RS Vfgh 2018/12/11 E3717/2018, E3728/2018, E3753/2018

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Veröffentlicht am 11.12.2018
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

B-VG Art7 Abs1
B-VG Art 144 / Allg
EMRK Art8 Abs1
StbG 1985 §27 Abs1, §42 Abs3
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch Feststellung des Verlusts der österreichischen Staatsbürgerschaft; nicht authentische "Wählerevidenzliste" kein taugliches Beweismittel für einen Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit; Mitwirkungspflicht der Partei entbindet die Behörde nicht von ihrer Verpflichtung zur amtswegigen Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts

Rechtssatz

Gemäß §27 Abs1 StbG verliert die österreichische Staatsbürgerschaft, wer auf Grund seines Antrages, seiner Erklärung oder seiner ausdrücklichen Zustimmung - also einer positiven Willenserklärung - eine fremde Staatsangehörigkeit erwirbt, sofern ihm nicht vorher die Beibehaltung der Staatsbürgerschaft bewilligt worden ist. Ob eine fremde Staatsangehörigkeit tatsächlich gültig erworben wurde, ist dabei nach der fremden Rechtsordnung zu beurteilen, der darauf gerichtete Erwerbswille nach österreichischem Recht. Liegen die Voraussetzungen des §27 Abs1 StbG vor, tritt der Verlust der Staatsbürgerschaft ex lege ein, ohne dass es dafür einer behördlichen Entscheidung bedarf. Das Interesse des Staates, nicht darüber im Zweifel zu sein, ob eine bestimmte Person Staatsangehörige ist, stellt ein öffentliches Interesse dar, das gemäß §42 Abs3 StbG die amtswegige Erlassung eines Feststellungsbescheides rechtfertigen kann.

Das B-VG misst, wie insbesondere Art6 Abs1, Art7 Abs1 Satz 1 und Art26 Abs4 B-VG zeigen, der Staatsbürgerschaft verfassungsrechtliche Bedeutung zu. In stRsp geht der VfGH davon aus, dass der in Art7 Abs1 B-VG gewährleistete Gleichheitsgrundsatz auf Fallkonstellationen, in denen es um die rechtliche Klärung des Status der österreichischen Staatsbürgerschaft für bestimmte Personen geht, unabhängig davon anwendbar ist, ob der betreffenden Person am Ende dieser Status auch tatsächlich zukommt.

Verletzung von Art7 Abs1 B VG und Art8 EMRK:

Eine willkürliche Verweigerung oder ein willkürlicher Verlust der Staatsangehörigkeit können nach der Rsp des EGMR unter Berücksichtigung der konkreten Konsequenzen - zu beachten sind insbesondere die Folgen der Staatenlosigkeit und des unrechtmäßigen Aufenthaltes - zudem eine Konventionsverletzung begründen. Denn Art8 EMRK erfasst - über Konstellationen hinaus, in denen sich die Staatsangehörigkeit auf die Abstammung von den Eltern gründet - Fragen der Staatsangehörigkeit als wesentlichen Teil der sozialen Identität eines Menschen und damit seines Privatlebens.

Wenn das Verwaltungsgericht Wien (Landesverwaltungsgericht - LVwG) die entscheidende Feststellung, dass der Beschwerdeführer die türkische Staatsangehörigkeit wieder angenommen hat, auf die Vermutung der Authentizität eines elektronischen Datensatzes als türkische "Wählerevidenzliste" gründet, zu dem im Verfahren aber ausdrücklich festgestellt wurde, dass er gerade nicht authentisch und beliebig veränderbar ist, fehlt dieser Feststellung eine taugliche Beweisgrundlage:

Das LVwG stützt seine Feststellung, dass der Beschwerdeführer auf Grund seines Antrages frühestens am 23.12.1996, spätestens jedenfalls am 18.05.2017 die türkische Staatsangehörigkeit wieder erworben habe, zunächst darauf, dass bestimmte persönliche Daten des Beschwerdeführers (darunter eine elfstellige Identitätsnummer, Vor- und Familiennamen, Vornamen von Mutter und Vater, Geschlecht, Geburtsort und Geburtsdatum) in einem Datensatz enthalten sind, der nach Auffassung des Verwaltungsgerichtes Wien die Aufzeichnungen einer türkischen Behörde über jene türkischen Staatsangehörigen wiedergibt, die in Österreich und darunter konkret auch im Zuständigkeitsbereich des türkischen Generalkonsulates Wien zur Teilnahme an bestimmten türkischen Wahlen berechtigt waren, wobei die Wahlberechtigung die Staatsangehörigkeit voraussetzt. Dieser sogenannten Wählerevidenzliste misst das Verwaltungsgericht inhaltliche Richtigkeit zu, obwohl "die Authentizität dieser Liste (im Hinblick auf die Annahme es handelt sich hierbei um eine Wählerevidenzliste für den Amtsbereich des türkischen Generalkonsulats in Wien) nicht festgestellt werden konnte". Unstrittig hat eine im Auftrag des Bundesministeriums für Inneres erfolgte Untersuchung dieses Datensatzes durch das Bundeskriminalamt, deren Ergebnisse in den Verfahrensakten festgehalten sind, ergeben, dass Ursprung und Authentizität der Daten nicht ermittelt werden könnten, da "der Originaldatenträger nicht für eine forensisch korrekte Untersuchung zur Verfügung stand und auf die im Mailweg überliefer[te]n Dateien bereits schreibend zugegriffen wurde". So entstand die Bezeichnung der Spalten der Liste unstrittig (erst) durch eine Bearbeitung der (österreichischen) "Behörde".

