TE Vwgh Erkenntnis 2018/10/10 Ro 2016/08/0013

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Veröffentlicht am 10.10.2018
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Index

E3L E05204020;
E3R E05204020;
E3R E05205000;
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz;

Norm

31998L0049 Rentenansprüche-RL;
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art1 litw;
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art5 lita;
32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit;
32009R0987 Koordinierung Soziale Sicherheit DV;
ASVG §261;
ASVG §73 aAbs1;
ASVG §73 Abs1;
ASVG §73a Abs1;
ASVG §73a;

Beachte

* Enderledigung des gegenständlichen Ausgangsverfahrens im fortgesetzten Verfahren: Ro 2016/08/0013 B 14. September 2016 Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ro 2016/08/0014

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler, den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revisionen 1. der Salzburger Gebietskrankenkasse, vertreten durch die Niederhuber & Partner Rechtsanwälte GmbH in 5020 Salzburg, Wilhelm-Spazier-Straße 2a (Ro 2016/08/0013), und 2. des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (Ro 2016/08/0014), gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 7. März 2016, Zl. L511 2005897- 1/43E, betreffend Pflichtversicherung nach dem ASVG und AlVG (mitbeteiligte Parteien: 1. A GmbH in S, vertreten durch die Haslinger/Nagele & Partner Rechtsanwälte GmbH in 4020 Linz, Roseggerstraße 58, 2. M 3. M Kft., beide in B, beide vertreten durch Mag. Ulrich Salburg, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Museumstraße 5/19, 4. Pensionsversicherungsanstalt in 1020 Wien, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 5. Allgemeine Unfallversicherungsanstalt in 1200 Wien, Adalbert-Stifter-Straße 65-67), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Revisionen werden als unbegründet abgewiesen.

Die revisionswerbende Gebietskrankenkasse hat der erst-, zweit- und drittmitbeteiligten Partei zu gleichen Teilen einen Aufwandersatz von insgesamt EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht einen Bescheid der revisionswerbenden Gebietskrankenkasse vom 13. Dezember 2013 - mit Ausnahme der abgesonderten Verfahren von fünf näher bezeichneten Dienstnehmern - ersatzlos behoben. Mit diesem Bescheid war die Pflichtversicherung nach dem ASVG und AlVG von 258 in der Anlage 1 zu dem Bescheid angeführten Personen zu den dort angeführten (zwischen 1. April 2012 bis 13. Dezember 2013 liegenden) Zeiten auf Grund ihrer in persönlicher Abhängigkeit ausgeübten Beschäftigung für den gemeinsamen Betrieb der erst-, zweit- und drittmitbeteiligten Partei im Rahmen einer Gesellschaft des bürgerlichen Rechts festgestellt worden.

2 Die erstmitbeteiligte Partei habe ihren Sitz in S und sei im Geschäftszweig der Vieh- und Fleischvermarktung tätig. Sie (bzw. ihre Rechtsvorgängerin) betreibe seit 1997 einen gepachteten Schlachthof.

3 Die zweitmitbeteiligte Partei (eingetragen im Handelsregister des Justiz- und Polizeiministeriums Ungarn) mit Sitz in B sei im Jahr 2004 gegründet worden. Gesellschafter seien Alfred M., Martin W. und Veres I. Die Geschäftsführung obliege jedenfalls seit 22. März 2007 Martin W. und Veres I., seit 18. Juni 2009 auch Hamori J. Im Jahr 2007 habe die erstmitbeteiligte Partei mit der zweitmitbeteiligten Partei einen Vertrag geschlossen, worin sich die zweitmitbeteiligte Partei verpflichtet habe, 25 Rinderhälften pro Woche zu verarbeiten und verkaufsfertig zu verpacken. Im Dezember 2009 habe die zweitmitbeteiligte Partei - rückwirkend zum 1. Jänner 2009 - eine Zweigniederlassung in O gegründet, welche mit 29. Juni 2010 wieder aus dem Firmenbuch gelöscht worden sei. Mit 17. Oktober 2013 habe sie eine Zweigniederlassung in S gegründet. Mit 31. Jänner 2012 habe sie den Bereich der Fleischzerlegung aufgegeben und den Bereich der Schlachtung von der deutschen Firma Robert W. übernommen, die diese bis zu diesem Zeitpunkt durchgeführt habe. Das dafür notwendige Personal sei in Österreich zur Sozialversicherung angemeldet worden.

4 Die drittmitbeteiligte Partei (eingetragen im Handelsregister des Justiz- und Polizeiministeriums Ungarn) mit Sitz in B sei ebenfalls im Jahr 2004 gegründet worden. Ihre Gesellschafter seien jedenfalls seit 19. Juli 2007 Andrea D. und Hegedus I. Die Geschäftsführung obliege jedenfalls seit 19. Juli 2011 Andrea D. Am 24. Jänner 2012 habe die erstmitbeteiligte Partei mit der drittmitbeteiligten Partei einen Vertrag geschlossen, worin sich diese verpflichtet habe, vom 1. Februar 2012 bis zum 31. Dezember 2014 für die erstmitbeteiligte Partei 55.000 t Rindfleisch zu zerlegen. Mit Vertrag vom 1. Februar 2012 habe die drittmitbeteiligte Partei von der erstmitbeteiligten Partei den im Schlachthofgebäude befindlichen Zerlegeraum samt der dazugehörigen Betriebsausstattung sowie einen angrenzenden Büroraum zu einem pauschalen, die Betriebskosten beinhaltenden Mietzins gemietet. Die drittmitbeteiligte Partei habe die Kosten für die Reinigung getragen. Das bei den Zerlegearbeiten benutzte Material wie Messer, Sägen und Schutzkleidung sei in ihrem Eigentum gestanden.

5 Nach Ablauf der genannten, mit der drittmitbeteiligten Partei vereinbarten Vertragslaufzeit von zwei Jahren habe die erstmitbeteiligte Partei im Februar 2014 wieder mit der zweitmitbeteiligten Partei, Zweigniederlassung Österreich, einen Werkvertrag für den Bereich der Fleischzerlegung auf die Dauer von zwei Jahren abgeschlossen. Im Mai 2014 sei dieser Vertrag von der erstmitbeteiligten Partei vorzeitig gelöst und ex tunc angefochten worden. Seit 8. August 2014 befinde sich die zweitmitbeteiligte Partei, Zweigniederlassung Österreich, in einem Partikularinsolvenzverfahren vor dem Landesgericht S. In Bezug auf die Anfechtung des Werkvertrages sei im Zuge dieser Insolvenz eine außergerichtliche Einigung mit dem Insolvenzverwalter getroffen worden.

6 Dem gegenständlichen Verfahren seien bereits mehrere Verfahren vorangegangen. Erstmalig habe am 29. Juli 2008 eine Kontrolle (der erst- und zweitmitbeteiligten Partei) nach dem Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG) durch die Finanzpolizei stattgefunden. In der Folge seien mehrere Entscheidungen ergangen, wobei auf die hg. Erkenntnisse vom 31. Juli 2009, Zl. 2008/09/0261, vom 16. März 2011, Zl. 2010/08/0231, sowie auf das Urteil des EuGH vom 18. Juni 2015, C-586/13, verwiesen werde.

