TE Bvwg Erkenntnis 2019/1/14 W210 2176487-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.01.2019
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Entscheidungsdatum

14.01.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9 Abs1
BFA-VG §9 Abs2
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W210 2176487-1/30E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Anke SEMBACHER über die Beschwerde des minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch XXXX , diese vertreten durch RA Dr. Christian SCHMAUS, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.10.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.04.2018 und 12.07.2018 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. wird als unbegründet abgewiesen.

II. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt II. wird als unbegründet abgewiesen.

III. Die Beschwerde gegen Spruchpunkt III. gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 wird abgewiesen.

IV. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. wird insoweit stattgegeben, als eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt und XXXX gemäß §§ 54, 55 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt wird.

V. Spruchpunkt IV. der angefochtenen Entscheidung wird ersatzlos behoben.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der minderjährige Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das Bundesgebiet ein und stellte am 14.11.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 16.11.2015 wurde der Beschwerdeführer im Beisein eines Rechtsberaters von einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu seinem Fluchtgrund und einer allfälligen Rückkehrgefährdung befragt. Hier gab er an, Afghanistan verlassen zu haben, weil seine Eltern den Entschluss dazu gefasst hätten. Sein Vater habe in Afghanistan als Programmierer für das Fernsehen gearbeitet. Eines Tages seien Taliban gekommen und hätten seinen Vater gezwungen, für sie zu arbeiten. Der Vater sei von den Taliban angehalten worden. Als der Vater freigekommen sei, habe sein dieser beschlossen, den Beschwerdeführer von Afghanistan wegzuschicken.

3. Aufgrund seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA, belangte Behörde) gehegter Zweifel an dem vom Beschwerdeführer angegebenen Alter wurde ein Handröntgen zur Bestimmung des Knochenalters des Beschwerdeführers durchgeführt.

4. Mit Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 27.07.2016 wurde de

XXXX die Obsorge für den Beschwerdeführer übertragen.

5. Am 11.07.2017 wurde Beschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht erhoben.

6. Am 20.09.2017 wurde der Beschwerdeführer sodann im Beisein des Rechtsvertreters und einer Vertrauensperson vor dem BFA niederschriftlich einvernommen und zu seinen Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen befragt. Hier gab er als Fluchtgrund an, dass er in Afghanistan nicht gewusst habe, warum er ausreisen müsse, seine Eltern hätten Angst gehabt, erst durch die Gespräche mit dem Onkel mütterlicherseits habe er die Ausreisegründe erfahren. So habe ihm dieser Onkel erzählt, dass sein Vater Chef von zwei Fernsehsendern gewesen sei und "staatliche Dinge" ausgestrahlt habe, weshalb sein Vater Drohbriefe von den Taliban erhalten habe und angegriffen worden sei. Er habe zwar gewusst, dass sein Vater diesen Job gehabt hätte, nicht aber, dass er Probleme gehabt hätte. Ein weiterer Fluchtgrund sei, dass sein Vater Grundstücksstreitigkeiten mit seinen Cousins gehabt habe. Zudem sei der Cousin des Beschwerdeführers im Jahr 2015 getötet worden, weil dieser ein Mitglied des Geheimdienstes gewesen sei. Der Beschwerdeführer wisse nicht mehr, nur das, was man ihm gesagt habe. Der Beschwerdeführer sei mit zwei Onkeln ausgereist. Den Onkel mütterlicherseits habe er an der türkisch-iranischen Grenze aus den Augen verloren, er sei dann mit seinem Onkel väterlicherseits weitergereist.

7. Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer nicht erteilt. Weiter wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Es wurde weiter festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers 28 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Begründend führte das BFA im Hinblick auf die Nichtgewährung des Status des Asylberechtigten im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer habe kein glaubhaftes Fluchtvorbringen erstattet. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer einer konkreten persönlichen asylrelevanten Bedrohung oder Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt gewesen sei oder eine solche zukünftig zu befürchten habe. Die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten begründete das BFA damit, dass es dem Beschwerdeführer zumutbar sei, in seinem Herkunftsstaat mit Hilfe seiner eigenen Arbeitsleistung und der Unterstützung seiner in Afghanistan lebenden Angehörigen den Lebensunterhalt zu sichern, sodass eine Verletzung des Art. 2 oder 3 EMRK nicht zu befürchten sei. Zur Rückkehrentscheidung führte das BFA aus, dass in Österreich zwar zwei Onkel des Beschwerdeführers aufhältig seien, sich seine Kernfamilie jedoch nicht im Bundesgebiet befinde. Der fortgeschrittenen Integration des Beschwerdeführers stehe zudem das Interesse der Öffentlichkeit an einem geordneten Vollzug des Fremdenwesens entgegen, sodass eine Rückkehrentscheidung zulässig sei. Aufgrund des jungen Alters des Beschwerdeführers gewährte das BFA eine Frist von 28 Tagen ab Rechtskraft des Bescheides für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers.

