TE OGH 2017/7/25 Bsw2728/16

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Veröffentlicht am 25.07.2017
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Rostovtsev gg. Ukraine, Urteil vom 25.7.2017, Bsw. 2728/16.

Spruch

Art. 2 7. Prot. EMRK - Unzulässigkeit eines Rechtsmittels nach verkürztem Verfahren wegen Geständnis.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 2 7. Prot. EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Feststellung einer Verletzung ist für sich selbst eine ausreichende gerechte Entschädigung für jeglichen vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde des unrechtmäßigen Erwerbs und Besitzes von Suchtgift angeklagt. In der Verhandlung, in der er nicht anwaltlich vertreten war, gab er zu, im Jänner 2015 um € 53,– zehn Schachteln des Schmerzmittels Tramadol von einem Fremden auf der Straße gekauft zu haben. Er drückte seine Reue aus und ersuchte um ein mildes Urteil. Angesichts dieses Geständnisses erachtete es das BG Kiew Oblonsky nicht als notwendig, hinsichtlich der unbestrittenen »Umstände« Beweise zu beurteilen (Anm: Nach § 349 Abs. 3 StPO kann das Gericht auf die Behandlung von Beweisen über »Umstände« verzichten, die von den Parteien nicht bestritten werden. Voraussetzung dafür ist, dass keine der Parteien widerspricht und sie vom Gericht darüber belehrt wurden, dass sie in diesem Fall kein Recht hätten, solche Umstände im Rechtsmittelweg zu bestreiten.). Der Bf. wurde wegen unrechtmäßigem Erwerb und Besitz von Suchtgift zu zwei Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt.

In seiner dagegen erhobenen Berufung machte der Bf. geltend, sein Geständnis habe sich nur auf die Tatsachen bezogen und nicht auf deren rechtliche Qualifikation. Diese sei falsch, weil der bloße Besitz von Tramadol nicht strafbar wäre.

Das Berufungsgericht der Stadt Kiew entschied am 1.7.2015, die Berufung nicht zuzulassen. Aufgrund des Geständnisses des Bf. und dem daher angewandten vereinfachten Verfahren wäre das Urteil einer auf die vom Bf. geltend gemachten Gründe gestützten Berufung nicht zugänglich.

Die vom Bf. eingebrachte Revision wurde vom Oberen Spezialisierten Zivil- und Strafgericht am 3.8.2015 abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 2 7. Prot. EMRK (Recht auf Rechtsmittel in Strafsachen).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 2 7. Prot. EMRK

(23) Der Bf. brachte vor, dass ihm das Recht, in seinem Strafverfahren gegen das Urteil zu berufen, entzogen worden sei. [...]

Zulässigkeit

(24) Der GH stellt fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet [...] noch aus einem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

In der Sache

(27) Die Vertragsstaaten genießen bei der Entscheidung, wie das in Art. 2 7. Prot. EMRK garantierte Recht auszuüben ist, grundsätzlich einen weiten Ermessensspielraum. Die Überprüfung einer Verurteilung oder des Strafausspruchs durch ein höheres Gericht kann daher sowohl Tatsachen- als auch Rechtsfragen betreffen oder nur auf Rechtsfragen beschränkt sein. Zudem kann von einem Angeklagten, der Berufung einlegen möchte, in einigen Staaten manchmal verlangt werden, um eine Zulassung des Rechtsmittels zu ersuchen. Allerdings muss jede im innerstaatlichen Recht vorgesehene Einschränkung des in dieser Bestimmung genannten Rechts auf Überprüfung – in Analogie zum durch Art. 6 Abs. 1 EMRK verkörperten Recht auf Zugang zu einem Gericht – ein legitimes Ziel verfolgen und darf den Wesenskern des Rechts nicht verletzen.

(28) [...] Es ist in erster Linie Sache der innerstaatlichen [...] Gerichte, Probleme der Auslegung des nationalen Rechts zu lösen. [...] Die Behörden müssen jedoch das innerstaatliche Recht achten und in einer vorhersehbaren und konsistenten Weise anwenden. [...]

(30) Es ist unbestritten, dass der Bf. grundsätzlich ein Recht auf Überprüfung seines Falls aufgrund einer Berufung hatte und dass er nicht in der Lage war, seinen Fall so überprüfen zu lassen, weil er die Umstände, auf denen seine Verurteilung beruhte, eingestanden und damit der Anwendung eines abgekürzten Verfahrens zugestimmt hatte. Auch wenn das Eingeständnis des Bf. einen Verzicht auf einige seiner Verfahrensrechte bedeutet haben mag, ist unbestritten, dass ein solcher Verzicht nicht das Recht auf ein Rechtsmittel wegen der rechtlichen Qualifikation der Taten des Bf. umfasste. Genau diese war der Grund für die Berufung des Bf. Daher kann nicht gesagt werden, er hätte auf sein Recht auf ein Rechtsmittel verzichtet.