7 Der Arbeitsablauf am Schlachthof stelle sich im bescheidgegenständlichen Zeitraum (vom 1. April 2012 bis 13. Dezember 2013) wie folgt dar: Die Rinder seien von

Mitarbeitern der erstmitbeteiligten Partei gekauft und von

Mitarbeitern der zweitmitbeteiligten Partei geschlachet und abgeviertelt worden. Die Teile seien danach im Kühlhaus zwischengelagert worden. Nach der "Qualitätsvergabe" durch die SLK GmbH habe die erstmitbeteiligte Partei einen Teil der Rinderhälften im Ganzen an Kunden verkauft. Die anderen Teile seien in einen eigenen Kühlraum verbracht und in weiterer Folge von Mitarbeitern der drittmitbeteiligten Partei weiter zerlegt und verpackt worden.

8 Die Mitarbeiter der erstmitbeteiligten Partei hätten dem Vorarbeiter der drittmitbeteiligten Partei Anordnungen hinsichtlich der zu verarbeitenden Rinderhälften und der Art und Weise der Verarbeitung in Form von Schnittplänen erteilt, wie sie für den Weiterverkauf je nach Kundennachfrage benötigt worden seien. Anschließend habe der Vorarbeiter der drittmitbeteiligten Partei die Arbeit der Arbeitnehmer der drittmitbeteiligten Partei organisiert und die dafür nötigen Anweisungen erteilt. Mitarbeiter der erstmitbeteiligten Partei hätten die Ware übernommen und die Qualität der fertigen Produkte auf Erfüllung der konkreten Auftragserteilung kontrolliert. Das Fleisch selbst sei vom Ankauf bis zum Verkauf im Eigentum der erstmitbeteiligten Partei verblieben. Die Vergütung für die von der drittmitbeteiligten Partei erbrachten Dienstleistungen habe sich nach der Menge des verarbeiteten Fleisches berechnet und sei herabgesetzt worden, wenn die Qualität des verarbeiteten Fleisches unzureichend gewesen sei. Eine darüber hinausgehende Beteiligung der zweitmitbeteiligten Partei bzw. der drittmitbeteiligten Partei am Umsatz oder am Gewinn der erstmitbeteiligten Partei sei nicht ersichtlich.

9 Die in der Anlage A zum Erkenntnis angeführten Personen seien im jeweils in der Anlage angeführten Zeitraum bei der drittmitbeteiligten Partei im Schlachthof mit Zerlegungsarbeiten beschäftigt gewesen. Für sie alle habe der zuständige ungarische Sozialversicherungsträger eine - den jeweiligen Arbeitszeitraum des betreffenden Dienstnehmers jedenfalls beinhaltende - Bescheinigung über die Anwendung der ungarischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit gemäß Art. 11 bis 16 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 und Art. 19 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 (A1-Dokument bzw. "portable document A1") ausgestellt. Der Zeitpunkt der Ausstellung sowie der vom A1-Dokument umfasste Zeitraum seien für die jeweilige Person aus der Anlage A ersichtlich. Die A1-Dokumente seien zum Teil vor, zum Teil während und zum Teil nach dem betreffenden Dienstverhältnis ausgestellt worden, in einigen Fällen zudem nach der Bescheiderstellung durch die erstrevisionswerbende Gebietskrankenkasse.

10 Für die in der Anlage B zum Erkenntnis angeführten Personen hätten sich keine Anhaltspunkte gefunden, dass diese Personen in den jeweils angeführten Zeiträumen in dem von der erstmitbeteiligten Partei betriebenen Schlachthof tätig gewesen wären. Die in der Anlage A und B genannten Dienstnehmer würden gemeinsam die in Anlage 1 zum erstinstanzlichen Bescheid angeführten Dienstnehmer und Dienstzeiten ergeben.

11 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, im Hinblick auf die in der Anlage B genannten Personen sei unstrittig, dass diese in den dort genannten Zeiträumen keiner Beschäftigung in dem von der erstmitbeteiligten Partei betriebenen Schlachthof in Österreich nachgegangen seien. Da eine Sozialversicherungspflicht schon begrifflich nur an eine Beschäftigung im Inland anknüpfen könne, sei der erstinstanzliche Bescheid der erstrevisionswerbenden Gebietskrankenkasse im Hinblick auf die in Anlage B genannten Personen zu den in dieser Anlage genannten Zeiten in diesem Ausmaß zu beheben gewesen.

12 Betreffend die in Anlage A genannten Dienstnehmer sei unstrittig, dass diese die Dienstnehmereigenschaft iSd § 4 Abs. 2 ASVG aufweisen würden, weil sie in einem Verhältnis persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit gegen Entgelt beschäftigt seien. Ebenso unstrittig sei, dass die drittmitbeteiligte Partei Dienstgeber iSd § 35 Abs. 1 ASVG sei. Strittig sei allerdings, ob die erstmitbeteiligte Partei bzw. die zweitmitbeteiligte Partei ebenfalls Dienstgeber der betroffenen Dienstnehmer seien.

13 Die revisionswerbende Gebietskrankenkasse habe zusammenfassend festgestellt, dass bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise iSd § 539a Abs. 1 ASVG ein einheitlicher Betrieb vorgelegen sei, der von der erst-, zweit- und drittmitbeteiligten Partei in der Rechtsform einer Gesellschaft nach bürgerlichem Recht (GesbR) betrieben worden sei. Daher komme den erst-, zweit- und drittmitbeteiligten Parteien als Gesellschaftern die Dienstgebereigenschaft zu. Der Schlachthof sei von der erstmitbeteiligten Partei betrieben worden. Nur diese sei aus dem Betrieb berechtigt und verpflichtet gewesen, wobei sie einzelne abtrennbare Arbeitsschritte, nämlich die Schlachtung, die Zerlegung aber auch die - gegenständlich nicht betroffene - Reinigung des Schlachthofes an andere rechtlich selbständige Unternehmen ausgelagert habe. Der Schlachthof stelle einen einheitlichen Betrieb iSd § 34 Abs. 1 ArbVG dar, auch wenn die Agenden dieses einheitlichen Betriebes, die im Normalfall unselbständigen Abteilungen übertragen würden, im vorliegenden Fall von verschiedenen rechtlich selbständigen Unternehmen wahrgenommen würden.

