TE Vfgh Erkenntnis 2018/9/25 G414/2017

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Veröffentlicht am 25.09.2018
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Index

41/01 Sicherheitsrecht

Norm

B-VG Art140 Abs1 Z1 lita
SicherheitspolizeiG §38a Abs6

Leitsatz

Keine Verletzung des Sachlichkeitsgebotes und des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch eine Bestimmung des SicherheitspolizeiG betreffend die Aufhebung eines Betretungsverbots; Überprüfung der Voraussetzung und Verhältnismäßigkeit durch die zuständige Sicherheitsbehörde gegeben

Spruch

Der Antrag wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.       Antrag

Mit dem vorliegenden, auf Art140 Abs1 Z1 lita B-VG gestützten Antrag begehrt das Verwaltungsgericht Wien, §38a Abs6 zweiter Satz des Bundesgesetzes über die Organisation der Sicherheitsverwaltung und die Ausübung der Sicherheitspolizei (Sicherheitspolizeigesetz – SPG), BGBl 566/1991, idF BGBl I 152/2013, in eventu §38a Abs6 zweiter und dritter Satz SPG, BGBl 566/1991, idF BGBl I 152/2013 als verfassungswidrig aufzuheben.

II.      Rechtslage

1.        §38a des Bundesgesetzes über die Organisation der Sicherheitsverwaltung und die Ausübung der Sicherheitspolizei (Sicherheitspolizeigesetz – SPG), BGBl 566/1991, idF BGBl I 61/2016 lautet:

"Betretungsverbot und Wegweisung zum Schutz vor Gewalt

§38a. (1) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, einem Menschen, von dem auf Grund bestimmter Tatsachen, insbesondere wegen eines vorangegangenen gefährlichen Angriffs, anzunehmen ist, dass er einen gefährlichen Angriff auf Leben, Gesundheit oder Freiheit begehen werde (Gefährder),

1. das Betreten einer Wohnung, in der ein Gefährdeter wohnt, und deren unmittelbarer Umgebung oder

2. sofern es sich bei dem Gefährdeten um einen unmündigen Minderjährigen handelt, das Betreten

a) einer vom gefährdeten Unmündigen zur Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht im Sinne des Schulpflichtgesetzes 1985, BGBl Nr 76/1985, besuchten Schule oder

b) einer von ihm besuchten institutionellen Kinderbetreuungseinrichtung oder

c) eines von ihm besuchten Horts

samt eines Bereichs im Umkreis von fünfzig Metern,

zu untersagen.

(2) Bei Anordnung eines Betretungsverbotes haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes

1. dem Gefährder den räumlichen Bereich, auf den sich das Betretungsverbot bezieht, zur Kenntnis zu bringen, wobei der Geltungsbereich des Betretungsverbotes nach Abs1 Z1 nach Maßgabe der Erfordernisse eines wirkungsvollen vorbeugenden Schutzes zu bestimmen ist,

2. ihn, im Falle einer Weigerung, den vom Betretungsverbot nach Abs1 umfassten Bereich zu verlassen, wegzuweisen,

3. dem Gefährder alle in seiner Gewahrsame befindlichen Schlüssel zur Wohnung gemäß Abs1 Z1 abzunehmen,

4. ihm Gelegenheit zu geben, dringend benötigte Gegenstände des persönlichen Bedarfs mitzunehmen und sich darüber zu informieren, welche Möglichkeiten er hat, unterzukommen.

Bei einem Verbot, in die eigene Wohnung zurückzukehren, ist besonders darauf Bedacht zu nehmen, dass dieser Eingriff in das Privatleben des Betroffenen die Verhältnismäßigkeit (§29) wahrt. Sofern sich die Notwendigkeit ergibt, dass der Betroffene die Wohnung oder eine Einrichtung nach Abs1 Z2, deren Betreten ihm untersagt ist, aufsucht, darf er dies nur in Gegenwart eines Organs des öffentlichen Sicherheitsdienstes tun.

(3) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind verpflichtet, vom Gefährder die Bekanntgabe einer Abgabestelle für Zwecke der Zustellung der Aufhebung des Betretungsverbotes, der Ladung zu einer präventiven Rechtsaufklärung (Abs6a) oder einer einstweiligen Verfügung nach §§382b und 382e EO zu verlangen. Unterlässt er dies, kann die Zustellung solcher Schriftstücke so lange durch Hinterlegung ohne vorausgehenden Zustellversuch erfolgen, bis eine Bekanntgabe erfolgt; darauf ist der Gefährder hinzuweisen.

(4) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind weiters verpflichtet,

1. den Gefährdeten von der Möglichkeit einer einstweiligen Verfügung nach §§382b und 382e EO und von geeigneten Opferschutzeinrichtungen (§25 Abs3) und

2. sofern Unmündige gefährdet sind, unverzüglich

a. den örtlich zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger gemäß §37 Bundes-Kinder- und Jugendhilfegesetz 2013 (B-KJHG 2013), BGBl I Nr 69, und

b. den Leiter einer Einrichtung gemäß Abs1 Z2 für die das Betretungsverbot verhängt wurde

zu informieren.

(5) Bei der Dokumentation der Anordnung eines Betretungsverbotes ist nicht bloß auf die für das Einschreiten maßgeblichen Umstände, sondern auch auf jene Bedacht zu nehmen, die für ein Verfahren nach §§382b und 382e EO oder für eine Gefährdungsabklärung im Sinne des §22 B-KJHG 2013 durch den zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger von Bedeutung sein können.