(31) Angesichts dieser Schlussfolgerung muss der GH in Anwendung derselben Grundsätze, die auch hinsichtlich des Rechts auf Zugang zu einem Gericht nach Art. 6 Abs. 1 EMRK gelten, prüfen, ob der Wesenskern des Rechts des Bf. auf ein Rechtsmittel durch die Zurückweisung seiner Berufung als unzulässig verletzt wurde. Dabei wird der GH beurteilen, ob die Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte, seine Rechtsmittel zurückzuweisen, angesichts der relevanten Gesetze und Rechtsprechung als vorhersehbar angesehen werden konnten.

(32) Die Berufung des Bf. betraf die Frage der rechtlichen Qualifikation der Taten, deren Begehung er zugegeben hatte. Die Regierung brachte vor, dass die innerstaatlichen Gerichte die Berufung des Bf. zurückgewiesen hätten, weil sie angenommen hätten, der Bf. würde versuchen, implizit die Tatsachen zu bestreiten, auf denen seine Verurteilung beruhte und die er zugegeben hatte.

(33) Der GH erkennt in den Entscheidungen der innerstaatlichen Gerichte keine Grundlage für dieses Argument. Das Berufungsgericht und das Obere Spezialisierte Zivil- und Strafgericht gaben weder an, dass der Bf. versuchen würde, die Tatsachenfeststellungen des verurteilenden Gerichts anzufechten, noch wiesen sie auf irgendeine Stelle in seiner Berufung hin, die ein solches Verständnis unterstützen würde. Auch der GH erkennt nichts im Text der Berufung des Bf., was diese Auslegung unterstützen würde. Außerdem bezog sich das Berufungsgericht ausdrücklich auf die rechtliche Qualifikation der Handlungen des Bf. als einer der Gründe, warum die Entscheidung keiner Berufung zugänglich war, und diese Feststellung wurde vom Oberen Spezialisierten Zivil- und Strafgericht bestätigt.

(34) Diese Position der innerstaatlichen Gerichte im Strafverfahren des Bf. widerspricht allerdings direkt der Auslegung der einschlägigen innerstaatlichen Bestimmungen durch die Regierung und der von ihr zitierten Rechtsprechung des Oberen Spezialisierten Zivil- und Strafgerichts, wonach sich der in den innerstaatlichen Verfahren verwendete Begriff »Umstände« nur auf die faktischen Umstände bezog und nicht ihre strafrechtliche Qualifikation einschloss. Für diesen Widerspruch wurde keine zufriedenstellende Erklärung geliefert. Außerdem bekräftigte das Obere Spezialisierte Zivil- und Strafgericht nach der Zustellung des Falls an die belangte Regierung in einem Rundschreiben an die unteren Gerichte, dass das Gestehen von Tatsachen in einem Strafverfahren den Angeklagten nicht des Rechts auf Berufung aufgrund einer unrichtigen Anwendung des materiellen Strafrechts beraubte. Es kann daher nicht gesagt werden, der Bf. hätte vorhersehen müssen, dass er durch das Gestehen der vom Gericht im Zuge seines Verfahrens festgestellten Tatsachen auf sein Recht verzichtete, gegen seine Verurteilung zu berufen, wenn er die rechtliche Qualifikation dieser Taten für falsch hielt.

(35) Aufgrund der Anwendung dieser Interpretation im Fall des Bf. verweigerten sowohl das Berufungsgericht als auch das Obere Spezialisierte Zivil- und Strafgericht eine Behandlung der Berufung des Bf. in der Sache.

(36) Der GH gelangt daher zu dem Schluss, dass die Auslegung der relevanten innerstaatlichen Bestimmungen durch die nationalen Gerichte im Fall des Bf. nicht »vorhersehbar« war und die nationalen Gerichte durch ihre Anwendung den Wesenskern des Rechts des Bf. auf Rechtsmittel verletzten.

(37) Der GH begrüßt die Maßnahmen, die von den innerstaatlichen Behörden ergriffen wurden, um solche Situationen in Zukunft zu verhindern. Diese Maßnahmen berühren jedoch nicht die individuelle Situation des Bf.

(38) Folglich hat eine Verletzung von Art. 2 7. Prot. EMRK stattgefunden (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Die Feststellung einer Verletzung ist für sich selbst eine ausreichende gerechte Entschädigung für jeglichen vom Bf. erlittenen immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Krombach/F v. 13.2.2001 = NL 2001, 51

Jovanovic/SRB v. 2.10.2012

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 25.7.2017, Bsw. 2728/16, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2017, 362) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/17_4/Rostovtsev.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Textnummer

EGM01645

Im RIS seit

11.01.2019

Zuletzt aktualisiert am

11.01.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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