8. Mit Verfahrensanordnung vom 06.10.2017 wurde dem Beschwerdeführer amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

9. Mit Schreiben vom 06.11.2017 erhob der Beschwerdeführer, vertreten durch seinen gesetzlichen Vertreter, dieser vertreten durch seinen ausgewiesenen Rechtsvertreter, vollinhaltliche Beschwerde gegen den spruchgegenständlichen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts, der Verletzung von Verfahrensvorschriften, mangelhafter Beweiswürdigung, der Verletzung des Rechts auf Parteiengehör sowie wegen des Verstoßes gegen die Pflicht zur ordnungsgemäßen Bescheidbegründung. Im Wesentlichen wendet die Beschwerde ein, dass dem minderjährigen Beschwerdeführer in Afghanistan Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie drohe, da seiner Familie eine politische Gesinnung als regierungsnah und pro-westlich unterstellt werde. Überdies sei die Familie des Beschwerdeführers in eine Blutfehde verwickelt. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe nicht. Im Verfahren des minderjährigen Beschwerdeführers hätten zudem kinderspezifische Herkunftslandinformationen sowie die erhöhte Vulnerabilität Minderjähriger Beachtung finden müssen. Die Rückkehrentscheidung sei aufgrund der nachhaltigen Integration des Beschwerdeführers und seiner familiären Anknüpfungspunkte in Österreich unzulässig. Gemeinsam mit der Beschwerde wurden weitere Integrationsunterlagen des Beschwerdeführers vorgelegt.

10. Am 15.11.2017 legte das BFA die Beschwerde und die Akten des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor. Die belangte Behörde verzichtete auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht.

11. Am 09.02.2018 wurde dem Bundesverwaltungsgericht der Beschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 02.01.2018 zur Kenntnis gebracht, mit welchem der Onkel des Beschwerdeführers, XXXX , und dessen Lebensgefährtin, XXXX , gemeinsam mit der Obsorge für den Beschwerdeführer betraut wurden.

12. Mit Eingabe vom 20.03.2018 erfolgte eine ergänzende Stellungnahme samt Urkundenvorlage durch den Beschwerdeführer.

13. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 19.04.2018 in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari, der gesetzlichen Vertreter des Beschwerdeführers und des Beschwerdeführervertreters eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Beweggründen hinsichtlich der Ausreise aus Afghanistan und zu seinen Rückkehrbefürchtungen befragt wurde und die seine beiden Onkel XXXX als Zeugen einvernommen wurden.

Der Beschwerdeführervertreter legte ein Konvolut an Übersetzungen von Medienberichten, Fotos und einen Reisepass des Großvaters des Beschwerdeführers vor. Diese wurden als Beilagen ./1 bis ./3 zum Protokoll genommen. Das vorgelegte Konvolut an Integrationsunterlagen des Beschwerdeführers wurde als Beilage ./4 zum Protokoll genommen. Die vom Beschwerdeführervertreter vorgelegte Säumnisbeschwerde im gegenständlichen Verfahren der belangten Behörde, welche sich bis dato nicht im vorgelegten Akt befunden hat, wurde in Kopie als Beilage ./5 zum Protokoll vom 19.04.2018 (OZ8) zum Akt genommen.

14. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 19.04.2018 wurde der Beschwerdeführer, vertreten durch den ausgewiesenen Rechtsvertreter, zur Vorlage des positiven Bescheides des Unabhängigen Bundesasylsenates betreffend den Onkel des Beschwerdeführers, XXXX , aufgefordert.

15. Mit Schreiben vom 26.04.2018 teilte der Beschwerdeführer, vertreten durch seinen Rechtsvertreter, dem Bundesverwaltungsgericht mit, dass dem Auftrag zur Dokumentenvorlage nicht nachgekommen werden könne.

16. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 09.05.2018 wurde die Staatendokumentation ersucht, näher ausgeführte Fragen im Zusammenhang mit dem Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers mit Quellen unterlegt ehestmöglich zu beantworten.

17. Am 11.07.2018 langte die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation beim Bundesverwaltungsgericht ein.

18. Am 12.07.2018 führte das Bundesverwaltungsgericht eine (fortgesetzte) mündliche Beschwerdeverhandlung in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die Sprache Dari, der gesetzlichen Vertretung des Beschwerdeführers und seines Rechtsvertreters eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, im Zuge derer der Beschwerdeführer neuerlich befragt und der Onkel XXXX neuerlich als Zeuge einvernommen wurde.

Der Beschwerdeführervertreter legte diverse Integrationsunterlagen betreffend den Beschwerdeführer vor, diese wurden als Beilage ./1 zum Protokoll genommen. Weiters wurde das amtswegig beigeschaffte Protokoll im Verfahren des Onkels des Beschwerdeführers zu W233 2176880-1 als Beilage ./2 zum Protokoll genommen. Die Obsorgeberechtigte des Beschwerdeführers legte eine E-Mail-Korrespondenz zwischen ihr und einer Mitarbeiterin der deutschen Welthungerhilfe zum Beweis für das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers vor, diese wurde als Beilage ./3 zum Protokoll genommen.

Die erkennende Richterin brachte ein Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29.06.2018, UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender samt Anmerkungen vom Dezember 2016, UNHCR-Richtlinien zur Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz minderjähriger Antragsteller, die EASO-Country-Guidance zu Afghanistan vom Juni 2018 sowie den EASO-Bericht zu Netzwerken in Afghanistan vom Jänner 2018 in deutscher Übersetzung in das Verfahren ein. Die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation wurde dem Beschwerdeführervertreter in der mündlichen Verhandlung ausgehändigt.