(6) Die Anordnung eines Betretungsverbotes ist der Sicherheitsbehörde unverzüglich bekanntzugeben und von dieser binnen 48 Stunden zu überprüfen. Stellt die Sicherheitsbehörde fest, dass das Betretungsverbot nicht hätte angeordnet werden dürfen, so hat sie dieses dem Gefährder gegenüber unverzüglich aufzuheben; der Gefährdete ist unverzüglich darüber zu informieren, dass das Betretungsverbot aufgehoben werde; die Aufhebung des Betretungsverbotes sowie die Information des Gefährdeten haben nach Möglichkeit mündlich oder schriftlich durch persönliche Übergabe zu erfolgen. Die nach Abs2 abgenommenen Schlüssel sind mit Aufhebung des Betretungsverbotes dem Gefährder auszufolgen, im Falle eines Antrages auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach §§382b und 382e EO beim ordentlichen Gericht zu erlegen.

(6a) Ist das Betretungsverbot nach Abs6 nicht aufzuheben, so kann der Gefährder von der Sicherheitsbehörde während eines aufrechten Betretungsverbots (Abs8) vorgeladen werden, um über rechtskonformes Verhalten nachweislich belehrt zu werden, wenn dies wegen der Persönlichkeit des Gefährders oder der Umstände beim Einschreiten erforderlich erscheint (präventive Rechtsaufklärung). §19 AVG gilt.

(7) Soweit ein Betretungsverbot nach Abs1 Z2 gemeinsam mit einem Betretungsverbot nach Abs1 Z1 verhängt wird, kann ersteres auch für den örtlichen Wirkungsbereich einer anderen Sicherheitsbehörde (§§8 und 9) angeordnet werden; diese ist unverzüglich zu verständigen. Der über die Überprüfung des Betretungsverbotes (Abs6) hinausgehende Vollzug obliegt der jeweils örtlich zuständigen Sicherheitsbehörde.

(8) Die Einhaltung eines Betretungsverbotes ist zumindest einmal während der ersten drei Tage seiner Geltung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zu überprüfen. Das Betretungsverbot endet zwei Wochen nach seiner Anordnung. Wird die Sicherheitsbehörde binnen dieser Frist vom ordentlichen Gericht über die Einbringung eines Antrages auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach §§382b und 382e EO informiert, so verlängert sich das Betretungsverbot bis zum Zeitpunkt der Zustellung der Entscheidung des ordentlichen Gerichts an den Antragsgegner, längstens jedoch auf vier Wochen ab Anordnung. Im Falle einer Zurückziehung des Antrages endet das Betretungsverbot zwei Wochen nach seiner Anordnung, bei Zurückziehung des Antrags nach Eintritt der Verlängerung des Betretungsverbotes, sobald die Sicherheitsbehörde von der Zurückziehung durch Mitteilung des ordentlichen Gerichts Kenntnis erlangt.

(9) Das ordentliche Gericht hat die örtlich zuständige Sicherheitsbehörde von der Einbringung eines Antrages auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach §§382b und 382e EO und dessen Umfang sowie von einer allfälligen Zurückziehung unverzüglich in Kenntnis zu setzen."

2.       §38a des Bundesgesetzes über die Organisation der Sicherheitsverwaltung und die Ausübung der Sicherheitspolizei (Sicherheitspolizeigesetz – SPG), BGBl 566/1991, idF BGBl I 152/2013, lautet auszugsweise (die angefochtenen bzw in eventu angefochtenen (Teil-)Bestimmungen sind hervorgehoben):

"Betretungsverbot und Wegweisung zum Schutz vor Gewalt

§38a. (1) – (5) […]

(6) Die Anordnung eines Betretungsverbotes ist der Sicherheitsbehörde unverzüglich bekanntzugeben und von dieser binnen 48 Stunden zu überprüfen. Stellt die Sicherheitsbehörde fest, dass das Betretungsverbot nicht hätte angeordnet werden dürfen, so hat sie dieses dem Gefährder gegenüber unverzüglich aufzuheben; der Gefährdete ist unverzüglich darüber zu informieren, dass das Betretungsverbot aufgehoben werde; die Aufhebung des Betretungsverbotes sowie die Information des Gefährdeten haben nach Möglichkeit mündlich oder schriftlich durch persönliche Übergabe zu erfolgen. Die nach Abs2 abgenommenen Schlüssel sind mit Aufhebung des Betretungsverbotes dem Gefährder auszufolgen, im Falle eines Antrages auf Erlassung einer einstweiligen Verfügung nach §§382b und 382e EO bei Gericht zu erlegen.

(7) – (9) […]"

III.    Antragsvorbringen und Vorverfahren

1.       Beim Verwaltungsgericht Wien ist eine Beschwerde anhängig, die sich gegen die Verhängung von Betretungsverboten gemäß §38a SPG durch Organe der Landespolizeidirektion Wien richtet. In diesem Verfahren sind beim antragstellenden Gericht Bedenken ob der Verfassungskonformität des §38a Abs6 zweiter Satz SPG entstanden.

