TE OGH 2018/11/6 27Ds3/18z

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Veröffentlicht am 06.11.2018
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter hat am 6. November 2018 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden und den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Schramm als weiteren Richter sowie durch die Rechtsanwälte Dr. Schlager und Dr. Kretschmer als Anwaltsrichter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Sischka als Schriftführer in der Disziplinarsache gegen *****, Rechtsanwalt in *****, über die Beschwerde des Disziplinarbeschuldigten gegen den Beschluss des Disziplinarrats der Rechtsanwaltskammer Wien vom 20. Februar 2018, AZ D 159/14, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Beschwerde wird Folge gegeben, der angefochtene Beschluss aufgehoben und dem Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien die neuerliche Entscheidung über eine Verlängerung der einstweiligen Maßnahme nach § 19 Abs 1 Z 1 lit d DSt aufgetragen.

Der Antrag auf Übermittlung des Akts an die Staatsanwaltschaft hinsichtlich des Verdachts des Missbrauchs der Amtsgewalt durch die für die Entscheidung Verantwortlichen wird als unzulässig zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Beschluss des Disziplinarrats der Rechtsanwaltskammer Wien vom 20. Februar 2018, AZ D 159/14, wurde die über den Disziplinarbeschuldigten am 3. März 2017 verhängte und am 29. August 2017 erstmals verlängerte einstweilige Maßnahme der vorläufigen Untersagung der Ausübung der Rechtsanwaltschaft gemäß § 19 Abs 1 Z 1 DSt abermals verlängert.

Anlass für die Verhängung der einstweiligen Maßnahme war das gegen den Disziplinarbeschuldigten zu AZ 32 St 47/14h der Staatsanwaltschaft Wien wegen des Verdachts des Verbrechens des schweren Betrugs nach §§ 15 Abs 1, 146, 147 Abs 1 Z 1 Abs 3 StGB (im Zusammenhang mit der vorgeworfenen Vorlage von zwei ***** begünstigenden Testamenten und der entsprechenden Geltendmachung von Erbansprüchen nach dem am 20. August 2013 verstorbenen Mag. Rudolf B***** und dem am 30. August 2011 verstorbenen Dr. Walther Ba*****) und des Vergehens der falschen Beweisaussage nach §§ 12 zweiter Fall, 288 Abs 1 und Abs 4 StGB geführte Ermittlungsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diesen Beschluss erhobenen Beschwerde des Disziplinarbeschuldigten wurde mit Beschluss des Obersten Gerichtshofs als Disziplinargericht für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter am 4. Dezember 2017 keine Folge gegeben (vgl 27 Ds 3/17y).

Die erstmalige Verlängerung der in Rede stehenden Maßnahme am 29. August 2017 blieb unangefochten.

Im gegen den Disziplinarbeschuldigten eingeleiteten Strafverfahren zu AZ 32 St 47/14h der Staatsanwaltschaft Wien hatte die Staatsanwaltschaft am 9. Mai 2017 eine Anklageschrift gegen den Disziplinarbeschuldigten beim Landesgericht für Strafsachen Wien eingebracht. Darin wurden ***** das Verbrechen des schweren Betrugs nach §§ 15 Abs 1, 146, 147 Abs 1 Z 1 und Abs 3 StGB, das Vergehen der falschen Beweisaussage nach § 288 Abs 1 StGB sowie die Vergehen der falschen Beweisaussage nach §§ 12 zweiter Fall, 288 Abs 1 und Abs 4 StGB zur Last gelegt. Dieses Verfahren ist zu AZ 12 Hv 8/17g des Landesgerichts für Strafsachen Wien weiterhin anhängig.

Den (unbestrittenen) Annahmen des Disziplinarrats im nunmehr angefochtenen Beschluss zufolge hat sich der Disziplinarbeschuldigte in der Hauptverhandlung hinsichtlich der ihm vorgeworfenen falschen Zeugenaussage und der Bestimmung von Personen zur Ablegung einer falschen Beweisaussage schuldig bekannt. Die weiters gegen den Disziplinarbeschuldigten bestehenden Vorwürfe „des schweren Betrugs durch Urkundenfälschung“ wurden nach den Annahmen des Disziplinarrats durch die bisher durchgeführten Hauptverhandlungen nicht entkräftet.

Dagegen richtet sich die Beschwerde des Disziplinarbeschuldigten, der Berechtigung zukommt.

Der vom Beschwerdeführer erhobene Einwand, wonach ihm – entgegen der zwingenden Bestimmung des § 19 Abs 2 erster Satz DSt – vor der (am 20. Februar 2018 erfolgten) Beschlussfassung über die abermalige Verlängerung der einstweiligen Maßnahme laut Aktenlage keine Gelegenheit zur Stellungnahme (und zwar weder zu den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen, noch zu den Voraussetzungen für die Verlängerung der einstweiligen Maßnahme der vorläufigen Untersagung der Ausübung der Rechtsanwaltschaft) eingeräumt wurde, trifft zu.