14 In Bezug auf das Vorliegen einer GesbR zur Führung dieses Betriebes iSd § 34 Abs. 1 ArbVG könne der Argumentation der erstrevisionswerbenden Gebietskrankenkasse jedoch - so das Verwaltungsgericht weiter - nicht gefolgt werden. Wesentliche Elemente für das Vorliegen einer GesbR iSd § 1175 ABGB seien neben dem Willen der Gesellschafter, eine GesbR zu gründen, die Vergemeinschaftung von Beiträgen der Gesellschafter sowie die gemeinsame Zweckverfolgung. Ebenso bedürfe es des Vorliegens einer wenigstens losen Gemeinschaftsorganisation, die jedem Vertragspartner gewisse Einwirkungs- und Mitwirkungsrechte verschaffe. Für das Beteiligungsverhältnis einer GesbR sei der Anteil am Hauptstamm maßgebend. Das Beteiligungsverhältnis könne von den Gesellschaftern aber auch abweichend geregelt werden. Insbesondere könnten auch Arbeitsleistungen als Vermögenseinlagen gewertet und mit entsprechender Beteiligung am Hauptstamm verknüpft werden. Aus der Vergemeinschaftung der Beiträge zur gemeinsamen Zweckverfolgung resultiere, dass bei der GesbR für die Leistungen, die einem gemeinsamen Zweck gewidmet würden, kein Anspruch auf Abgeltung von Arbeitsleistungen bestehe, sondern nur ein Anspruch auf eine Beteiligung am Gewinn. In der GesbR herrsche das Prinzip der Kooperation und der grundsätzlichen Gleichordnung. Sie könne in Form einer Außengesellschaft oder einer bloßen Innengesellschaft errichtet werden. Bei der Außengesellschaft würden die Gesellschafter gegenüber Dritten als sozietäre Vereinigung auftreten, also z.B. Rechtsgeschäfte namens der GesbR abschließen. Bei der reinen Innengesellschaft trete hingegen die GesbR nach außen hin als solche gar nicht in Erscheinung, vielmehr würden nur die Gesellschafter im eigenen Namen, jedoch auf gemeinsame Rechnung der Beteiligten (also im Sinn sogenannter indirekter Stellvertretung) auftreten. Zum Abschluss einer bloßen Innengesellschaft komme es nicht selten aus gewerberechtlichen Gründen, aus steuerlichen Überlegungen, weil eine Außengesellschaft auf Grund besonderer gesetzlicher (in der Regel berufsrechtlicher) Vorschriften nicht möglich sei, aus sozialversicherungsrechtlichen Gründen, zur Umgehung des Ausländerbeschäftigungsgesetzes, zum Zweck einer Unterbeteiligung, gelegentlich auch bei Arbeitsgemeinschaften, bei Metageschäften, Syndikatsverträgen, bei großer Gesellschafteranzahl und oft konkludent unter Ehegatten. Der dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 19. Dezember 2012, 2009/08/0254, zu Grunde liegende Fall (in dem das Bestehen einer GesbR bejaht worden war) sei mit dem vorliegenden nicht zu vergleichen, weil es sich dort um zwei rechtlich selbständige, jedoch durch die Führung beider Unternehmen durch dieselbe Person in Form einer Organstellung verbundene Unternehmen gehandelt habe, die dieselbe Tätigkeit ausgeführt hätten und bei denen im Außenauftritt eine Unterscheidung nicht möglich gewesen sei. Im vorliegenden Fall würden die erst-, zweit- bzw. drittmitbeteiligte Partei nicht dieselben Tätigkeiten durchführen. Aus dem Betrieb der erstmitbeteiligten Partei seien vielmehr einzelne abtrennbare Arbeitsschritte an andere, rechtlich und auch personell unabhängige Unternehmen ausgelagert worden. Die erstrevisionswerbende Gebietskrankenkasse habe sich darauf gestützt, dass die Fleischverarbeitung und -vermarktung der gemeinsame Zweck gewesen sei, zu dessen Erreichung die erstmitbeteiligte Partei im Wesentlichen den baulichen Betrieb, den Kundenstock sowie die Marktpräsenz, die zweit- und dritttmitbeteiligten Parteien hingegen die Arbeitskräfte und die für die Tätigkeit dieser Arbeitskräfte notwendigen Betriebsmittel eingebracht hätten. Dies zeige jedoch keine für die Bildung einer GesbR notwendige Vergemeinschaftung der Beiträge (aus der in der Folge auch die Beteiligung am gemeinsamen Gewinn resultieren sollte) auf. Aus dem Sachverhalt ergebe sich vielmehr ein klares Subordinationsverhältnis zwischen den betroffenen Unternehmen. Dies zeige sich bereits daran, dass das Fleisch als Gegenstand der Tätigkeit aller beteiligten Unternehmen während des gesamten Verarbeitungsprozesses im Eigentum der erstmitbeteiligten Partei verblieben sei und weder die zweit- noch die drittmitbeteiligte Partei ein Mitspracherecht betreffend den Preis des Fleischankaufes oder -verkaufes gehabt hätten. Auch betreffend die Verkaufsstrategie der erstmitbeteiligten Partei (etwa welche Fleischstücke als ganze Hälften verkauft worden und welche in die Zerlegung gegangen seien) habe keine Einflussmöglichkeit der zweit- oder drittmitbeteiligten Partei bestanden. Diese hätten auch keinen Einfluss auf die - für die betroffenen Mitarbeiter der Zerlegung relevante - Fleischzerlegungsmenge gehabt. Darüber hinaus habe aber auch keine Gewinn- oder Verlustbeteiligung der zweit- oder drittmitbeteiligten Partei am Betriebsergebnis der erstmitbeteiligten Partei bestanden. Es sei lediglich eine bereits im Vertrag definierte Abgeltung der Leistung ausbezahlt worden. Bei nicht entsprechender Qualität sei es auch zu Gewährleistungsansprüchen gekommen. Dies werde letztlich auch von der erstrevisionswerbenden Gebietskrankenkasse so gesehen, wenn sie ausführe, dass die zweit- und drittmitbeteiligte Partei nicht frei hätten entscheiden können, was sie verarbeiten, dass eine Eingliederung in die Organisation der erstmitbeteiligten Partei vorliege und dass die Gewinnbeteiligung der Ertragsteil sei, der der zweit- und drittmitbeteiligten Partei über den Werkvertrag zukomme. Damit mangle es aber im gegenständlichen Fall sowohl am Prinzip der Kooperation und der grundsätzlichen Gleichordnung der Gesellschafter einer GesbR, aber jedenfalls auch an der gemeinsamen Zweckverfolgung. Die Förderung bloß der eigenen Zwecke durch die erstmitbeteiligte Partei bzw. eines fremden Zwecks gegen Entgeltleistung durch die zweit- und drittmitbeteiligte Partei stelle keine gemeinsame Zweckverfolgung dar.

15 Auch könne der Ansicht der erstrevisionswerbenden Gebietskrankenkasse nicht gefolgt werden, die erst-, zweit- und drittmitbeteiligten Parteien seien je nach Günstigkeit für den Betriebszweck nach außen getrennt aufgetreten, die erstmitbeteiligte Partei habe sich jedoch in diversen medialen Artikeln für alle Mitarbeiter verantwortlich gezeigt bzw. im täglichen Leben sei der Ausdruck "Schlachthof" gebräuchlich gewesen, was alle dort tätigen Unternehmen impliziere. Die erstmitbeteiligte Partei habe auf ihrer Homepage (Ausdruck vom 27. November 2013) darauf hingewiesen, dass der Großteil der Mitarbeiter am Standort über "Werkvertragsunternehmen" beschäftigt sei. Das bloße gemeinsame Auftreten nach außen bzw. das "Verschmelzen" in der Darstellung auf diversen Internetseiten sei für die Frage, auf wessen Rechnung der Betrieb geführt worden sei, nicht relevant, weil es nicht auf den nach außen in Erscheinung tretenden Sachverhalt, sondern auf die wirklichen rechtlichen Verhältnisse ankomme. Zusammenfassend sei es weder zu einer Vergemeinschaftung von Beiträgen der betroffenen Unternehmen gekommen, noch liege eine gemeinsame Zweckverfolgung vor, zumal den zwei ungarischen Unternehmen keinerlei Einwirkungs- und Mitwirkungsrechte zugekommen seien. Die erst- bis drittmitbeteiligten Parteien hätten keine GesbR gebildet.