2.       Das Verwaltungsgericht Wien legt die Bedenken, die es zur Antragstellung beim Verfassungsgerichtshof bestimmt haben, auszugsweise wie folgt dar (ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"Zur alten Rechtslage war der damalige UVS Wien in mehreren Entscheidungen davon ausgegangen, dass an die Verhängung einer Wegweisung oder eines Betretungsverbots durch einschreitende Organe und an ihre Bestätigung gemäß §38a Abs6 aF SPG durch die Behörde unterschiedliche Maßstäbe anzulegen seien: zum einen seien bei der Behörde juristische Kenntnisse vorauszusetzen, die von Organen der Sicherheitsexekutive nicht in vollem Umfang erwartet werden können; zum anderen biete die Frist von 48 Stunden der Behörde Gelegenheit, entscheidende Beweismittel ergänzend heranzuziehen, welche den einschreitenden Organen aufgrund des Handlungsdrucks nicht mehr rechtzeitig zur Verfügung gestanden waren.

[…] In derartigen Fällen hat der UVS Wien die Betretungsverbote erst ab der – sie aufrecht erhaltenden – Überprüfung durch die Behörde für rechtswidrig erklärt, ihre ursprüngliche Anordnung (mangels entsprechender Möglichkeiten der von Zweck und Ziel des Gesetzes zur raschen Entscheidung verhaltenen Beamten) dagegen nicht.

[Im] Anlassfall ist unter anderem zu beurteilen, ob die der belangten Behörde bzw ihren Organen vorliegenden Informationen ausreichten, um iSd §38a Abs1 SPG von einer Gefährdung des Sohnes […] durch die Beschwerdeführerin, seine Mutter, vertretbarer Weise ausgehen zu können. Sollte dies wenigstens ursprünglich der Fall gewesen sein, so ist aber auch zu beurteilen, wie lange sich die Behörde bzw ihre Organe auf die sehr rudimentären (weil vom Hörensagen stammenden) und einseitigen (ausschließlich vom getrennt lebenden und um den Sohn rivalisierenden Kindesvater geäußerten) Informationen stützen durften, um die obsorgeberechtigte Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens zu beschränken, ohne zumutbare ergänzende Erhebungen zu pflegen.

Die aktuelle, seit BGBl I Nr 152/2013 geltende Fassung des §38a Abs6 SPG ermöglicht die in der bisherigen Rechtsprechung vorgenommene Differenzierung nicht mehr. Die überprüfende Behörde wird weder zur Einbringung ihrer (im Vergleich mit den einschreitenden Organen) zusätzlichen Kenntnisse und Fähigkeiten verpflichtet, noch zur Durchführung jener ergänzenden Erhebungen, die ihr innerhalb der gegebenen Frist von 48 Stunden leicht möglich wären. Vielmehr hat sie (ex tunc und offenbar im Vorgriff auf die Entscheidung des zuständigen Verwaltungsgerichts!) die Korrektheit der bereits erfolgten Anordnung ihrer Beamten zu überprüfen, und dabei deren Wissensstand und deren Möglichkeiten im Zeitpunkt der Anordnung zu Grunde zu legen. Der zweite (und möglicherweise auch der dritte) Satz des §38a Abs6 schließt – anders als der erste Satz dieser Bestimmung – eine Überprüfung der gemäß Abs1 getroffenen Anordnung ex nunc nach den gegebenen Möglichkeiten der Behörde aus, und ist daher präjudiziell.

3. Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit

3.1. im Hinblick auf Art8 EMRK

3.1.1. Das offenkundige Ziel dieser Gesetzesänderung besteht darin, die Behörde von jedem zusätzlichen Aufwand zu entlasten, wenn die zurückliegende Anordnung ihrer Organe – obwohl unter Zeitdruck und mit beschränkten Möglichkeiten getroffen – wenigstens damals aus dem Blickwinkel der Organe vertretbar war. Dafür wird ein erheblich schwerer wiegender Eingriff in die Rechte (insbesondere gemäß Art8 EMRK) des präsumptiven Gefährders in Kauf genommen, welcher nunmehr auch dann in seinen Rechten beschränkt bleibt, wenn die gegen ihn gestellte Gefährdungsprognose mit den Möglichkeiten der Behörde innerhalb von 48 Stunden leicht entkräftet werden könnte.

Eine andere Intention kann der Änderung des §38a Abs6 SPG nicht zu Grunde liegen, zumal einerseits dem Gesetzgeber der Novelle BGBl I Nr 152/2013 nicht unterstellt werden kann, er hätte mit der doch sehr klaren Umformulierung keine Änderung des Inhalts bezweckt, und die Materialien (RV 2434 BIgNR XXIV.GP, S.10) andererseits zwar das Abgehen vom bisherigen Wortlaut nicht begründen ('Wie bisher ...'), aber in der Folge eindeutig auf die 'rechtlichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt des Einschreitens' abstellen. Zusätzlich wird ausgeführt: 'Die Durchführung einer neuerlichen Gefährdungsprognose durch die Sicherheitsbehörde binnen 48 Stunden ist grundsätzlich nicht vorgesehen, ...'. Die folgende Relativierung, die Sicherheitsbehörde habe 'das Betretungsverbot von sich aus aufzuheben, sobald sie von Tatsachen Kenntnis erlangt, deren amtswegige Prüfung die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme im Sinne des §29 ergibt', anerkennt zwar die Möglichkeit einer Reaktion der Behörde auf nachträglich bekannt werdende Tatsachen, verschleiert aber gleichzeitig, dass die Behörde schon nach dem vorangegangenen Halbsatz der EB (und dem Gesetzeswortlaut) zum Bekanntwerden solcher Tatsachen nichts mehr beitragen kann, und hierin eine rein passive Rolle spielt. Bereits der geänderte Gesetzeswortlaut schließt ein aktives Vorgehen zur Evaluierung ex nunc jedenfalls aus; damit wird auch die fortlaufende Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, insbesondere iSd §29 Abs2 Z4 und 5 SPG, von vornherein ausgeschlossen.