         Der EGMR hat in der Entscheidung vom 6. April 2016, Bsw 33060/10 (Newsletter Menschenrechte NL 2016, 129), klargestellt, dass in Verfahren zum Erlass einstweiliger Verfügungen nach § 19 Abs 3 Z 1 lit b DSt, die über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen, entscheiden, Art 6 EMRK grundsätzlich unabhängig von der Zeitdauer, für die diese einstweilige Anordnung in Kraft steht, anzuwenden ist. Nur in außergewöhnlichen Fällen, wo etwa die Wirksamkeit der angestrebten Maßnahme von einem raschen Entscheidungsfindungsprozess abhängt, kann es ausnahmsweise nicht sofort möglich sein, alle Erfordernisse von Art 6 EMRK zu erfüllen. Daher können verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen nur in dem Ausmaß zur Anwendung kommen, das mit Natur und Zweck des einstweiligen Verfahrens zu vereinbaren ist.

Dies muss umso mehr für eine einstweilige Maßnahme der Untersagung der Ausübung der Rechtsanwaltschaft nach § 19 Abs 3 Z 1 lit d DSt gelten, zumal diese Provisorialentscheidung die angestammte Berufstätigkeit völlig einschränkt.

Eine mündliche und öffentliche Verhandlung stellt ein grundlegendes, in Art 6 Abs 1 EMRK verbürgtes Recht dar, doch ist die Verpflichtung zur Abhaltung einer Verhandlung nach der Rechtsprechung des EGMR nicht absolut. Es gibt Verfahren, in denen eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich sein kann: Wenn es etwa keine Fragen zur Glaubwürdigkeit oder bestrittene Tatsachen gibt, die eine Verhandlung nötig machen, und die Gerichte den Fall korrekt und angemessen auf Basis des Vorbringens der Parteien und anderen schriftlichen Materials entscheiden können. Zudem ist zu akzeptieren, dass eine Verhandlung unter außergewöhnlichen Umständen nicht abgehalten werden muss, wie in Fällen, in denen das Verfahren ausschließlich rechtliche oder hochtechnische Fragen betrifft. Zwar ist der Umstand, dass ein Verfahren von beträchtlicher persönlicher Bedeutung für einen Beschwerdeführer ist, nach der Auffassung des EGMR (Newsletter Menschenrechte NL 2016, 129) für die Notwendigkeit einer Verhandlung nicht unbedingt entscheidend. Dennoch kann die Verweigerung der Abhaltung einer mündlichen Verhandlung nur in seltenen Fällen gerechtfertigt sein.

Nun liegt es in der Natur der Verfahren zum Erlass einstweiliger Maßnahmen, dass Entscheidungen im Allgemeinen sofort getroffen werden müssen. In einem dringenden Fall könnte eine mündliche Verhandlung, auch dann wenn öffentliche oder private Interessen auf dem Spiel stehen, zu Verzögerungen führen und dadurch das Streben nach Schutz vereiteln.

Der Disziplinarrat hat, um die Entscheidung über die Verlängerung einer bereits getroffenen einstweiligen Maßnahme zu treffen, nicht nur die Natur und Schwere der disziplinarrechtlichen Vorwürfe zu prüfen, sondern auch, ob es die Gefahr eines ernsthaften Schadens für die Interessen der rechtsuchenden Bevölkerung (im Verlängerungsfall aber nicht mehr aber für den Berufsstand; vgl Lehner in Engelhart/Hoffmann/Lehner/Rohregger/Vitek, RAO9 § 19 DSt Rz 33) gibt, welche es nötig macht, eine bereits getroffene einstweilige Maßnahme – wie hier – zu verlängern. Daher waren bei der Entscheidung über die einstweilige Maßnahme nicht nur rechtliche oder hochtechnische Fragen zu berücksichtigen.

Nachdem zwischen der erstmaligen Verhängung der einstweiligen Maßnahme am 3. März 2017 und der am 29. August 2017 erstmals – zeitlich begrenzt – verlängerten einstweiligen Maßnahme und der nunmehr angefochtenen Entscheidung vom 20. Februar 2018 eine überschaubare längere Zeit verstrichen ist, wobei die Notwendigkeit einer Entscheidung über eine abermalige Verlängerung dieser einstweiligen Maßnahme absehbar war, kann eine der Anwendung der mit Art 6 EMRK verbundenen Rechte, insbesondere der Abhaltung einer mündlichen Verhandlung entgegenstehende Dringlichkeit nicht festgestellt werden.

Demzufolge wurde der nicht einmal zu einer Stellungnahme aufgeforderte Diziplinarbeschuldigte im Recht auf eine mündliche Verhandlung verletzt.

Im Hinblick auf diese grundrechtlich gebotene, indes vom Disziplinarrat aber unterlassene Beweisaufnahme (§ 89 Abs 2a Z 3 StPO iVm § 77 Abs 3 DSt) war daher der Beschwerde Folge zu geben, der angefochtene Beschluss aufzuheben und dem Disziplinarrat der Rechtsanwaltskammer Wien die neuerliche Entscheidung über eine Verlängerung der einstweiligen Maßnahme nach § 19 Abs 1 Z 1 lit d DSt aufgetragen.

Der unter einem mit der Beschwerde gestellte Antrag „auf Übermittlung des Aktes an die Staatsanwaltschaft hinsichtlich des Verdachts des Missbrauchs der Amtsgewalt durch die für die Entscheidung Verantwortlichen“ war zurückzuweisen, weil es dem Disziplinarbeschuldigten insoweit an einer entsprechenden gesetzlichen Antragslegitimation mangelt.

Textnummer

E123546

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2018:0270DS00003.18Z.1106.000

Im RIS seit

19.12.2018

Zuletzt aktualisiert am

24.04.2019
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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