16 Ergänzend werde darauf verwiesen, dass die Auslagerung der Arbeitsschritte durch die erstmitbeteiligte Partei an andere Unternehmen bereits Gegenstand mehrerer höchstgerichtlicher Verfahren gewesen sei. Der Verwaltungsgerichtshof habe im Erkenntnis vom 31. Juli 2009, 2008/09/0261, festgestellt, dass es sich bei der vorliegenden Konstellation um eine Arbeitskräfteüberlassung iSd § 4 Abs. 2 AÜG gehandelt habe. Der EuGH sei im Erkenntnis vom 18. Juni 2015, C-586/13, von einer Arbeitskräfteentsendung iSd Art. 1 Abs. 3 Buchstabe a der Richtlinie 96/71 ausgegangen. Beide Höchstgerichte seien - bei bekannter Faktenlage - nicht vom Vorliegen einer GesbR ausgegangen. Auch ein bedarfsbedingter Mitarbeitertausch, der zwischen den Mitarbeitern der zweitmitbeteiligten Partei in der Schlachtung und den Mitarbeitern der drittmitbeteiligten Partei in der Zerlegung stattgefunden habe, könne nicht als Argument für das Vorliegen einer GesbR herangezogen werden, weil bereits dem Grunde nach keine solche vorliege. Ein etwaiger Mitarbeitertausch könne nur eine Arbeitskräfteüberlassung zwischen diesen beiden Unternehmen darstellen.

17 Dem Vorbringen der erstrevisionswerbenden Gebietskrankenkasse zu Folge habe der Betriebsleiter der erstmitbeteiligten Partei Anweisungen an die ungarischen Zerleger und Schlachter erteilt und die Qualität ihrer Arbeit kontrolliert. Auch von anderen Mitarbeitern der erstmitbeteiligten Partei seien Weisungen an die ungarischen Mitarbeiter erfolgt und Hilfsarbeiten zugewiesen worden. Damit werde nicht dargelegt, dass diese Weisungen über das im Rahmen der Überprüfung der Erfüllung des Werkvertrages zulässige Ausmaß hinausgegangen wären. Das Vorbringen der revisionswerbenden Gebietskrankenkasse habe ausschließlich Mitarbeiter der zweitmitbeteiligten Partei betroffen, die nicht verfahrensgegenständlich seien. Es sei nicht erwiesen worden, dass die Kontrollen der erstmitbeteiligten Partei über das sachliche Weisungsrecht, welches auf den Arbeitserfolg bzw. die Erfüllung des Werkvertrages gerichtet sei, hinausgegangen seien, und den Dienstnehmern der drittmitbeteiligten Partei persönliche Weisungen, die auf den zweckmäßigen Einsatz der Arbeitskraft gerichtet gewesen sei, erteilt worden wären. Arbeitsanweisungen von Mitarbeitern der erstmitbeteiligten Partei an Mitarbeiter der drittmitbeteiligten Partei sowie der Umstand, dass der Schlachthof auf Rechnung der erstmitbeteiligten Partei betrieben worden sei, mache die erstmitbeteiligte Partei nicht zur Dienstgeberin aller im Schlachthof beschäftigten Mitarbeiter. Alle in der Anlage A des Erkenntnisses genannten Dienstnehmer seien zu den dort angegebenen Zeiten bei der drittmitbeteiligten Partei als ausschließlicher Dienstgeber beschäftigt gewesen.

18 Zur damit relevant werdenden Bindungswirkung der A1- Dokumente führte das Verwaltungsgericht aus, es sei unstrittig, dass alle in der Anlage A genannten Personen in Österreich einer dem Grunde nach versicherungspflichtigen Beschäftigung nachgegangen seien. Für jede dieser Personen sei ein A1-Dokument des zuständigen ungarischen Sozialversicherungsträgers ausgestellt worden. In diesem werde bestätigt, dass die jeweils betroffene Person ein ab einem bestimmten Zeitpunkt in Ungarn beschäftigter und pflichtversicherter Arbeitnehmer der drittmitbeteiligten Partei als Arbeitgeberin mit Sitz in B sei und voraussichtlich für die Dauer der in den jeweiligen Formularen angegebenen Zeiten, wovon der in der Anlage A genannte Zeitraum jedenfalls umfasst sei, zur erstmitbeteiligten Partei nach Österreich entsendet werde.

19 Sei in einem Mitgliedstaat gemäß Art. 19 Abs. 2 der Verordnung (EG) 987/2009 ein A1-Dokument ausgestellt worden, wonach eine Person den sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften dieses Mitgliedstaates unterworfen sei, so sei der zuständige Träger eines anderen Mitgliedstaates gemäß Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) 987/2009 an die Angaben in der Bescheinigung gebunden und könne den fraglichen Arbeitnehmer nicht seinem eigenen System der sozialen Sicherheit unterstellen, solange die Bescheinigung nicht zurückgezogen oder für ungültig erklärt werde. Auch ein Gericht des Beschäftigungsstaates sei nicht befugt, die Gültigkeit einer A1-Bescheinigung zu überprüfen. Es sei von einer absoluten Bindungswirkung auszugehen. Das gelte auch für die von der revisionswerbenden Gebietskrankenkasse unterstellten "bewussten Umgehungshandlungen". Daran ändere auch das Vorbringen der revisionswerbenden Gebietskrankenkasse nichts, wonach sich aus dem Leitfaden der Verwaltungskommission ergebe, dass die vorliegenden A1-Dokumente inhaltlich unrichtig seien und eine absolute Unwilligkeit des ungarischen Trägers bestünde, die A1- Dokumente zurückzuziehen. Wenn das Vermittlungsverfahren nicht zum Erfolg geführt habe, könne der an die Entsendebescheinigung gebundene Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 ff AEUV anstrengen. Dafür, dass bei Nichteinigung im Dialogverfahren die Bindungswirkung obsolet wäre und es den nationalen Gerichten zustünde, eine Beurteilung der Richtigkeit der A1-Dokumente vorzunehmen, finde sich in der genannten Verordnung kein Hinweis. Auch der Unionsrechtssetzer würde die Bindungswirkung absolut sehen.

20 Die vorliegenden A1-Dokumente seien mehrheitlich rückwirkend durch den ungarischen Träger ausgestellt worden. Der EuGH habe zur vormaligen Bescheinigung E 101 festgehalten, dass diese auch Rückwirkung entfalten könne (EuGH 30. März 2000, C- 178/97, Barry Banks u.a., Rz 54 bis 57). Diese Rechtsprechung sei auf die Verordnung (EG) 883/2004 übertragbar. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EG) 987/2009 normiere eine ex nunc-Wirkung nur für den Fall des Widerrufs und der Aufhebung eines Dokumentes. Daraus folge, dass auch nach Wegfall eines A1-Dokumentes die Feststellung einer Versicherungspflicht im Beschäftigerstaat für den vom A1- Dokument bis zu dem Zeitpunkt des Widerrufs abgedeckten Zeitraum nicht möglich sei. Aus Art. 15 Abs. 1 der Verordnung (EG) 987/2009 ergebe sich, dass die rückwirkende Ausstellung eines A1-Dokumentes nicht ausgeschlossen sei. Arbeitnehmern bzw. Arbeitgebern werde zwar empfohlen, die Ausstellung des A1-Dokumentes möglichst vor der Entsendung und unabhängig von der Dauer zu beantragen, woraus sich aber im Umkehrschluss die besagte Möglichkeit der rückwirkenden Ausstellung ableiten lasse.