Demgegenüber hielt der Gesetzgeber der Urfassung des Gesetzes zum Schutz vor Gewalt in der Familie (GeSchG), BGBl Nr 759/1996, es noch für erforderlich, den §29 SPG durch die wesentlich weiterreichende Formulierung des §38a aF SPG umzusetzen und mit Leben zu erfüllen (EB zur RV 252 BIgNR XX.GP): 'Die Verpflichtung zur Bekanntgabe eines Rückkehrverbotes an die Sicherheitsbehörde und dessen Überprüfung binnen 48 Stunden sollen eine rasche und effektive innerorganisatorische Kontrolle der Ausübung dieser Befugnis gewährleisten. Dies ist eine Ausformung der allgemeinen Regelung des §29 Abs2 Z5 SPG, der zufolge die Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt ,zu beenden' ist, ohne dass hierfür eine bestimmte Form vorgesehen wäre. […] Die Sicherheitsbehörde ist verpflichtet, das Rückkehrverbot aufzuheben, wenn die Voraussetzungen dafür nicht (mehr) vorliegen; […] Erforderlichenfalls kann die Sicherheitsbehörde im Rahmen der Überprüfung des Rückkehrverbotes die fachliche Meinung anderer (öffentlicher und privater) Stellen einholen und erfragen, ob diese über maßgebliche Informationen verfügen.' Davon ist in der aktuellen Fassung des §38a Abs6 SPG und den EB dazu keine Rede mehr: nach den obzitierten EB ist nur mehr eine, sich ohne eigenes Zutun herausstellende 'Unverhältnismäßigkeit' iSd §29 SPG (somit dessen Abs1) zu berücksichtigen. Die Notwendigkeit, die Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt bei Vorliegen der Voraussetzungen des §29 Abs2 Z5 SPG zu beenden, spielt demnach keine Rolle, ebensowenig die Bedachtnahme auf die Schonung der Rechte und schutzwürdigen Interessen der Betroffenen 'auch während der Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt' (Z4 leg. cit.) oder die Bedachtnahme iSd Z2 leg. cit.

3.1.2. Im gegenwärtigen Anlassfall ist es nicht auszuschließen, dass aufgrund der bisherigen Beweisergebnisse und der noch aufzunehmenden Beweise (insbesondere der zeugenschaftlichen Vernehmung der weiteren eingeschrittenen Polizeibeamten) trotz der Einseitigkeit und Mittelbarkeit der vorliegenden Gefährdungshinweise die vorgenommene Gefährdungsprognose als – zum Zeitpunkt des Einschreitens – vertretbar zu beurteilen sein wird. (Allerdings wäre davor noch rechtlich zu klären, ob aufgrund der geänderten Gesetzeslage nicht von vornherein ein strengerer Maßstab an die Erstellung dieser Prognose anzulegen sein wird, weil den einschreitenden Beamten ja bekannt sein muss, dass das bisherige Korrektiv der behördlichen Überprüfung mangels Einbeziehung zusätzlicher Kenntnisse oder Ermittlungsergebnisse praktisch wegfällt).

Im Falle einer Beurteilung der von den einschreitenden Organen gestellten Gefährdungsprognose als ursprünglich vertretbar scheint aber die Gesetzeslage, welche eine ex-nunc-Beurteilung des verhängten Betretungsverbots binnen 48 Stunden durch die Behörde – mit deren Expertise und zumindest nach einem Versuch der Befragung der gefährdeten Person zu den Vorfällen – ausschließt, dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Familienlebens zu widersprechen, zumal es sich im Anlassfall bei der präsumptiven Gefährderin um die obsorgeberechtigte Mutter handelt. Das angerufene Gericht hätte dann nicht die Wahl, die der Ingerenz ihrer Organe folgende Untätigkeit der belangten Behörde zu sanktionieren, da diese von Gesetzes wegen nicht verpflichtet und mangels gesetzlicher Grundlage nicht einmal in der Lage war, ihren rudimentären Informationsstand aktiv aufzubessern. Es müsste somit gleich die gesamte Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt bis zum gesetzlichen Außerkrafttreten des Betretungsverbots für rechtens befinden, wenn nur die Verhängung ursprünglich vertretbar war.