Es steht somit auf Grund der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens auch nach Auffassung des LVwG fest, dass es sich bei dem fraglichen Datensatz ("Wählerevidenzliste") um kein authentisches Dokument einer in irgendeiner Weise für Angelegenheiten des türkischen Wahlrechts oder der türkischen Staatsangehörigkeit zuständigen Behörde handelt. Dessen ungeachtet schließt das LVwG aus der von der Wiener Landesregierung anhand einer ihrer Auffassung nach repräsentativen, stichprobenartigen Ermittlung und eines daraus gezogenen Größenschlusses angenommenen Richtigkeit der enthaltenen Daten darauf, dass der Datensatz eine Aufzeichnung einer dafür zuständigen türkischen Behörde wiedergebe, die zum Zweck der Erfassung der bei bestimmten türkischen Wahlen wahlberechtigten Personen mit Wohnsitz in Österreich bzw im Zuständigkeitsbereich des türkischen Generalkonsulates Wien erstellt worden sei. Damit stehe auf Grund dieses Datensatzes auch fest, dass es sich bei den in diesen Datensatz aufgenommenen Personen um türkische Staatsangehörige handle.

Das LVwG geht also davon aus, dass der fragliche Datensatz den Inhalt einer türkischen "Wählerevidenzliste" im Hinblick auf in Österreich bzw in Wien Wahlberechtigte und damit türkische Staatsangehörige wiedergibt. Welchen Inhalt und welche Form (zB Excel-Datei) eine solche Wählerevidenzliste der zuständigen türkischen Behörden gegebenenfalls aufweisen würde, ist für das LVwG, wie insbesondere die im Zuge des Ermittlungsverfahrens eingeholten Stellungnahmen des Bundesministers bzw der Bundesministerin für Europa, Integration und Äußeres ergeben, nicht feststellbar und somit unbekannt. Die Annahme, dass der dem LVwG zur Verfügung stehende Datensatz den Inhalt einer Liste mit entsprechender Funktion ("Wählerevidenzliste") wiedergebe, beruht somit ausschließlich auf einer Vermutung. Damit wird aber ein Ergebnis des Verfahrens unterstellt (der Ursprung des Datensatzes als authentische türkische "Wählerevidenzliste"), das im Verfahren gerade nicht geklärt werden konnte. Vielmehr ergibt das Verfahren unstrittig, dass der Datensatz nicht authentisch und hinsichtlich seiner Herkunft und des Zeitpunktes seiner Entstehung nicht zuordenbar ist. Die mangelnde Authentizität und die ungeklärte Herkunft der Inhalte dieses Datensatzes, die festgestelltermaßen dem schreibenden Zugriff von wem auch immer offen standen, schließen es von vornherein aus, dass dieser Datensatz für die Zwecke des §27 Abs1 StbG im Hinblick auf den Beschwerdeführer ein taugliches Beweismittel darstellt.

Das LVwG begründet seine Feststellung gemäß §27 Abs1 StbG weiters mit dem Umstand, dass der Beschwerdeführer über eine erst ab dem Jahr 2000 und grundsätzlich an türkische Staatsangehörige vergebene Identifikationsnummer, die sogenannte Kimlik-Nummer, verfüge, was dieser nicht bestreitet. Soweit das LVwG daraus ableitet, der Beschwerdeführer habe die türkische Staatsangehörigkeit wieder angenommen, liegt dem eine aktenwidrige Beurteilung des Sachverhaltes zugrunde:

Im Hinblick auf eine Stellungnahme der Bundesministerin für Europa, Integration und Äußeres dazu, dass es keine eindeutige gesetzliche Regelung der nachträglichen Vergabe der Kimlik-Nummer gebe, eine solche aber in Fällen denkbar wäre, in denen der türkische Staat - zB bei offenen Fragen zum Grundeigentum - ein Interesse an der Beseitigung einer Rechtsunsicherheit hätte, wird im angefochtenen Erkenntnis Folgendes ausgeführt: "Im Falle des Beschwerdeführers kam daher eine nachträgliche Vergabe der 'Kimlik-Nummer' (ab dem Jahr 2000) nicht in Frage, zumal er laut eigener Angabe keine Amts- oder Rechtsgeschäfte in der Türkei zu erledigen hatte." Im Widerspruch dazu stehen die (niederschriftlich im Akt dokumentierten) Aussagen des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung vor dem LVwG am zu einem Türkeiaufenthalt anlässlich der Abwicklung einer Erbschaft: "Mein Vater ist im Jahre 2004 gestorben und mein Anteil am Erbe war ganz klein. Es handelt sich hierbei um ein Feld in unserem Dorf wo ich als Miteigentümer eingetragen wurde." Mit dem weiteren Vorbringen des Beschwerdeführers zur Vergabe von Kimlik-Nummern, das er durch die Vorlage des Nüfus-Auszuges seines bereits im Jahr 1968 verstorbenen Bruders untermauert, setzt sich das LVwG mit dem Verweis darauf, dass "der Beschwerdeführer nicht substantiell nachweisen konnte, dass ihm die 'Kimlik-Nummer' - ohne eine Wiederannahme der türkischen Staatsbürgerschaft - nachträglich vergeben wurde", überhaupt nicht auseinander.

Das LVwG sieht eine Begründung für die Feststellung iSd §27 Abs1 StbG schließlich darin, dass es der Beschwerdeführer im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht unterlassen habe, einen Auszug aus dem türkischen Personenstandsregister vorzulegen, aus dem hervorgehe, dass er im fraglichen Zeitraum die türkische Staatsangehörigkeit nicht wiedererworben habe (Nüfus-Auszug). Das LVwG erachtet den Beschwerdeführer auf Grund seiner Mitwirkungspflicht im amtswegigen Feststellungsverfahren gemäß §42 Abs3 iVm §27 Abs1 StbG für verpflichtet, einen von der Behörde geäußerten Verdacht, der Beschwerdeführer habe die türkische Staatsangehörigkeit wieder angenommen, dadurch zu entkräften, dass er von den türkischen Behörden, gegebenenfalls vor Ort in der Türkei, die Ausstellung von Dokumenten erwirke, die belegen, dass er die türkische Staatsangehörigkeit im fraglichen Zeitraum nicht wieder angenommen habe. Indem das LVwG damit davon ausgeht, der Beschwerdeführer habe der Behörde zu beweisen, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des §27 Abs1 StbG für den Verlust der Staatsbürgerschaft nicht vorliegen, unterstellt es §42 Abs3 iVm §27 Abs1 StbG einen verfassungswidrigen Inhalt:

Das Vorliegen der Voraussetzungen des §27 Abs1 StbG ist von der Verwaltungsbehörde bzw dem Verwaltungsgericht zu ermitteln. Auf die Verletzung einer Mitwirkungspflicht ist zwar Bedacht zu nehmen, sie entbindet die Behörde aber gerade nicht von ihrer Verpflichtung zur amtswegigen Ermittlung des Sachverhaltes, womit die Behörde die Beweislast für das Vorliegen der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des §27 Abs1 StbG auch nicht auf die Partei überwälzen darf. Lässt sich eine tatbestandsrelevante Tatsache nicht feststellen, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sie nicht vorliegt.

Die Annahme, dass im Fall einer rechtlichen oder tatsächlichen Unmöglichkeit für das LVwG, die Tatbestandsvoraussetzungen des §27 Abs1 StbG zu ermitteln, dessen Ermittlungsverpflichtung unter dem Titel einer Mitwirkungspflicht ohne Weiteres auf den Betroffenen überwälzt werden könne und somit im Falle eines von der Behörde geäußerten Verdachts, es könnten die Voraussetzungen des §27 Abs1 StbG vorliegen, der österreichische Staatsbürger den Negativbeweis zu erbringen habe, verbietet sich angesichts der der Staatsbürgerschaft zukommenden (und aus ihrem Verlust folgenden) Bedeutung auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht. Soweit das LVwG in seiner Begründung erkennbar von einer solchen Rechtsauffassung ausgeht, unterstellt es §42 Abs3 und §27 Abs1 StbG einen verfassungswidrigen Inhalt.

Dies schließt nicht aus, dass die Partei gewisse Mitwirkungspflichten treffen, die in amtswegigen Ermittlungsergebnissen begründet sind und sich im Rahmen der zumutbaren Möglichkeiten der Partei halten.

(Siehe auch E3728/2018 und E3753/2018 beide E v 12.12.2018).

Entscheidungstexte

Schlagworte

Staatsbürgerschaftsrecht, Beweislast, Mitwirkungspflicht der Parteien, Amtswegigkeit (Ermittlungsverfahren), Entscheidungsbegründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2018:E3717.2018

Zuletzt aktualisiert am

09.03.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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