21 Auch die Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides stehe der Rückwirkung eines nachträglich ausgestellten A1-Dokumentes nicht entgegen, weil der genannte Bescheid kein Dokument iSd Art. 5 der Verordnung (EG) 987/2009 darstelle.

22 Es lägen somit für alle in der Anlage A genannten Mitarbeiter der drittmitbeteiligten Partei bindende rückwirkende A1-Dokumente vor, die jeweils den gesamten Zeitraum der Tätigkeit umfassen würden und die vom ungarischen Träger auch nicht zurückgezogen worden seien. Demnach stehe bindend fest, dass in den vorliegenden Fällen österreichisches Sozialversicherungsrecht nicht zur Anwendung gelange. Wegen der durch den unionsrechtlichen Anwendungsvorrang bewirkten spezifischen Ausnahme vom Territorialprinzip würde den österreichischen Sozialversicherungsträgern damit ihre internationale Zuständigkeit insoweit fehlen, als es um die Beurteilung von Sachverhalten gehe, die in den vom jeweiligen A1-Dokument umfassten Zeitraum lägen und die das österreichische Beschäftigungsverhältnis der jeweils im A1- Dokument genannten beschäftigten Person beträfen. Weder für die in Anlage A noch für die in Anlage B genannten Personen sei für die dort genannten Zeiträume eine Zuständigkeit eines österreichischen Sozialversicherungsträgers gegeben, weshalb der angefochtene erstinstanzliche Bescheid zur Gänze ersatzlos zu beheben sei.

23 Die Revisionen seien iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, weil es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehle, inwieweit die Rechtsprechung des EuGH zur absoluten Bindungswirkung sowie zur Rückwirkung von A1-Dokumenten, die zur Verordnung 1408/71 sowie zur Verordnung (EG) 574/72 ergangen sei, auf die Verordnung (EG) 883/04 und die Verordnung (EG) 987/2009 übertragbar sei.

24 Gegen dieses Erkenntnis richten sich die Revisionen.

Die erst- bis drittmitbeteiligten Parteien haben Revisionsbeantwortungen erstattet, in denen sie die kostenpflichtige Abweisung der Revisionen beantragen. Die erstmitbeteiligte Partei hat zum unten erwähnten Urteil des EuGH vom 6. September 2018 eine Stellungnahme erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

25 Die erstrevisionswerbende Gebietskrankenkasse bringt vor, es würde keine Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage geben, inwieweit die Rechtsprechung des EuGH zur absoluten Bindungswirkung bzw. Rückwirkung von E 101-Dokumenten auf die Verordnung (EG) 883/2004 und die Verordnung (EG) 987/2009 übertragbar sei. Dass die bisherige Judikatur des EuGH zur Frage der Bindungswirkung von E 101-Bestätigungen tatsächlich so verstanden werden müsse, dass diesen jedenfalls eine absolute Bindungswirkung zukäme, sei vor dem Hintergrund der jüngeren Rechtsprechung des EuGH nicht mehr haltbar. Der EuGH habe festgehalten, dass es Sachverhalte gebe, in denen eine E 101- Bescheinigung die anderen Mitgliedstaaten nicht binde. Die Bindungswirkung der E 101-Bestätigungen beruhe ganz wesentlich auf der Einhaltung des im Art. 4 Abs. 3 EUV (vormals Art. 5 bzw. 10 EG-Vertrag) verankerten Grundsatzes der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten. Dieser verpflichte den die Bescheinigung ausstellenden Sozialversicherungsträger dazu, den betreffenden Sachverhalt ordnungsgemäß zu beurteilen und die Richtigkeit der in der Bescheinigung gemachten Angaben zu gewährleisten. Betrachte man die verschiedenen Sprachfassungen des Urteils des EuGH vom 10. Februar 2000, C-202/97, FTS, so stelle sich die Bindungswirkung der E 101-Bescheinigung als bloße Vermutung des Anschlusses der entsandten Arbeitnehmer an das System der sozialen Sicherheit des Entsendestaates dar. Die Bindung des zuständigen Trägers des Mitgliedstaates, in den diese Arbeitnehmer entsandt seien, sei nicht absolut und umfassend, sondern lediglich in dem Ausmaß gegeben, in dem die genannte Vermutung auf Basis ordnungsgemäß ausgestellter E 101- Bescheinigungen auch schlagend werden könne. Der ungarische Sozialversicherungsträger habe den Grundsatz der vertrauensvollen Zusammenarbeit verletzt. Bereits nach Durchführung des ersten Dialogverfahrens betreffend die Arbeitnehmer der zweitmitbeteiligten Partei hätte dem ungarischen Sozialversicherungsträger bewusst sein müssen, dass die gehandhabte Praxis zur Entsendung von Fleischzerlegern an die erstmitbeteiligte Partei der im Art. 12 der Verordnung (EG) 883/2004 normierten Entsenderegelung widerspreche. Dennoch habe dieser Sozialversicherungsträger auch für die Arbeitnehmer der drittmitbeteiligten Partei A1-Bescheinigungen ausgestellt und damit gegen seine sich aus dem Grundsatz zur vertrauensvollen Zusammenarbeit ergebende Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Beurteilung der in A1-Bescheinigungen gemachten Angaben verstoßen. Er habe den genannten Grundsatz auch noch dadurch missachtet, dass er die Richtigkeit der A1-Bescheinigung trotz geltend gemachter Zweifel nicht weiter überprüft habe und trotz eindeutiger Stellungnahme der Verwaltungskommission bzw. den diesbezüglichen Ausführungen im Praxisleitfaden der Verwaltungskommission die genannte Bescheinigung nicht zurückgezogen habe. Infolge Verletzung des Grundsatzes zur vertrauensvollen Zusammenarbeit durch den ungarischen Sozialversicherungsträger müsse auch die revisionswerbende Gebietskrankenkasse die Bindungswirkung der ausgestellten A1-Bescheinigungen nicht mehr gegen sich gelten lassen. Zumindest hätte das Verwaltungsgericht die Frage nach der Reichweite der Bindungswirkung im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens dem EuGH zur Klärung vorlegen müssen. Darüber hinaus sei die Auffassung des Verwaltungsgerichtes unrichtig, dass A1-Bescheinigungen auch für den Zeitraum vor ihrer Ausstellung Bindungswirkung entfalten könnten. Die in der Rechtsprechung des EuGH anklingende zulässige Rückwirkung sei auf wenige Ausnahmen einzuschränken. Keinesfalls könnten jedoch A1- Bescheinigungen rückwirkend Bindungswirkung entfalten, wenn bereits - wie in den verfahrensgegenständlichen Fällen - vor ihrer Ausstellung ein erstinstanzlicher Bescheid der erstrevisionswerbenden Gebietskrankenkasse über die Pflichtversicherung der genannten Arbeitnehmer erlassen worden sei. Auch bei diesem Bescheid würde es sich um ein "Dokument" iSd Art. 1 Abs. 2 lit. c der Verordnung (EG) 987/2009 handeln, das als solches nunmehr gegenüber dem Träger des anderen Mitgliedstaates eine bindende Wirkung entfalte, weil es den Status einer Person (die Anwendung der Rechtsvorschriften des Beschäftigermitgliedstaates iSd Beschäftigungslandprinzips des Art. 11 der Verordnung (EG) 883/2004) bescheinige. Bei Zweifeln an der Ordnungsmäßigkeit der bescheidmäßigen Feststellung der Pflichtversicherung hätte das im Art. 5 Abs. 2 ff der Verordnung (EG) 987/2009 normierte Dialogverfahren eingeleitet werden müssen.