In Lehre und Rechtsprechung besteht aber Einigkeit darüber, dass bestimmte Formen der Ausübung von Befehls- oder Zwangsgewalt als fortdauernd anzusehen sind, wenn der dadurch bewirkte Eingriff in subjektive Rechte erst durch einen contrarius actus (wie die Freilassung nach Anhaltung, oder die Freigabe nach Beschlagnahme) beendet werden kann. Der Gesetzgeber des GeSchG geht zu Recht davon aus, dass dies auch für Betretungsverbote (früher: Rückkehrverbote) gilt, wie dies den EB zu §38a Abs6 aF SPG (252 BIgNR XX. GP, [vgI.] das obige Zitat) zu entnehmen ist. Wenn nun anstelle der früheren Gesetzeslage, die eine wenigstens einmalige Überprüfung von Betretungsverboten durch die Behörde ex nunc innerhalb von 48 Stunden vorsah, dieser Eingriff regelmäßig über die gesamte Dauer von zwei Wochen aufrechterhalten wird, nur weil die ursprünglich eingeschrittenen Organe eine, mit ihren eingeschränkten Möglichkeiten und unter Zeitdruck, gerade noch vertretbare Gefährdungsprognose gestellt haben, so entspricht diese erweiterte Einschränkung des Rechts auf Achtung des Familienlebens nach Auffassung des antragstellenden Gerichts nicht den Voraussetzungen des Art8 Abs2 EMRK. Dass eine so weitgehende Einschränkung in einer demokratischen Gesellschaft weder zur Verhinderung von strafbaren Handlungen noch zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist, ergibt sich nicht zuletzt aus der alten Fassung des §38a Abs6 SPG, die ersichtlich denselben Schutzumfang gewährte, ohne im selben Maße in das Recht nach Art8 EMRK einzugreifen.

3.2. unter Heranziehung des Sachlichkeitsgebots (Art2 StGG bzw Art7 B-VG)

Wie bereits erwähnt, begründet eine Festnahme einen fortdauernden (als 'Anhaltung' bezeichneten) Eingriff in das Grundrecht auf persönliche Freiheit, welcher erst mit der Entlassung aus der Haft endet (abgesehen von Fällen der faktischen Beendigung zB durch Flucht). Ebenso lange besteht eine Pflicht der Behörde zur laufenden Prüfung, ob die Anhaltung in Haft noch zu rechtfertigen ist (und nicht etwa nur, ob die anfängliche Festnahme vertretbar war). Ist dies nicht mehr der Fall, so ist der Angehaltene unverzüglich freizulassen. Dazu besteht eine umfangreiche Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes […].

Auch die vorläufige Beschlagnahme durch behördliche Organe endet erst mit der Freigabe des beschlagnahmten Gegenstandes oder mit der bescheidmäßigen Verfügung (Beschlagnahme oder Verfall) über diesen. Laut VfSlg 16.563/1988 dauert bei einer vorläufigen Beschlagnahme der von der Behörde zwangsweise und unmittelbar verfügte Eigentumseingriff bis zum Erlass eines Bescheides darüber oder bis zur Rückstellung der beschlagnahmten Gegenstände an. Der durch die vorläufige Beschlagnahme bewirkte unmittelbare behördliche Zugriff wird rechtswidrig und verletzt das Eigentumsrecht, wenn nicht unverzüglich, das heißt so rasch wie möglich, von der zuständigen Behörde ein Bescheid gemäß §39 Abs1 VStG erlassen oder der beschlagnahmte Gegenstand zurückgestellt wird. Die Dauer bis zur Bescheiderlassung oder Zurückstellung ist dabei Gegenstand der Prüfung im Rahmen einer Maßnahmenbeschwerde (vgl neben dem genannten E auch VfSlg 11820/1988 sowie VwGH 10.5.2001, 98/15/0180).

Bei der Verhängung eines Betretungsverbotes liegt die Schwere des Eingriffs typischer Weise in der Mitte zwischen den beiden genannten Fällen: eine Anhaltung wiegt als Eingriff in die persönliche Freiheit idR schwerer, eine vorläufige Beschlagnahme als Eigentumsbeschränkung idR weniger schwer als der nach §38a SPG vorgesehene Eingriff in die Privatsphäre und das Familienleben. Es wurde gezeigt, dass die Behörde nach stRsp in beiden genannten Fällen verpflichtet ist, die Dauer der Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt unter Ausschöpfung ihrer Möglichkeiten gering zu halten. Die Neuregelung des §38a Abs6 SPG idF BGBl I Nr 152/2013 beschränkt aber diese Verpflichtung in den Fällen der Wegweisung und der Verhängung eines Betretungsverbots, ohne dass dafür eine sachliche Rechtfertigung erkennbar wäre. Nach Auffassung de[s] antragstellenden Gerichts verstößt sie daher gegen das verfassungsmäßige Gebot an den Gesetzgeber, gleichartige Sachverhalte gleich zu behandeln."

3.       Die Bundesregierung hat eine Äußerung erstattet, in der sie den im Antrag erhobenen Bedenken wie folgt entgegentritt (ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen):

"[Zur Zulässigkeit:]

1. […]

2. Gegenstand des Anlassverfahrens bildet eine beim antragstellenden Gericht anhängige Beschwerde gemäß Art130 Abs1 Z2 B-VG, welche sich gegen die Verhängung mehrerer Betretungsverbote gemäß §38a SPG durch Organe der Landespolizeidirektion Wien richtet.

Das antragstellende Verwaltungsgericht hat im Anlassverfahren also lediglich zu beurteilen, ob die einschreitenden Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes ihre Befugnis zur Anordnung eines Betretungsverbotes rechtmäßig ausgeübt haben. Dabei hat es – im Wege einer ex-ante-Betrachtung – zu beurteilen, ob die Voraussetzungen des §38a Abs1 SPG vorgelegen sind und das Verhältnismäßigkeitsprinzip eingehalten worden ist. Kein Gegenstand des Anlassverfahrens ist hingegen die Überprüfung der Anordnung des Betretungsverbotes durch die Sicherheitsbehörde. Die Beschwerdeführerin des Anlassverfahrens hat weder eine rechtswidrige Durchführung der behördlichen Überprüfung behauptet, noch eine Unterlassung der Überprüfung gerügt. Aus dem Antrag geht auch nicht hervor, dass die Beschwerdeführerin geltend gemacht hätte, durch die Sicherheitsbehörde in ihrem Recht auf Aufhebung des Betretungsverbotes wegen des Wegfalls der Voraussetzungen für die Anordnung eines Betretungsverbotes verletzt worden zu sein.