Es wurde eine Frist von drei Wochen gewährt, um zu den eingebrachten Länderberichten sowie zur ausgehändigten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Stellung zu nehmen.

19. Mit Eingabe vom 02.08.2018 nahm der Beschwerdeführer unter gleichzeitiger Vorlage weiterer Dokumente zu den Länderberichten und der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Stellung.

20. Mit Eingabe vom 02.11.2018 erfolgte eine ergänzende Stellungnahme des Beschwerdeführers samt Urkundenvorlage.

21. Dem Beschwerdeführer wurde eine Aktualisierung betreffend die Sicherheitslage in Afghanistan durch die Staatendokumentation mit der Möglichkeit zu Stellungnahme zur Kenntnis gebracht. Ebenso wurde der belangten Behörde Gelegenheit gegeben, dazu Stellung zu nehmen. Der Beschwerdeführer machte von dieser Gelegenheit Gebrauch und brachte eine Stellungnahme ein, bis dato ist keine Stellungnahme von Seiten der belangten Behörde eingelangt.

22. Mit Schreiben vom 30.11.2018 wurde dem Beschwerdeführer und der belangten Behörde Gelegenheit gegeben, zum Judikat des VwGH vom 06.11.2018, Ra 2018/01/0106 Stellung zu nehmen und allenfalls weitere Beweismittel vorzulegen.

23. Mit Eingabe vom 27.12.2018 legte der Beschwerdeführer weitere Bestätigungen sowie Fotos zu seinem Schulbesuch, zu seinen sportlichen Aktivitäten sowie einen psychiatrischen Befund vor und machte Ausführungen zur Relevanz seines Fluchtvorbringens.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den zugrundeliegenden Verwaltungsakt der belangten Behörde, in die im Verfahren vorgelegten Dokumente und Integrationsunterlagen, durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 19.04.2018 und 12.07.2018, durch Einsicht in die darin ins Verfahren eingebrachten Berichte, so das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29.06.2018, Stand:

19.10.2018, UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender samt Anmerkungen vom Dezember 2016 sowie die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018, UNHCR-Richtlinien zur Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz minderjähriger Antragsteller, die EASO-Country-Guidance zu Afghanistan vom Juni 2018 sowie den EASO-Bericht zu Netzwerken in Afghanistan vom Jänner 2018 in deutscher Übersetzung sowie Anfragebeantwortung der Staatendokumentation (Oz 16), sowie durch Einsicht in den hiergerichtlichen Gerichtsakt betreffend den Beschwerdeführer, insbesondere die Stellungnahmen und die vorgelegten Unterlagen des Beschwerdeführers zu seinem Leben in Österreich, dem verfahrensgegenständlichen Fernsehsender und die in den Stellungnahmen zitierten Berichte, den hiergerichtlichen Gerichtsakt GZ W233 2176880-1 betreffend XXXX und den Gerichtsakt des Unabhängigen Bundesasylsenates GZ 221.984/0-II/39/01 betreffend XXXX

:

1. Feststellungen:

1.1.1. Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben in Österreich und in Afghanistan:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, der Volksgruppe der Paschtunen und der sunnitischen Glaubensgemeinschaft zugehörig. Er ist mündiger Minderjähriger. Die Identität des Beschwerdeführers steht nicht fest.

Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu. Seine gesprochene Sprache ist Dari.

Der Beschwerdeführer ist ledig und kinderlos.

Der Beschwerdeführer ist in der Provinz Balkh, in Mazar-e Sharif geboren und dort im Stadtteil Karte Aryana aufgewachsen, wo er gemeinsam mit seinen Eltern und seinen fünf jüngeren Geschwistern bis zur Ausreise aus Afghanistan lebte. Der Beschwerdeführer besuchte in seiner Heimatprovinz sechs Jahre die Schule. Er hat in Afghanistan weder eine Berufsausbildung noch Berufserfahrung. Der Beschwerdeführer hat keine aufrechten familiären Anknüpfungspunkte mehr in Afghanistan. Seine Eltern und Geschwister leben mittlerweile in Pakistan, es besteht sporadischer telefonischer Kontakt.

Der Beschwerdeführer verließ Afghanistan im Sommer 2015 als Minderjähriger und reiste gemeinsam mit zwei seiner Onkel illegal nach Europa. Einer der beiden Onkel, XXXX , reiste nach Deutschland ein, wo ihm der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde.

Der Beschwerdeführer hält sich seit November 2015 in Österreich auf und hat in Österreich Familienangehörige. In Österreich leben zwei Onkel des Beschwerdeführers:

Dem Onkel XXXX , einem leiblichen Bruder des Vaters des Beschwerdeführers, wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 10.09.2003 der Status des Asylberechtigten zuerkannt, er ist mittlerweile österreichischer Staatsbürger und war 2007, 2011 oder 2012 und 2015 wieder in Afghanistan.

Dem Onkel XXXX , einem Halbbruder des Vaters des Beschwerdeführers, wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25.07.2018, GZ W233 2176880-1/10E, der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Dieser Onkel hat denselben Vater wie der Vater des Beschwerdeführers, aber eine andere Mutter. Ihm wurde Asyl zuerkannt, da dieser glaubhaft vermittelt hatte, dass er im Falle seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seiner Mutter, die sich weigert den Bruder ihres verstorbenen Ehemanns zu heiraten, von diesem Onkel väterlicherseits aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt ist.