26 Das Verwaltungsgericht habe auch zu Unrecht das Vorliegen einer GesbR verneint. Die mitbeteiligten Parteien hätten durch ihre jeweiligen Tätigkeiten als gemeinsames Ziel die verkaufsfertige Verarbeitung von Fleisch für den österreichischen Markt angestrebt. Davon ausgehend liege ein gemeinschaftlicher Zweck vor. Die Einbringung des baulichen Betriebes, des Kundenstockes sowie der Marktpräsenz sowie die Einbringung von Arbeitskräften stelle eine für die Bildung einer GesbR notwendige Vergemeinschaftung von Beiträgen dar. § 1175 ABGB lasse eine Vielfalt möglicher Beitragsleistungen zu, sofern diese nur in irgendeiner Art und Weise dazu geeignet seien, den Gesellschaftszweck zu fördern. Für das Vorliegen einer GesbR sei es auch nicht notwendig, dass alle darin involvierten Rechtspersonen denselben Einfluss auf die Verfolgung des Gesellschaftszieles hätten. Der gemeinsam verfolgte Zweck sei die verkaufsfertige Verarbeitung von Fleisch für den österreichischen Markt gewesen. Diese sei zwar durchaus arbeitsteilig erfolgt, aber eben nicht in einem Ausmaß, dass noch von der Verfolgung völlig unterschiedlicher (bzw. fremder) Zwecke ausgegangen werden könne.

27 Schließlich regt die

erstrevisionswerbende Gebietskrankenkasse die Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH betreffend die Frage der Bindungswirkung im Falle der Verletzung des Grundsatzes der vertrauensvollen Zusammenarbeit an.

28 Der zweitrevisionswerbende Bundesminister bringt ebenfalls vor, es fehle an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darüber, ob die Judikatur des EuGH zur Bindungswirkung der genannten Bescheinigungen auch für die Verordnung (EG) 883/2004 gelte. Weder von den nationalen Gerichten noch vom EuGH sei bisher die Frage beantwortet worden, ob die Bindungswirkung wirklich absolut sei oder es doch Grenzen dafür gebe, ob eine Zurückziehung von A1-Formularen nur ex nunc oder auch ex tunc möglich sei und ob auch nationale Bescheide Bindungswirkung entfalten könnten. Darüber hinaus würden die Voraussetzungen für eine Entsendung wegen Verletzung des sogenannten "Ablöseverbots" nicht vorliegen. Es sei zu untersuchen, ob die zeitlich nach der Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides der revisionswerbenden Gebietskrankenkasse vom ungarischen Träger ausgestellten A1-Formulare "stärker" seien als der genannte Bescheid. Komme nämlich auch einem nationalen Bescheid Bindungswirkung zu, so wäre auch der ungarische Träger daran gebunden und dürfte nachträglich kein A1-Formular (mit Rückwirkung) ausstellen. Ein nationaler Bescheid über die Pflichtversicherung in grenzüberschreitenden Sachverhalten erfülle die Definition für ein "Dokument" iSd Art. 5 der Verordnung (EG) 987/2009, dem Bindungswirkung zukomme. Den A1- Formularen komme keine absolute Bindungswirkung zu. Da diese auf der Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit beruhe, müsse sie wegfallen können, wenn der ausstellende Mitgliedstaat gröblich gegen diese Verpflichtung verstoße. Ohne loyale Zusammenarbeit könne auch die Bindungswirkung nicht absolut sein. Andernfalls hätte es der ausstellende Mitgliedstaat in der Hand, auch in jenen Fällen, in denen ein A1-Formular klar im Widerspruch zur Verordnung (EG) 863/2004 stehe, aber trotzdem nicht zurückgezogen werde, dennoch den Beschäftigungsmitgliedstaat weiterhin zu binden und diesem jegliche Möglichkeit einer Herstellung des gesetzlichen Zustandes zu nehmen.

29 Das vom EuGH als ultima ratio angebotene Vertragsverletzungsverfahren sei keine realistische Option. In der Realität werde ein Mitgliedstaat gegen einen anderen Mitgliedstaat vor dem EuGH nur dann vorgehen, wenn es sich um ein schwerwiegendes politisches Problem zwischen zwei Mitgliedstaaten handle. Auffassungsunterschiede darüber, in welchen der beiden Mitgliedstaaten einige Dienstnehmer korrekterweise versichert sein sollen, würden nie als so gewichtig angesehen werden, dass das hochpolitische Instrument eines Vertragsverletzungsverfahrens (nach Art. 259 AEUV) eingesetzt würde. Daher bestehe in der politischen Realität diese ultima ratio nicht. Es sollte nicht darauf Bedacht genommen werden, welche Maßnahmen theoretisch - aber niemals praktisch - ergriffen werden könnten, sondern es sei nach effektiven Wegen zur Rechtsdurchsetzung zu suchen, die auch realistischerweise zu Lösungen führen könnten. Es sei also zu untersuchen, ob beide Seiten loyal zusammengearbeitet hätten. Die Chronologie mache deutlich, dass Österreich sich bemüht habe, sämtliche dafür vorgesehenen Schritte zu ergreifen. Es seien alle Stufen des Dialogverfahrens durchlaufen worden. Die Verwaltungskommission habe in der Folge einstimmig (also auch mit der Zustimmung Ungarns) festgelegt, was genau unter dem Ablöseverbot zu verstehen sei, nämlich auch der Fall, dass ein anderer Dienstgeber neues Personal an dieselbe Stelle des Beschäftigungsstaates entsende. Es treffe zwar zu, dass Beschlüsse der Verwaltungskommission, wozu auch der praktische Leitfaden zähle, keine unmittelbar verbindliche Wirkung hätten. Allerdings würden sie doch die von den Mitgliedstaaten und auch von der Europäischen Kommission getragene Rechtsauslegung dokumentieren und daher einen hohen Wert für alle Mitgliedstaaten darstellen. Solche Beschlüsse müssten als Grundlage für die erforderliche loyale Zusammenarbeit betrachtet werden. Ein Mitgliedstaat, der zunächst einem solchen Auslegungsbeschluss zustimme, sich dann aber weigere, diesen auch umzusetzen, habe aus der Sicht des revisionswerbenden Bundesministers den Pfad der loyalen Zusammenarbeit verlassen. Dennoch sei auch hinsichtlich der Entsendung durch die drittmitbeteiligte Partei von Österreich erneut das Dialogverfahren begonnen worden, um tatsächlich sämtliche vom EuGH vorgegebenen Verpflichtungen zur loyalen Zusammenarbeit voll zu erfüllen.