3. Der angefochtene §38a Abs6 zweiter (und dritter) Satz SPG regelt nicht die Befugnis der Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes zur Anordnung eines Betretungsverbotes, sondern die nachfolgende behördliche Überprüfung einer solchen Maßnahme (und die Folgen der Entscheidung der Sicherheitsbehörde). Angesichts des – durch den Beschwerdeinhalt begrenzten – Gegenstandes des Anlassverfahrens ist es demnach ausgeschlossen, dass die angefochtene Bestimmung eine Voraussetzung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts Wien bildet.

4. Die Bundesregierung ist daher der Auffassung, dass der Antrag mangels Präjudizialität zur Gänze unzulässig ist.

5. Nur der Vollständigkeit halber weist die Bundesregierung darauf hin, dass die Aufhebung des §38a Abs6 zweiter Satz erster Halbsatz SPG ('Stellt […] aufzuheben;') alleine zur Beseitigung der vom antragstellenden Verwaltungsgericht behaupteten Verfassungswidrigkeit ausreichen würde. Die übrigen mitangefochtenen Teile des §38a Abs6 SPG stehen in keinem untrennbaren Zusammenhang mit dem §38a Abs6 zweiter Satz erster Halbsatz SPG, als dessen Aufhebung keinen sprachlich unverständlichen Torso zur Folge hätte, der inhaltsleer und unanwendbar wäre. Nachdem das antragstellende Gericht keine eigenständigen Bedenken gegen die darüber hinaus angefochtenen Teile des §38a Abs6 SPG vorbringt, erweist sich der Antrag auch insofern als unzulässig.

[In der Sache:]

[…]

1. Zu den Bedenken im Hinblick auf Art8 EMRK:

1.1. Das Verwaltungsgericht Wien bringt vor, §38a Abs6 zweiter Satz SPG verstoße gegen Art8 EMRK, da die Behörde bei der Überprüfung des angeordneten Betretungsverbotes auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der ursprünglichen Anordnung beschränkt und mangels gesetzlicher Grundlage nicht in der Lage sei, für ihre Überprüfung zusätzliche Informationen zu ermitteln. Eine 'ex nunc'-Beurteilung des Betretungsverbotes binnen 48 Stunden durch die Sicherheitsbehörde werde durch die geltende Fassung des §38a Abs6 SPG untersagt; damit werde auch die fortlaufende Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, insbesondere des §29 Abs2 Z4 und 5 SPG, 'von vornherein ausgeschlossen.' Das antragstellende Gericht erblickt in der angefochtenen Bestimmung offenbar auch eine Beschränkung des gerichtlichen Rechtsschutzes: Das mittels Beschwerde angerufene Verwaltungsgericht müsse 'gleich die gesamte Ausübung von Befehls- und Zwangsgewalt bis zum gesetzlichen Außerkrafttreten des Betretungsverbots für rechtens befinden, wenn nur die Verhängung ursprünglich vertretbar war' (Antrag S 9).

1.2. Nach Ansicht der Bundesregierung gehen die vom antragstellenden Verwaltungsgericht geäußerten Bedenken schon deshalb ins Leere, weil es von einem unzutreffenden Verständnis der Rechtslage ausgeht:

1.2.1. Wie oben ausführlich dargelegt […], gilt für jede Befugnisausübung durch die Sicherheitsbehörden und die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der in §29 SPG normierte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Dieser wird durch §38a Abs6 SPG weder verdrängt noch geschmälert, sondern gelangt ergänzend zu §38a Abs6 SPG zur Anwendung.

Ein Betretungsverbot muss daher nicht nur im Zeitpunkt seiner Anordnung, sondern während seiner gesamten Geltungsdauer dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gemäß §29 SPG entsprechen. Die Sicherheitsbehörde ist demnach – sowohl innerhalb der ersten 48 Stunden als auch danach – verpflichtet, das Betretungsverbot von Amts wegen aufzuheben, sobald sich ergibt, dass die Voraussetzungen des §38a Abs1 SPG nicht mehr vorliegen oder das Betretungsverbot nicht mehr verhältnismäßig ist. Entgegen der Auffassung des antragstellenden Verwaltungsgerichtes folgt aus §38a Abs6 zweiter Satz SPG keine wie auch immer geartete 'Immunisierung' eines ursprünglich rechtmäßig angeordneten Betretungsverbotes.

1.2.2. Wie oben bereits dargelegt […], ist die Sicherheitsbehörde auch nach geltender Rechtslage ermächtigt, für die Evaluierung eines Betretungsverbotes maßgebliche Informationen zu ermitteln und Auskünfte von anderen Einrichtungen und Stellen einzuholen.