Der Beschwerdeführer lebt derzeit im gemeinsamen Haushalt mit seinem obsorgeberechtigten Onkel XXXX und dessen ebenfalls obsorgeberechtigter Lebensgefährtin XXXX in XXXX zusammen mit deren gemeinsamem Sohn. Er ist in Österreich gut integriert. Der Beschwerdeführer absolvierte mehrere Deutschkurse, zuletzt legte er die Prüfung auf dem Niveau B1 am 29.09.2017 und am 30.09.2017 ab, und verfügt über sehr gute Deutschkenntnisse. Der Beschwerdeführer besuchte bis zum Schuljahr 2017/18 eine Neue Mittelschule, in der er in den Hauptgegenständen nach dem AHS-Lehrplan ("vertiefte Allgemeinbildung") unterrichtet wurde. Zudem wurde er dort zum Klassensprecher gewählt. Seit dem Schuljahr 2018/19 ist er Schüler einer fünfjährigen Höheren Bundeslehranstalt für Mode und künstlerische Gestaltung. In seiner Freizeit spielt der Beschwerdeführer Gitarre und trifft sich mit seinen Schulfreunden. Der Beschwerdeführer ist Mitglied in einem Fußballverein und hat Unterstützungsschreiben von zahlreichen Personen vorgelegt.

Der Beschwerdeführer ist gesund. Er ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.1.2. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

1.1.2.1. Zum Vorbringen der Verfolgung wegen der Tätigkeit des Vaters bei einem Fernsehsender:

Der Vater des Beschwerdeführers gründete zusammen mit seinem Cousin XXXX die Fernsehstation XXXX mit zumindest einem Büro in Sheberghan, Provinz Jawzjan, und einem Büro in Mazar-e Sharif. Diese Fernsehstation diente unter anderem der Ausstrahlung staatlicher bzw. regierungsnaher Programme über diese Fernsehstation, weiters wurde und wird - auch ausländisches - Kabelfernsehen angeboten. Ein eigenes Programm gestaltete der Sender nicht.

Nach der Ausstrahlung eines Beachvolleyballspieles mit weiblichen Spielerinnen in Bikinis auf EUROSPORT kam es zu telefonischen Drohanrufen in Jawzjan und einem Drohbrief, um Einfluss auf die Auswahl der ausgestrahlten Sender in Jawzjan zu nehmen. Es gab keine Drohung gegen das Büro in Mazar-e Sharif.

Ein Angriff der Taliban auf den Vater und dessen Mitnahme durch die Taliban aufgrund seiner Tätigkeit konnte im Verfahren nicht festgestellt werden. Es konnte nicht festgestellt werden, dass am 24.08.2015 ein Anschlag mittels Autobombe auf den Fernsehsender verübt wurde. Es gab seit 2015 keine weiteren Vorfälle mit den Taliban.

Die Fernsehstation wird weiterhin betrieben. Der Onkel des Beschwerdeführers, XXXX , veranlasst telefonisch, dass seine Familie, das sind seine Frau, seine Kinder und ein Bruder, in Afghanistan regelmäßig Geld von seinen Mitarbeitern bekommt.

Der Beschwerdeführer war aufgrund der Tätigkeit seines Vaters in seinem Herkunftsstaat niemals einer konkret gegen seine Person gerichteten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt und es droht ihm eine solche aufgrund der Tätigkeit seines Vaters auch im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan nicht.

1.1.2.2. Zum Vorbringen der Verfolgung nach der Ermordung eines Cousins in Verbindung mit dessen beruflicher Tätigkeit:

Der verstorbene Cousin XXXX hieß mit vollem Namen XXXX , Sohn des XXXX . Er wurde im Sommer 2015 getötet. Danach schickte der Vater des Beschwerdeführers diesen ins Ausland. Es konnte nicht festgestellt werden, weshalb der Cousin getötet wurde und welcher Beschäftigung er nachging. Bei der Person in den Medienberichten handelt es sich um Samiullah Anosh, einer anderen Person als dem Cousin des Beschwerdeführers.

1.1.2.3. Zum Vorbringen der Verfolgung durch Private aufgrund einer Blutfehde:

Der Beschwerdeführer war nicht aufgrund einer Familienfehde einer gegen seine Person gerichteten Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt und ihm droht im Falle seiner Rückkehr eine solche nicht.

1.1.2.4. Zum Vorbringen der Verfolgung als "verwestlichter Rückkehrer":

Es steht nicht fest, dass dem Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan aufgrund seines Aufenthaltes in Europa eine konkrete persönliche Verfolgung droht.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

1.2.1. Neueste Ereignisse

Kurzinformation vom 19.10.2018:

Allgemeine Sicherheitslage und sicherheitsrelevante Vorfälle

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt volatil (UNGASC 10.9.2018). Am 19.8.2018 kündigte der afghanische Präsident Ashraf Ghani einen dreimonatigen Waffenstillstand mit den Taliban vom 20.8.2018 bis 19.11.2018 an, der von diesen jedoch nicht angenommen wurde (UNGASC 10.9.2018; vgl. Tolonews 19.8.2018, TG 19.8.2018, AJ 19.8.2018). Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum (15.5.2018 - 15.8.2018) 5.800 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einen Rückgang von 10% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutet. Bewaffnete Zusammenstöße gingen um 14% zurück, machten aber weiterhin den Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle (61%) aus. Selbstmordanschläge nahmen um 38% zu, Luftangriffe durch die afghanische Luftwaffe (AAF) sowie internationale Kräfte stiegen um 46%. Die am stärksten betroffenen Regionen waren der Süden, der Osten und der Süd-Osten, wo insgesamt 67% der Vorfälle stattfanden. Es gibt weiterhin Bedenken bezüglich sich verschlechternder Sicherheitsbedingungen im Norden des Landes:

Eine große Zahl von Kampfhandlungen am Boden wurde in den Provinzen Balkh, Faryab und Jawzjan registriert, und Vorfälle entlang der Ring Road beeinträchtigten die Bewegungsfreiheit zwischen den Hauptstädten der drei Provinzen (UNGASC 10.9.2018).

Zum ersten Mal seit 2016 wurden wieder Provinzhauptstädte von den Taliban angegriffen: Farah- Stadt im Mai, Ghazni-Stadt im August und Sar-e Pul im September (UNGASC 10.9.2018; vgl. Kapitel 1., KI 11.9.2018, SIGAR 30.7.2018, UNGASC 6.6.2018). Bei den Angriffen kam es zu heftigen Kämpfen, aber die afghanischen Sicherheitskräfte konnten u.a. durch Unterstützung der internationalen Kräfte die Oberhand gewinnen (UNGASC 10.9.2018; vgl. UNGASC 6.6.2018, GT 12.9.2018). Auch verübten die Taliban Angriffe in den Provinzen Baghlan, Logar und Zabul (UNGASC 10.9.2018). Im Laufe verschiedener Kampfoperationen wurden sowohl Taliban- als auch ISKP-Kämpfer (ISKP, Islamic State Khorasan Province, Anm.) getötet (SIGAR 30.7.2018).

Sowohl die Aufständischen als auch die afghanischen Sicherheitskräfte verzeichneten hohe Verluste, wobei die Zahl der Opfer auf Seite der ANDSF im August und September 2018 deutlich gestiegen ist (Tolonews 23.9.2018; vgl. NYT 21.9.2018, ANSA 13.8.2018, CBS 14.8.2018).

Trotzdem gab es bei der Kontrolle des Territoriums durch Regierung oder Taliban keine signifikante Veränderung (UNGASC 10.9.2018; vgl. UNGASC 6.6.2018). Die Regierung kontrollierte - laut Angaben der Resolute Support (RS) Mission - mit Stand 15.5.2018 56,3% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 (57%) bedeutet. 30% der Distrikte waren umkämpft und 14% befanden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 67% der Bevölkerung lebten in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befanden, 12% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 23% lebten in umkämpften Gebieten (SIGAR 30.7.2018).

Der Islamische Staat - Provinz Khorasan (ISKP) ist weiterhin in den Provinzen Nangarhar, Kunar und Jawzjan aktiv (USGASC 6.6.2018; vgl. UNGASC 10.9.2018). Auch war die terroristische Gruppierung im August und im September für öffentlichkeitswirksame Angriffe auf die schiitische Glaubensgemeinschaft in Kabul und Paktia verantwortlich (UNGASC 10.9.2018; vgl. KI vom 11.9.2018, KI vom 22.8.2018). Anfang August besiegten die Taliban den in den Distrikten Qush Tepa und Darzab (Provinz Jawzjan) aktiven "selbsternannten" ISKP (dessen Verbindung mit dem ISKP in Nangarhar nicht bewiesen sein soll) und wurden zur dominanten Macht in diesen beiden Distrikten (AAN 4.8.2018; vgl. UNGASC 10.9.2018).

Global Incident Map zufolge wurden im Berichtszeitraum (1.5.2018 - 30.9.2018) 1.969 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert.

Zivile Opfer

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im Berichtszeitraum (1.1.2018 - 30.6.2018) 5.122 zivile Opfer (1.692 Tote und 3.430 Verletzte), ein Rückgang von 3% gegenüber dem Vorjahreswert. 45% der zivilen Opfer wurden durch IED [Improvisierte Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen, aber auch Selbstmordanschläge, Anm.] regierungsfeindlicher Gruppierungen verursacht. Zusammenstöße am Boden, gezielte Tötungen, Luftangriffe und explosive Kampfmittelrückstände waren weitere Ursachen für zivile Opfer. Zivilisten in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Faryab, Helmand und Kandahar waren am stärksten betroffen. Wobei die Zahl der durch Zusammenstöße am Boden verursachten zivilen Opfer um 18% und die Zahl der gezielten Tötungen deutlich zurückging. Jedoch ist die Opferzahl bei komplexen und Selbstmordangriffen durch regierungsfeindliche Gruppierungen gestiegen (um 22% verglichen mit 2017), wobei 52% der Opfer dem ISKP, 40% den Taliban und der Rest anderen regierungsfeindlichen Gruppierungen zuzuschreiben ist (UNAMA 15.7.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen waren im UNAMA-Berichtszeitraum (1.1.2018 - 30.6.2018) für 3.413 (1.127 Tote und 2.286 Verletzte) zivile Opfer verantwortlich (67%): 42% der Opfer wurden den Taliban, 18% dem IS und 7% undefinierten regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben. Im Vergleich mit dem ersten Halbjahr 2017 stieg die Anzahl ziviler Opfer von gezielten Angriffen auf Zivilisten um 28%, was hauptsächlich auf Angriffe auf die öffentliche Verwaltung und Vorfälle mit Bezug auf die Wahlen zurückzuführen ist (UNAMA 15.7.2018).