30 Im vorliegenden Fall würde das Ablöseverbot auch ohne Festlegung der Verwaltungskommission greifen, weil die zweit- und drittmitbeteiligte Partei nicht nur einen sehr ähnlichen Namen hätten, sondern - wie von der

erstrevisionswerbenden Gebietskrankenkasse in ihrem Bescheid ausgeführt worden sei - auch hinsichtlich der organisatorischen Struktur (z.B. dieselbe Adresse) und zum Teil auch hinsichtlich der entsandten Dienstnehmer weitgehend identisch seien. Selbst wenn das Ablöseverbot nur für ein- und denselben Dienstgeber gegolten hätte (wenn also die Verwaltungskommission sich für ein restriktiveres Verständnis entschieden hätte), wäre das Ablöseverbot bei dieser Firmenkonstruktion dennoch zum Tragen gekommen. Die Weigerung des ungarischen Trägers, hinsichtlich der von der drittmitbeteiligten Partei entsandten Dienstnehmer die A1- Formulare zurückzuziehen, widerspreche der Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit. Man könne Österreich nicht vorwerfen, nicht alles versucht zu haben, um eine Lösung zu erreichen. Man könne sich die Frage stellen, ob es nicht ein gelinderes Mittel gegeben hätte, um der Auslegung des Ablöseverbotes durch die Verwaltungskommission zum Durchbruch zu verhelfen. Die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch Österreich gegen Ungarn sei keine Option.

31 Ungarn habe darauf hingewiesen, dass nur eine gerichtliche Entscheidung die auch von Ungarn gesehene Patt-Situation lösen könne und dass das nationale ungarische Recht einer Zurückziehung der A1-Formulare entgegenstünde. Eine gerichtliche Entscheidung in Ungarn sei nicht zu erwarten. Weder der Dienstgeber noch die entsandten Dienstnehmer und auch nicht die ungarische Sozialversicherung dürften ein Interesse an einer vom status quo abweichenden Lösung haben. Eine Parteistellung z.B. der erstrevisionswerbenden Gebietskrankenkasse in Ungarn sei nicht gegeben. Daher sei der einzige Weg, eine Entscheidung in der Sache herbeizuführen, die bescheidmäßige Feststellung der Pflichtversicherung trotz Vorliegens der A1-Formulare des ungarischen Trägers gewesen. Nur so könnten die Frage der Versicherungszuständigkeit geprüft und allenfalls offene europarechtliche Fragen hinsichtlich der Tragweite des Ablöseverbots an den EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens herangetragen werden. Ein solcher Schritt sei in Ungarn nicht zu erwarten.

32 Abschließend sei darauf hinzuweisen, dass auch in anderen Mitgliedstaaten den A1-Formularen durch Gerichte die absolute Bindungswirkung abgesprochen worden sei, z.B. durch die französische Cour de Cassation, Nr. 1079, Urteil vom 11. März 2014. Darüber hinaus gehe der revisionswerbende Bundesminister von einer Bindung Ungarns an den erstinstanzlichen Bescheid der erstrevisionswerbenden Gebietskrankenkasse aus. Die vom ungarischen Träger danach ausgestellten A1-Formulare seien rechtswidrig. Eine Zurückziehung der A1-Formulare könne auch rückwirkend (ex tunc) erfolgen.

33 Mit Beschluss vom 14. September 2016, EU 2016/0002, 0003, hat der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) nach Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

"1. Gilt die in Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit normierte Bindungswirkung von Dokumenten im Sinn des Art. 19 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 auch in einem Verfahren vor einem Gericht im Sinn des Art. 267 AEUV?

2. Für den Fall, dass nicht schon die Frage 1. verneint wird:

a) Gilt die genannte Bindungswirkung auch dann, wenn zuvor

ein Verfahren vor der Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit stattgefunden hat, das weder zu einer Einigung noch zu einer Zurückziehung der strittigen Dokumente geführt hat?

b) Gilt die genannte Bindungswirkung auch dann, wenn ein

Dokument "A1" erst ausgestellt wird, nachdem der Aufnahmemitgliedstaat formell die Pflichtversicherung nach seinen Rechtsvorschriften festgestellt hat? Gilt die Bindungswirkung in diesen Fällen auch rückwirkend?

3. Für den Fall, dass sich unter bestimmten Voraussetzungen

eine beschränkte Bindungswirkung von Dokumenten im Sinn des Art. 19 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 ergibt:

     Widerspricht es dem in Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG)

Nr. 883/2004 enthaltenen Ablöseverbot, wenn die Ablöse nicht in

Form einer Entsendung durch denselben Dienstgeber erfolgt, sondern

durch einen weiteren Dienstgeber? Spielt es dabei eine Rolle,

a)        ob dieser Dienstgeber im selben Mitgliedstaat wie der

erste Dienstgeber seinen Sitz hat oder

b)        ob zwischen dem ersten und dem zweiten entsendenden

Dienstgeber personelle und/oder organisatorische Verflechtungen bestehen?"

34 Mit Urteil vom 6.9.2018, C-527/16, Alpenrind, hat der EuGH für Recht erkannt:

"1. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1244/2010 der Kommission vom 9. Dezember 2010 geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung ausgestellte A1- Bescheinigung nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist.

2. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung ausgestellte A1- Bescheinigung, solange sie von dem Mitgliedstaat, in dem sie ausgestellt wurde, weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist, auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte verbindlich ist, wenn die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats und des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, die Verwaltungskommission angerufen haben und diese zu dem Ergebnis gelangt ist, dass die Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte. Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 987/2009 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung dahin auszulegen, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung ausgestellte A1- Bescheinigung auch dann sowohl für die Träger der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, als auch für dessen Gerichte - gegebenenfalls rückwirkend - verbindlich ist, wenn die Bescheinigung erst ausgestellt wurde, nachdem der letztgenannte Mitgliedstaat festgestellt hat, dass der betreffende Arbeitnehmer nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert ist.

3. Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 1244/2010 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein von einem Arbeitgeber zur Ausführung einer Arbeit in einen anderen Mitgliedstaat entsandter Arbeitnehmer, der dort einen anderen, von einem anderen Arbeitgeber entsandten Arbeitnehmer ablöst, im Sinne dieser Bestimmung ¿eine andere Person ablöst', so dass er nicht die darin vorgesehene Sonderregel in Anspruch nehmen kann, um weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu unterliegen, in dem sein Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Arbeitgeber der beiden betreffenden Arbeitnehmer ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen."

