dass eine (weitere) mündliche Verhandlung zur Gutachtenserörterung stattfinden werde.

6 In der daraufhin erstatteten Stellungnahme vom 15. März 2018 führte der Sachverständige im Wesentlichen aus, es könne aufgrund von "Tests, Blasversuchen, sowie Rückfragen beim Alkomathersteller" festgestellt werden, dass der Alkomat Blaszeiten von bis zu 8,9 Sekunden anzeige, wenn das Rohr beim Blasen nicht vollständig mit dem Mund umschlossen, sondern teilweise am Rohr vorbeigeblasen werde.

7 Mit E-Mail vom 22. März 2018 übermittelte das Verwaltungsgericht dem Revisionswerber die Stellungnahme des Sachverständigen und gab ihm Gelegenheit, binnen zwei Wochen dazu Stellung zu nehmen bzw. eine fortgesetzte mündliche Verhandlung zu beantragen.

8 In seiner Stellungnahme vom 23. März 2018 führte der Revisionswerber aus, die vorliegende Stellungnahme des Amtssachverständigen stelle kein Gutachten im Sinne des AVG dar. Im Übrigen erstattete er weiteres Vorbringen hinsichtlich der ihm zur Last gelegten Verwaltungsübertretung und wiederholte seine in der Beschwerde gestellten Anträge.

9 Sodann wies das Verwaltungsgericht - ohne Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung und unter Heranziehung der gutachtlichen Stellungnahme - die Beschwerde des Revisionswerbers mit dem angefochtenen Erkenntnis ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

10 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision mit dem Antrag, der Verwaltungsgerichtshof möge die Revision zulassen, ihr Folge geben und das angefochtene Erkenntnis aufheben sowie das Land Oberösterreich zum Ersatz der Kosten des Revisionsverfahrens verpflichten.

11 Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Revision beantragt. 12 In einer dazu eingebrachten Äußerung erklärte der Revisionswerber, dass er seine in der Revision gestellten Anträge aufrechterhält.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

13 In der Zulässigkeitsbegründung der Revision wird ausgeführt, das Verwaltungsgericht hätte das Erkenntnis in der mündlichen Verhandlung vom 16. Jänner 2018 gemäß § 47 Abs. 4 letzter Satz VwGVG verkünden müssen. Aufgrund des identen Wortlauts der Vorgängerbestimmung des § 51h Abs. 4 letzter Satz VStG verstoße die Abstandnahme von der mündlichen Verkündung gegen die dazu ergangene Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Zudem habe das Verwaltungsgericht das Beweisverfahren trotz geschlossener Verhandlung weitergeführt und keinen Beschluss zur Wiederöffnung gefasst. Nach § 47 Abs. 1 VwGVG sei eine Verhandlung aber zu vertagen, wenn sich die Aufnahme weiterer Beweise als notwendig erweise. Dazu fehle es jedoch an Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

14 Diesem Vorbringen ist Folgendes entgegenzuhalten:

15 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits ausgesprochen, dass

die bisherige Rechtsprechung zu § 51h VStG auch auf § 47 VwGVG umgelegt werden kann. Nach den Erläuterungen zur RV 2009 BlgNR 24. GP 8, entsprechen die Bestimmungen des VwGVG über die Verhandlung den §§ 51e bis 51i VStG mit Ausnahme des § 51e Abs. 7 VStG. § 47 VwGVG über den Schluss der Verhandlung entspricht jener des § 51h VStG in der Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 33/2013, die für das Verfahren der UVS in Verwaltungsstrafsachen zur Anwendung kam (vgl. VwGH 18.6.2018, Ra 2018/02/0188, mwN).

16 Nach § 47 Abs. 4 letzter Satz VwGVG sind der Spruch des Erkenntnisses und seine wesentliche Begründung nach Möglichkeit sofort zu beschließen und zu verkünden. Hat aber der Beschuldigte - wie vorliegend der Revisionswerber - in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich auf die Verkündung des Erkenntnisses verzichtet, so kann er durch die Unterlassung der mündlichen Verkündung in seinen Rechten nicht verletzt sein (vgl. VwGH 26.2.2019, Ra 2018/03/0134, mwN).

17 Ferner hindert der "Schluss der Beweisaufnahme" im Sinn des § 47 Abs. 2 VwGVG nicht die Berücksichtigung allfälliger späterer, sich noch vor der Verkündung der Entscheidung ergebender Beweise. Gleiches hat für den Formalakt des "Schlusses der Verhandlung" gemäß § 47 Abs. 4 VwGVG zu gelten (vgl. abermals VwGH Ra 2018/02/0188).

18 Dem Verwaltungsgericht ist es daher nach Schluss der mündlichen Verhandlung vom 16. Jänner 2018 grundsätzlich nicht verwehrt gewesen, von Amts wegen einen Sachverständigen zur Erstattung eines - im Übrigen vom Revisionswerber selbst beantragten - Gutachtens zu beauftragen.