Ungefähr 1.047 (20%) der verzeichneten zivilen Opfer wurden regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben: 17% wurden von den afghanischen Sicherheitskräften, 2% durch die internationalen Streitkräfte und 1% von regierungsfreundlichen bewaffneten Gruppierungen verursacht. Gegenüber 2017 sank die den regierungstreuen Gruppen zugerechnete Zahl ziviler Opfer von Zusammenstößen am Boden um 21%. Gleichzeitig kam es jedoch zu einem Anstieg der Opfer von Luftangriffen um 52% (Kunduz, Kapisa und Maidan Wardak) (UNAMA 15.7.2018; vgl. UNAMA 25.9.2018a, UNAMA 25.9.2018b).

Auch wurden von UNAMA zivile Opfer durch Fahndungsaktionen, hauptsächlich durch die Spezialkräfte des National Directorate of Security (NDS) und regierungsfreundliche bewaffnete Gruppierungen wie die Khost Protection Force (KPF) verzeichnet (UNAMA 15.7.2018).

Dennoch unternahm die afghanische Regierung weiterhin Anstrengungen zur Reduzierung der Zahl ziviler Opfer, was hauptsächlich während Bodenoperationen einen diesbezüglichen Rückgang zur Folge hatte. Die Regierung verfolgt eine "nationale Politik für zivile Schadensminimierung und - prävention" und das Protokol V der "Konvention über bestimmte konventionelle Waffen in Bezug auf explosive Kriegsmunitionsrückstände", welche am 9.2.2018 in Kraft getreten ist. Bei Bodenoperationen regierungfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich Taliban) wurde ein Rückgang der zivilen Opfer um 23% im Vergleich zu 2017 verzeichnet. So sank etwa die Zahl der zivilen Opfer der hauptsächlich von den Taliban eingesetzten Druckplatten-IEDs um 43% (UNAMA 15.7.2018).

Wahlen

Zwischen 14.04.2018 und 27.7.2018 fand die Wählerregistrierung für die Parlaments- sowie Distriktwahlen statt. Offiziellen Angaben zufolge haben sich im genannten Zeitraum 9,5 Millionen Wähler registriert, davon 34% Frauen (UNGASC 10.9.2018). Die Registrierung der Kandidaten für die Parlaments- sowie Distriktwahlen endete am 12.6.2018 bzw. 14.6.2018 und die Kandidatenliste für die Parlamentswahlen wurde am 2.7.2018 veröffentlicht (UNGASC 10.9.2018). Am 25.9.2018 wurde vom Sprecher der Independent Electoral Commission (IEC) verkündet, dass die landesweiten Distriktwahlen sowie die Parlamentswahlen in der Provinz Ghazni am 20.10.2018 nicht stattfinden werden (im Rest des Landes hingegen schon). Begründet wurde dies mit der niedrigen Anzahl registrierter Kandidaten für die Distriktwahlen (nur in 40 von 387 Distrikten wurden Kandidaten gestellt) sowie mit der "ernst zu nehmenden Sicherheitslage und anderen Problematiken". Damit wurden beide Wahlen (Distriktwahlen landesweit und Parlamentswahlen in Ghazni) de facto für 2018 abgesagt. Obwohl noch nicht feststeht, wann diese nachgeholt werden sollen, ist der 20.4.2019, an dem u.a. die Präsidentschafts- sowie Provinzwahlen stattfinden sollen, als neuer Termin wahrscheinlich (AAN 26.9.2018). Die Registrierung der Kandidaten für die Präsidentschaftswahl ist für den Zeitraum 11.11.2018 - 25.11.2018 vorgesehen; die vorläufige Kandidatenliste soll am 10.12.2018 bereitstehen, während die endgültige Aufstellung am 16.1.2019 veröffentlicht werden soll (AAN 9.10.2018). Ohne die Provinz Ghazni sank die Zahl der registrierten Wähler mit Stand Oktober 2018 auf ungefähr 8.8 Milionen (AAN 9.10.2018; vgl. IEC o. D.). Die Verkündung der ersten Wahlergebnisse für die Parlamentswahlen (ohne Provinz Ghazni) ist für den 10.11.2018 vorgesehen, während das Endergebnis voraussichtlich am 20.12.2018 veröffentlicht werden soll (AAN 9.10.2018).