1.3. Art8 EMRK enthält keine Verpflichtung, überhaupt eine innerorganisatorische Kontrolle der Befugnisausübung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes, die dem Rechtsschutz durch Gerichte vorgelagert ist, vorzusehen. Bei einer zusätzlichen 'Kontrollschleife', wie sie §38a Abs6 SPG in Gestalt einer Überprüfung der Anordnung eines Betretungsverbotes durch die Sicherheitsbehörde vorsieht, handelt es sich sohin von vornherein um einen verfassungsrechtlich nicht gebotenen, zusätzlichen Rechtsschutzmechanismus. Wie die Gesetzgebung eine solche Regelung im Detail ausgestaltet, liegt in ihrem rechtspolitischen Gestaltungsspielraum (vgl hinsichtlich eines gerichtlichen Provisorialverfahrens VfGH 21.9.2017, G88/2017). Es steht ihr insbesondere auch frei, eine solche Regelung im Laufe der Zeit zu modifizieren.

1.4. Insoweit das antragstellende Verwaltungsgericht offenbar davon ausgeht, dass infolge der von ihm angenommenen Beschränkung der Überprüfungsbefugnis der Sicherheitsbehörde auf die Rechtsmäßigkeit der Anordnung eines Betretungsverbotes auch der Prüfungsumfang eines mit Beschwerde angerufenen Verwaltungsgerichts beschränkt sei, ist ihm Folgendes zu entgegnen:

Weder §38a Abs6 SPG noch eine andere Bestimmung enthält – von §88 Abs2 SPG abgesehen – eine besondere Regelung über den Beschwerdegegenstand, den Prüfungsumfang oder die Entscheidungsbefugnis der Verwaltungsgerichte im Hinblick auf die Kontrolle eines Betretungsverbotes (vgl hingegen die besonderen Verfahrensbestimmungen betreffend die Schubhaftbeschwerde in §22a BFA-VG). Maßgeblich sind daher die allgemeinen Bestimmungen der Art130 ff B-VG und des VwGVG.

Die Bundesregierung geht vor diesem Hintergrund zunächst davon aus, dass nicht nur die Anordnung eines Betretungsverbotes einen Akt unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt darstellt, sondern auch dessen Aufrechterhaltung. In vergleichbarer Weise geht nämlich der Verfassungsgerichtshof etwa davon aus, dass der gegen eine Person durch die Festnahme ausgeübte Zwang für die gesamte Dauer ihrer Anhaltung anhält, sodass es sich auch bei der Anhaltung um die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt handelt (zB VfSlg 16.638/2002 mwN; auch der Antrag, S 10, beruft sich auf diese Rechtsprechung).

Der Gefährder kann daher gemäß Art130 Abs1 Z2 B-VG nicht nur gegen die Anordnung, sondern auch gegen die Aufrechterhaltung eines Betretungsverbotes Beschwerde an das Verwaltungsgericht erheben. Dabei kann er geltend machen, in seinem Recht auf Aufhebung des Betretungsverbotes bei Wegfall der gesetzlichen Voraussetzung für dessen Anordnung verletzt worden zu sein. Ist eine solche Beschwerde zulässig und begründet, hat das Verwaltungsgericht die Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt für rechtswidrig zu erklären und gegebenenfalls aufzuheben; dauert die für rechtswidrig erklärte Ausübung unmittelbare Befehls- und Zwangsgewalt noch an, hat die belangte Behörde den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtes entsprechenden Zustand herzustellen (§28 Abs6 VwGVG) – im konkreten Fall also ein angeordnetes Betretungsverbot aufzuheben.

Die Bedenken des antragstellenden Verwaltungsgerichtes gehen daher auch insoweit ins Leere.

Der Vollständigkeit halber weist die Bundesregierung schließlich darauf hin, dass auch das Unterlassen einer Überprüfung nach §38a Abs6 SPG als solches mittels Beschwerde nach §88 Abs2 SPG bekämpft werden kann (s VwGH 24. Februar 2004, 2002/01/0280; 10. Juli 2017, Ra 2017/01/0178).

1.5. Zusammenfassend geht die Bundesregierung daher davon aus, dass die angefochtene Bestimmung nicht gegen Art8 EMRK verstößt.

2. Zu den Bedenken im Hinblick auf das Sachlichkeitsgebot:

2.1. Das antragstellende Verwaltungsgericht Wien beruft sich auf Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach bei einer Anhaltung auf Grund einer Festnahme und bei einer vorläufigen Beschlagnahme die Behörde verpflichtet sei, 'die Dauer der Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt […] gering zu halten' (Antrag S 11). Durch die angefochtene Bestimmung sei 'diese Verpflichtung in den Fällen der Wegweisung und der Verhängung eines Betretungsverbotes [beschränkt]' (Antrag S 11), wodurch gleichartige Sachverhalte ungleich behandelt würden.

2.2. Auch diesem Vorbringen liegt eine unzutreffende Annahme von der Rechtslage zu Grunde: Wie bereits mehrfach ausgeführt, ist die Sicherheitsbehörde während der gesamten Dauer eines aufrechten Betretungsverbotes verpflichtet, dieses bei Wegfall der Voraussetzungen für seine Anordnung aufzuheben oder einzuschränken. Das Vorbringen des antragstellenden Verwaltungsgerichts geht daher von vornherein ins Leere.

2.3. Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz liegt daher nicht vor."