35 Zur Beantwortung der ersten Frage führte der EuGH in Rz 46 Folgendes aus:

"46 Könnte der zuständige nationale Träger, abgesehen von Fällen des Betrugs oder des Rechtsmissbrauchs, eine A1- Bescheinigung von einem Gericht des Aufnahmemitgliedstaats des betreffenden Arbeitnehmers für ungültig erklären lassen, wäre daher das auf der vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Trägern der Mitgliedstaaten beruhende System gefährdet (vgl. in diesem Sinne, zu den Bescheinigungen E 101, Urteile vom 26. Januar 2006, Herbosch Kiere, C-2/05, EU:C:2006:69, Rn. 30, vom 27. April 2017, A-Rosa Flussschiff, C-620/15, EU:C:2017:309, Rn. 47, sowie vom 6. Februar 2018, Altun u. a., C-359/16, EU:C:2018:63, Rn. 54, 55, 60 und 61)."

36 Zum Verständnis dieses Begründungsteils des Urteils des EuGH sind die Ausführungen des Generalanwalts Henrik Saugmandsgaard Øe in seinen Schlussanträgen vom 31. Januar 2018, C- 527/16, Alpenrind, Fußnote 17, aufschlussreich:

"Das vorlegende Gericht (der Verwaltungsgerichtshof) hat in der Vorlageentscheidung keinen Anhaltspunkt dafür geliefert, dass der Sachverhalt des bei ihm anhängigen Rechtsstreits auf einen Betrug oder einen Rechtsmissbrauch hindeuten könnte. Ich gehe daher davon aus, dass sich die erste Vorlagefrage nicht auf die Sonderfälle des Betrugs oder des Missbrauchs bezieht, sondern die allgemeinere Frage betrifft, ob das portable Dokument A1 die Gerichte der Mitgliedstaaten bindet. Siehe auch Nr. 77 der vorliegenden Schlussanträge. Zu dem Fall, dass ein Gericht des Aufnahmemitgliedstaats feststellen sollte, dass die Bescheinigung E 101 auf betrügerische Weise erlangt oder geltend gemacht wurde, vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Altun u. a. (C- 359/16, EU:C:2017:850)."

37 Den Schlussanträgen Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe vom 9. November 2017, C-359/16, Altun, sind nähere Ausführungen zu den Begriffen Betrug und Rechtsmissbrauch sowie zu einem aktuellen Gesetzgebungsverfahren zu entnehmen, in dem die Verordnungen (EG) 883/2004 und 987/2009 auf der Grundlage eines von der Kommission am 13. Dezember 2016 vorgelegten Vorschlags geändert werden sollen. Zu den von der Kommission vorgeschlagenen Änderungen gehört u. a. die Aufnahme einer Definition des Begriffs "Betrug" in Art. 1 der Verordnung (EG) 987/2009 und genauer Fristen für die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Ausstellung der Bescheinigung E 101 (jetzt: A1) durch den ausstellenden Träger in Art. 5 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung und gegebenenfalls der Widerruf oder die Berichtigung dieser Bescheinigung auf Antrag einer zuständigen Stelle eines anderen Mitgliedstaats.

38 Zur Beantwortung der dritten Frage führte der EuGH ua Folgendes aus:

"81 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die dritte Frage nur für den Fall gestellt wurde, dass der Gerichtshof auf die zweite Frage antwortet, dass die nach der Antwort auf die erste Frage bestehende Bindungswirkung der A1-Bescheinigung in einer der in der zweiten Frage beschriebenen Fallkonstellationen beschränkt werden kann.

(...)

83 Wie die österreichische und die deutsche Regierung sowie die Kommission im Wesentlichen geltend machen, betrifft die dritte Frage, da sie auf die Tragweite der in Art. 12 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehenen Bedingung abzielt, wonach die entsandte Person nur dann weiterhin den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem der Arbeitgeber gewöhnlich tätig ist, unterliegen kann, wenn sie ¿nicht eine andere Person ablöst' (im Folgenden: Ablöseverbot), den eigentlichen Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits. Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht nämlich wissen, welcher der von den beiden Mitgliedstaaten, die ihre Meinungsverschiedenheit der Verwaltungskommission unterbreitet haben, vertretenen Auslegungen der Vorzug zu geben ist, wobei ihre unterschiedlichen Auslegungen der Tragweite des Ablöseverbots nach den Angaben in der dem Gerichtshof vorgelegten Akte zu der Unstimmigkeit zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens hinsichtlich der auf die betreffenden Arbeitnehmer anwendbaren Rechtsvorschriften geführt haben.

(...)

85 Unter diesen Umständen ist die dritte Vorlagefrage zu beantworten, auch wenn nach den Antworten auf die erste und die zweite Frage das vorlegende Gericht an die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden A1-Bescheinigungen gebunden ist, solange sie nicht vom zuständigen ungarischen Träger widerrufen oder von den ungarischen Gerichten für ungültig erklärt wurden."

39 Die Revisionen sind nicht berechtigt.

40 Für die im streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Februar 2012 bis 13. Dezember 2013 von der drittmitbeteiligten Partei beschäftigten 258 Mitarbeiter hat der zuständige ungarische Sozialversicherungsträger - teilweise rückwirkend und teilweise in Fällen, in denen der österreichische Sozialversicherungsträger bereits mit (nicht rechtskräftigem) Bescheid eine Pflichtversicherung des betreffenden Mitarbeiters nach österreichischen Rechtsvorschriften festgestellt hatte - Bescheinigungen über die Anwendung der ungarischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit gemäß Art. 11 bis 16 der Verordnung (EG) 883/2004 und Art. 19 der Verordnung (EG) 987/2009 (A1-Dokument bzw. "portable document A1") ausgestellt. In diesen Bescheinigungen ist jeweils unter Punkt 5.1. und 5.2. die A GmbH als Arbeitgeber an dem Ort, an dem eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird, genannt.

41 Eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) 1244/2010 geänderten Fassung ausgestellte A1-Bescheinigung ist - abgesehen von den Fällen des Betrugs oder des Rechtsmissbrauchs - nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich.

42 Weder den Feststellungen des Verwaltungsgerichts noch dem Vorbringen der revisionswerbenden Parteien sind Hinweise zu entnehmen, die auf einen Betrug oder einen Rechtsmissbrauch (wie etwa eine Irreführung des ungarischen Sozialversicherungsträgers durch die drittmitbeteiligte Partei) hindeuten. Vielmehr ging es um unterschiedliche Rechtsansichten hinsichtlich des Ablöseverbots, die nunmehr vom EuGH geklärt wurden.

43 Auf die gegenständlichen Beschäftigungsverhältnisse ist somit ungarisches Sozialversicherungsrecht anzuwenden, ohne dass es auf die Frage des Vorliegens einer GesBR ankommt. Der erstrevisionswerbenden Gebietskrankenkasse fehlte zur Feststellung der Pflichtversicherung der genannten Beschäftigten mit den mitbeteiligten Parteien als Dienstgeber die internationale Zuständigkeit (VwGH 16.3.2011, 2010/08/0231). Das Verwaltungsgericht hat die genannten Bescheide zu Recht ersatzlos aufgehoben.

44 Die Revisionen waren gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

45 Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 49 Abs. 6 VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 (vgl. dazu VwGH 11.5.2017, Ro 2016/04/0048, mwN).

Wien, am 10. Oktober 2018

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RO2016080013.J00

Im RIS seit

14.01.2019

Zuletzt aktualisiert am

31.01.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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