Im April und Oktober 2018 erklärten die Taliban in zwei Stellungnahmen, dass sie die Wahl boykottieren würden (AAN 9.10.2018). Angriffe auf mit der Ausstellung von Tazkiras sowie mit der Wahlregistrierung betraute Behörden wurden berichtet. Sowohl am Wahlprozess beteiligtes Personal als auch Kandidaten und deren Unterstützer wurden von regierungsfeindlichen Gruppierungen angegriffen. Zwischen 1.1.2018 und 30.6.2018 wurden 341 zivile Opfer (117 Tote und 224 Verletzte) mit Bezug auf die Wahlen verzeichet, wobei mehr als 250 dieser Opfer den Anschlägen Ende April und Anfang Mai in Kabul und Khost zuzuschreiben sind. Auch wurden während des Wahlregistrierungsprozesses vermehrt Schulen, in denen Zentren zur Wahlregistrierung eingerichtet worden waren, angegriffen (39 Angriffe zwischen April und Juni 2018), was negative Auswirkungen auf die Bildungsmöglichkeiten von Kindern hatte (UNAMA 15.7.2018). Seit dem Beginn der Wählerregistrierung Mitte April 2018 wurden neun Kandidaten ermordet (AAN 9.10.2018).

Von den insgesamt 7.366 Wahllokalen werden aus Sicherheitsgründen letztendlich am Tag der Wahl 5.100 geöffnet sein (AAN 9.10.2018; vgl. UNAMA 17.9.2018, Tolonews 29.9.2018). Diese sollen während der fünf Tage vor der Wahl von 54.776 Mitgliedern der Afghan National Security Forces (ANSF) bewacht werden; 9.540 weitere stehen als Reserven zur Verfügung (Tolonews 29.9.2018; vgl. AAN 9.10.2018).

Kurzinformation vom 11.09.2018:

Am 11.9.2018 kamen nach einem Selbstmordanschlag während einer Demonstration im Distrikt Mohamad Dara der Provinz Nangarhar mindestens acht Menschen ums Leben und weitere 35 wurden verletzt (Tolonews 11.9.2018; vgl. TWP 11.9.2018, RFE/RL 11.9.2018). Kurz zuvor wurde am Vormittag des 11.9.2018 ein Anschlag mit zwei Bomben vor der Mädchenschule "Malika Omaira" in Jalalabad verübt, bei dem ein Schüler einer nahegelegenen Jungenschule ums Leben kam und weitere vier Schüler verletzt wurden, statt (RFE/RL 11.9.2018; AFP 11.9.2018). Davor gab es vor der Mädchenschule "Biba Hawa" im naheligenden Distrikt Behsud eine weitere Explosion, die keine Opfer forderte, weil die Schülerinnen noch nicht zum Unterricht erschienen waren (AFP 11.9.2018).

Weder die Taliban noch der IS/ISKP bekannten sich zu den Anschlägen, obwohl beide Gruppierungen in der Provinz Nangarhar aktiv sind (AFP 11.9.2018; vgl. RFE/RL 11.9.2018, TWP 11.9.2018).

Am Montag, dem 10.9.2018, eroberten die Taliban die Hauptstadt des Kham Aab Distrikts in der Provinz Jawzjan nachdem es zu schweren Zusammenstößen zwischen den Taliban und den afghanischen Sicherheitskräften gekommen war (Tolonews 10.9.2018a; Tolonews 10.9.2018b). Sowohl die afghanischen Streitkräfte als auch die Taliban erlitten Verluste (Khaama Press 10.9.2018a).

Am Sonntag, dem 9.9.2018, starteten die Taliban eine Offensive zur Eroberung der Hauptstadt der Provinz Sar-i Pul, wo nach wie vor u.a. mit Einsatz der Luftwaffe gekämpft wird (Tolonews 10.9.2018b; vgl. FAZ 10.9.2018). Quellen zufolge haben die Taliban das Gebiet Balghali im Zentrum der Provinzhauptstadt eingenommen und unter ihre Kontrolle gebracht (FAZ 10.9.2018). Sar-i-Pul-Stadt gehört zu den zehn Provinzhauptstädten, die Quellen zufolge das höchste Risiko tragen, von den Taliban eingenommen zu werden. Dazu zählen auch Farah-Stadt, Faizabad in Badakhshan, Ghazni-Stadt, Tarinkot in Uruzgan, Kunduz-Stadt, Maimana in Faryab und Pul-i- Khumri in Baghlan (LWJ 10.9.2018; vgl. LWJ 30.8.2018). Weiteren Quellen zufolge sind auch die Städte Lashkar Gar in Helmand und Gardez in Paktia von einer Kontrollübernahme durch die Taliban bedroht (LWJ 10.9.2018).

Bei einem Selbstmordanschlag im Kabuler Stadtteil Taimani kamen am 9.9.2018 mindestens sieben Menschen ums Leben und ungefähr 24 weitere wurden verletzt. Der Anschlag, zu dem sich der Islamische Staat (IS/ISKP) bekannte, fand während eines Festzugs zu Ehren des verstorbenen Mudschahedin-Kämpfers Ahmad Shah Massoud statt (AJ 10.9.2018; vgl. Khaama Press 10.9.2018b).

Am Mittwoch, dem 5.9.2018, kamen bei einem Doppelanschlag auf einen Wrestling-Klub im Kabuler Distrikt Dasht-e Barchi mindestens 20 Personen ums Leben und ungefähr 70 weitere wurden verletzt (AJ 6.9.2018; vgl. CNN 6.9.2018, TG 5.9.2018). Zuerst sprengte sich innerhalb des Sportvereins ein Attentäter in die Luft, kurz darauf explodierte eine Autobombe in der sich vor dem Klub versammelnden Menge (SO 5.9.2018) Der Islamische Staat (IS/ISKP) bekannte sich zum Anschlag (RFE/RL 5.9.2018).