IV.      Erwägungen

1.       Zur Zulässigkeit des Antrages

1.1.    Der Verfassungsgerichtshof ist nicht berechtigt, durch seine Präjudizialitätsentscheidung das antragstellende Gericht an eine bestimmte Rechtsauslegung zu binden, weil er damit indirekt der Entscheidung dieses Gerichtes in der Hauptsache vorgreifen würde. Gemäß der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darf daher ein Antrag iSd Art139 Abs1 Z1 B-VG bzw des Art140 Abs1 Z1 lita B-VG nur dann wegen mangelnder Präjudizialität zurückgewiesen werden, wenn es offenkundig unrichtig (denkunmöglich) ist, dass die – angefochtene – generelle Norm eine Voraussetzung der Entscheidung des antragstellenden Gerichtes im Anlassfall bildet (vgl etwa VfSlg 10.640/1985, 12.189/1989, 15.237/1998, 16.245/2001 und 16.927/2003).

Es ist – entgegen der Auffassung der Bundesregierung – nichts hervorgekommen, was an der Präjudizialität des mit dem Hauptantrag des Verwaltungsgerichtes Wien angefochtenen §38a Abs6 zweiter Satz SPG zweifeln ließe. Es ist insbesondere denkmöglich, dass – wie das Verwaltungsgericht Wien auch ausführt – im zugrundeliegenden verwaltungsgerichtlichen Verfahren nicht nur zu beurteilen ist, ob das Betretungsverbot verhängt, sondern auch, wie lange es aufrecht erhalten werden durfte.

1.2.    Die Bundesregierung erachtet den Antrag auch deshalb als unzulässig, weil die geltend gemachte Verfassungswidrigkeit durch Aufhebung allein des §38a Abs6 zweiter Satz erster Halbsatz SPG beseitigt werden könnte und der beantragte Aufhebungsumfang insofern zu weit gefasst sei. Vor dem Hintergrund der dargelegten Bedenken vermag der Verfassungsgerichtshof diese Auffassung allerdings nicht zu teilen, da die einzelnen Halbsätze des §38a Abs6 zweiter Satz SPG diesbezüglich jedenfalls nicht trennbar iSd neueren Judikatur des Verfassungsgerichtshofes sind (vgl zB VfGH 27.6.2018, G30/2017).

1.3.    Da auch sonst keine Prozesshindernisse hervorgekommen sind, erweist sich der (Haupt-) Antrag daher als zulässig, sodass auf den vom Verwaltungsgericht Wien unter einem gestellten Eventualantrag nicht weiter einzugehen ist.

2.       In der Sache

2.1.    Der Verfassungsgerichtshof hat sich in einem auf Antrag eingeleiteten Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes gemäß Art140 B-VG auf die Erörterung der aufgeworfenen Fragen zu beschränken (vgl VfSlg 12.691/1991, 13.471/1993, 14.895/1997, 16.824/2003). Er hat sohin ausschließlich zu beurteilen, ob die angefochtene Bestimmung aus den in der Begründung des Antrages dargelegten Gründen verfassungswidrig ist (VfSlg 15.193/1998, 16.374/2001, 16.538/2002, 16.929/2003).

2.2.    Der Antrag ist nicht begründet.

Das Verwaltungsgericht Wien hegt auf das Wesentliche zusammengefasst das Bedenken, dass §38a Abs6 zweiter Satz SPG einer "ex-nunc-Beurteilung des verhängten Betretungsverbots binnen 48 Stunden durch die Behörde" entgegenstehe und damit gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens sowie gegen das Sachlichkeitsgebot verstoße. Daraus, dass in §38a Abs6 zweiter Satz SPG in der angefochtenen Fassung im Gegensatz zur Vorgängerbestimmung die Aufhebung des Betretungsverbots durch die Behörde nicht mehr ausdrücklich vorgesehen ist, sollte festgestellt werden, dass das Betretungsverbot nicht hätte angeordnet werden dürfen, schließt das Verwaltungsgericht Wien nämlich, dass dem Gesetzgeber "nicht unterstellt werden" könne, er wolle "mit der doch sehr klaren Umformulierung keine Änderung des Inhalts" bezwecken.

Diese Annahme, die das Verwaltungsgericht Wien nicht aus dem Gesetzeswortlaut, sondern allein aus der Genese des §38a Abs6 zweiter Satz SPG in der angefochtenen Fassung herleitet, ist bereits – wie die Bundesregierung im Ergebnis auch überzeugend ausführt – nicht zutreffend:

In den Gesetzesmaterialien zur SPG-Novelle heißt es ausdrücklich, dass die zuständige Sicherheitsbehörde nicht nur "im Rahmen ihrer Überprüfung [der rechtlichen Voraussetzungen für den Ausspruch des Betretungsverbotes zum Zeitpunkt des Einschreitens] auch andere Einrichtungen und Stellen [beiziehen kann], sofern sie dieses für erforderlich erachtet", sondern auch, dass sie "das Betretungsverbot von sich aus aufzuheben [hat], sobald sie von Tatsachen Kenntnis erlangt, deren amtswegige Prüfung die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme im Sinne des §29 [SPG] ergibt" (RV 2434 BlgNR 24. GP, 10). Insofern kann auch der Annahme des Verwaltungsgerichtes Wien, dass "auch die fortlaufende Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes […] von vornherein ausgeschlossen" sei, nicht gefolgt werden.

Die Bedenken treffen daher nicht zu.

V.       Ergebnis

1.       Der Antrag ist daher abzuweisen.

2.       Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Sicherheitspolizei, Rechtsschutz, Verhältnismäßigkeit, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2018:G414.2017

Zuletzt aktualisiert am

21.01.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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