19 Weiters wird in der Zulässigkeitsbegründung der Revision vorgebracht, der Revisionswerber habe zwar zu den Ausführungen des Sachverständigen eine Stellungnahme abgegeben und darin explizit keine weitere Verhandlung beantragt. Dies entbinde das Verwaltungsgericht jedoch nicht von seiner Pflicht zur Fortsetzung der Verhandlung, weil der Revisionswerber darauf gemäß § 44 Abs. 5 VwGVG nicht ausdrücklich verzichtet habe. Zur genannten Bestimmung liege jedoch ebenso keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor.

20 Aus diesem Grund erweist sich die Revision - im Ergebnis - als zulässig und berechtigt:

21 Gemäß § 44 Abs. 5 VwGVG kann das Verwaltungsgericht von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden. Durch die Wortfolge "wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten" wurde vom Gesetzgeber klargestellt, dass es hierbei auf eine ausdrückliche Willenserklärung der Parteien ankommt (VwGH 19.3.2018, Ra 2017/17/0871).

22 Gemäß § 48 VwGVG ist in Verfahren in Verwaltungsstrafsachen, wenn eine Verhandlung durchgeführt wurde, bei der Fällung eines Erkenntnisses nur auf das Rücksicht zu nehmen, was in der Verhandlung vorgekommen ist. Auf Aktenstücke ist nur insoweit Rücksicht zu nehmen, als sie bei der Verhandlung verlesen wurden, es sei denn, der Beschuldigte hätte darauf verzichtet, oder als es sich um Beweiserhebungen handelt, deren Erörterung infolge Verzichts auf eine fortgesetzte Verhandlung gemäß § 44 Abs. 5 VwGVG entfallen ist.

23 § 48 VwGVG legt die Geltung des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Verwaltungsstrafverfahren fest, der für den Beschuldigten an Art. 6 EMRK zu messen ist. Demnach darf das Verwaltungsgericht, soweit es eine Verhandlung durchführt, bei seiner Entscheidung nur auf die in der Verhandlung selbst vorgekommenen Beweise Rücksicht nehmen. Die Anforderungen an ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK gebieten es, alle Beweise grundsätzlich in einer öffentlichen Verhandlung mit dem Ziel einer kontradiktorischen Erörterung aufzunehmen (vgl. VwGH 6.11.2018, Ra 2018/01/0243, mwN).

24 In seiner Stellungnahme vom 23. März 2018 hat der Revisionswerber die Eignung der nach der Verhandlung vom 16. Jänner 2018 vom Verwaltungsgericht eingeholten gutachterlichen Stellungnahme als "Gutachten" im Sinne des AVG sowie das ihm vorgeworfene strafbare Verhalten bestritten. Ebenso hat er seinen in der Beschwerde gestellten Antrag auf Aufhebung des Straferkenntnisses der belangten Behörde aufrechterhalten. Bereits deshalb kann nicht davon die Rede sein, er hätte ausdrücklich auf die Fortsetzung der genannten Verhandlung nach § 44 Abs. 5 VwGVG verzichtet. Ebenso kann allein aus dem Umstand, dass er sich zur Aufforderung des Verwaltungsgerichts, binnen zwei Wochen mitzuteilen, ob er eine fortgesetzte mündliche Verhandlung beantragt, nicht konkret geäußert hat, nicht auf einen solchen ausdrücklichen Verzicht geschlossen werden (vgl. VwGH 30.8.2018, Ra 2017/17/0724, mwN).

25 Indem das Verwaltungsgericht die nach Durchführung der mündlichen Verhandlung vom 16. Jänner 2018 eingeholte Stellungnahme des Sachverständigen seiner Entscheidung zu Grunde gelegt hat, obwohl der Revisionswerber nicht ausdrücklich auf die Fortsetzung dieser Verhandlung und somit auch nicht auf die Erörterung der Stellungnahme verzichtet hat, ist ihm ein Verstoß gegen die Verhandlungspflicht bzw. den Unmittelbarkeitsgrundsatz nach § 48 VwGVG vorzuwerfen. Dies stellt einen Verstoß gegen tragende Verfahrensgrundsätze bzw. eine konkrete schwerwiegende Verletzung von Verfahrensvorschriften und damit eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung dar (vgl. aus der ständigen hg. Rechtsprechung etwa VwGH 19.12.2016, Ra 2015/02/0028). 26 Ein Verstoß des Verwaltungsgerichts gegen die aus Art. 6 Abs. 1 EMRK abgeleitete Verhandlungspflicht führt auch ohne nähere Prüfung einer Relevanz dieses Verfahrensmangels zur Aufhebung des Erkenntnisses gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG, sofern sich der Verwaltungsgerichtshof - wie im vorliegenden Fall - nicht veranlasst sieht, in der Sache selbst zu entscheiden. Bei diesem Ergebnis muss auf weiteres Revisionsvorbringen - auch wenn es zum Revisionsgrund der inhaltlichen Rechtswidrigkeit erstattet wird - nicht mehr eingegangen werden (vgl. VwGH 21.11.2017, Ra 2017/12/0099, mwN)

27 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

28 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20

14.

Wien, am 16. Mai 2019

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2Individuelle Normen und Parteienrechte Auslegung von Bescheiden und von Parteierklärungen VwRallg9/1Rechtsgrundsätze Verzicht Widerruf VwRallg6/3

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018020198.L00

Im RIS seit

09.07.2019

Zuletzt aktualisiert am

09.07.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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