Kurzinformation vom 22.08.2018:

Am 20.8.2018 entführten die Taliban 170 Passagiere dreier Busse, die über die Takhar-Kunduz- Autobahn auf der Reise nach Kabul waren (Tolonews 20.8.2018; vgl. IFQ 20.8.2018). Quellen zufolge wurden die Entführten in das Dorf Nikpe der Provinz Kunduz gebracht, wo es zu Kämpfen zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Aufständischen kam. Es wurden insgesamt 149 Personen freigelassen, während sich die restlichen 21 weiterhin in der Gewalt der Taliban befinden (IFQ 20.8.2018). Grund für die Entführung war die Suche nach Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte bzw. Beamten (IFQ 20.8.2018; vgl. BBC 20.8.2018). Die Entführung erfolgte nach dem von Präsident Ashraf Ghani angekündigten Waffenstillstand, der vom 20.8.2018 bis 19.11.2018 gehen sollte und jedoch von den Taliban zurückgewiesen wurde (Reuters 20.8.2018; vgl. Tolonews 19.8.2018).

Ein Selbstmordattentäter sprengte sich am Nachmittag des 15.8.2018 in einem privaten Bildungszentrum im Kabuler Distrikt Dasht-e Barchi, dessen Bewohner mehrheitlich Schiiten sind, in die Luft (NZZ 16.8.2018; vgl. BBC 15.8.2018, Repubblica 15.8.2018). Die Detonation hatte 34 Tote und 56 Verletzte zur Folge (Reuters 16.8.2018a; vgl. NZZ 16.8.2018, Repubblica 15.8.2018). Die Mehrheit der Opfer waren Studentinnen und Studenten, die sich an der Mawoud Akademie für die Universitätsaufnahmeprüfungen vorbereiteten (Reuters 16.8.2018b; vgl. RFE/RL 17.8.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Vorfall (RFE/RL 17.8.2018; vgl. Reuters 16.8.2018b).

Am Donnerstag, dem 9.8.2018, starteten die Taliban eine Offensive zur Eroberung der Hauptstadt Ghaznis, einer strategisch bedeutenden Provinz, die sich auf der Achse Kabul-Kandahar befindet (Repubblica 13.8.2018; vgl. ANSA 13.8.2018, CBS 14.8.2018). Nach fünftägigen Zusammenstößen zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Aufständischen konnten letztere zurückgedrängt werden (AB 15.8.2018; vgl. Xinhua 15.8.2018). Während der Kämpfe kamen ca. 100 Mitglieder der Sicherheitskräfte ums Leben und eine unbekannte Anzahl Zivilisten und Taliban (DS 13.8.2018; vgl. ANSA 13.8.2018).

Am 15.8.2018 verübten die Taliban einen Angriff auf einen Militärposten in der nördlichen Provinz Baghlan, wobei ca. 40 Sicherheitskräfte getötet wurden (AJ 15.8.2018; vgl. Repubblica 15.8.2018, BZ 15.8.2018).

Auch im Distrikt Ghormach der Provinz Faryab wurde gekämpft: Die Taliban griffen zwischen 12.8.2018 und 13.8.2018 einen Stützpunkt des afghanischen Militärs, bekannt als Camp Chinaya, an und töteten ca. 17 Mitglieder der Sicherheitskräfte (ANSA 14.8.2018; vgl. CBS 14.8.2018, Tolonews 12.8.2018). Quellen zufolge kapitulierten die Sicherheitskräfte nach dreitägigen Kämpfen und ergaben sich den Aufständischen (CBS 14.8.2018; vgl. ANSA 14.8.2018).

Am Freitag, dem 3.8.2018, kamen bei einem Selbstmordanschlag innerhalb der schiitischen Moschee Khawaja Hassan in Gardez-Stadt in der Provinz Paktia, 39 Personen ums Leben und weitere 80 wurden verletzt (SI 4.8.2018; vgl. Reuters 3.8.2018, FAZ 3.8.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Anschlag (SI 4.8.2018).

Am Sonntag, dem 22.7.2018, fand ein Selbstmordanschlag vor dem Haupteingangstor des Kabuler Flughafens statt. Der Attentäter sprengte sich in die Luft, kurz nachdem der afghanische Vizepräsident Rashid Dostum von einem einjährigen Aufenthalt in der Türkei nach Afghanistan zurückgekehrt und mit seinem Konvoi vom Flughafen abgefahren war (AJ 23.7.2018; vgl. Reuters 23.7.2018). Es kamen ca. 23 Personen ums Leben und 107 wurden verletzt (ZO 15.8.2018; vgl. France24). Der Islamische Staat (IS) reklamierte den Anschlag für sich (AJ 23.7.2018; vgl. Reuters 23.7.2018).

1.2.2. Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.9.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.9.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.2.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z. T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).

Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).

1.2.3. Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).

Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.2.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 9.3.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevanter Vorfälle registriert (UNGASC 15.3.2016).

Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.8.2017).

Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.2.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.2.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.2.2018).

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).

Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).

Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.2.2018, NZZ 21.3.2018, UNGASC 27.2.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.3.2018).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.2.2018; vgl. Slate 22.4.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.3.2018);

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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