TE Vwgh Erkenntnis 2018/10/10 Ra 2016/08/0176

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Veröffentlicht am 10.10.2018
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Index

E3R E05204020;
E6J;
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz;

Norm

32004R0883 Koordinierung Soziale Sicherheit Art12 Abs1;
62016CJ0359 Altun VORAB;
62016CJ0527 Alpenrind VORAB;
ASVG §4 Abs2;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision der A GmbH in W, vertreten durch Mag. Thomas Stenitzer und Mag. Kurt Schick, Rechtsanwälte in 2136 Laa/Thaya, Rathausgasse 4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Oktober 2016, Zl. W167 2110685- 1/15E, betreffend Beitragszuschlag nach dem ASVG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Niederösterreichische Gebietskrankenkasse; weitere Partei: Bundesministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis verhängte das Bundesverwaltungsgericht - in Bestätigung eines Bescheides der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse (im Folgenden: GKK) - gegenüber der revisionswerbenden Gesellschaft gemäß § 113 Abs. 1 Z 1 iVm Abs. 2 ASVG einen Beitragszuschlag in der Höhe von EUR 2.800,--, weil vier namentlich genannte Dienstnehmer nicht vor Arbeitsantritt zur Pflichtversicherung angemeldet worden seien.

2 Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass am 24. Oktober 2013 eine Baustellenkontrolle durch Organe der Finanzpolizei stattgefunden habe. Dabei seien vier Personen bei Arbeiten für die revisionswerbende Gesellschaft angetroffen worden, ohne zur Sozialversicherung in Österreich oder der Slowakei angemeldet zu sein. Sie hätten Fassadenarbeiten verrichtet. Im Zuge der Kontrolle seien A1-Formulare und Arbeitsverträge mit einem slowakischen Unternehmen vorgelegt worden. Diese Arbeitsverträge hätten die betretenen Personen weder gesehen noch unterzeichnet. Bei dem slowakischen Unternehmen handle es sich um eine Scheinfirma.

3 Die fehlende Anmeldung zur Sozialversicherung in der Slowakei ergebe sich aus der von der GKK eingeholten Information der Slowakischen Nationalen Arbeitsinspektion, wonach das slowakische Unternehmen nicht als Dienstgeberin in der Datenbank der slowakischen Sozialversicherung registriert sei. Auf Grund der Auskunft der Slowakischen Nationalen Arbeitsinspektion, dass das slowakische Unternehmen gemeinsam mit mehreren dutzend anderen Unternehmen an der angegebenen Adresse in Bratislava gemeldet sei, keine Geschäftsräumlichkeiten habe und nicht bei der slowakischen Sozialversicherung als Dienstgeberin registriert sei, sei von einem Scheinunternehmen auszugehen.

4 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass zwar A1-Formulare und ein Werkvertrag zwischen der revisionswerbenden Gesellschaft und dem slowakischen Unternehmen vorgelegt worden seien. Es sei aber festgestellt worden, dass die Betretenen weder in Österreich noch in der Slowakei zur Sozialversicherung gemeldet gewesen seien sowie dass die Betretenen das slowakische Unternehmen nicht gekannt und auch keine Arbeitsverträge mit diesem geschlossen hätten. Im Gegensatz dazu seien die Betretenen unstrittig auf der Baustelle der revisionswerbenden Gesellschaft tätig gewesen. Diese sei daher in einer Gesamtschau gemäß § 35 Abs. 1 ASVG als Dienstgeberin anzusehen.

5 In der Folge bejahte das Bundesverwaltungsgericht das Überwiegen der Merkmale persönlicher Abhängigkeit im Sinn des § 4 Abs. 2 ASVG. Da demnach die Pflichtversicherung nach dem ASVG eingetreten sei und ein Meldeverstoß vorliege, sei der Beitragszuschlag - unabhängig von einem Verschulden der Revisionswerberin - zu Recht vorgeschrieben worden.

6 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

Über die gegen dieses Erkenntnis gerichtete Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem die GKK eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, erwogen:

7 Die revisionswerbende Partei bringt zur Zulässigkeit der Revision insbesondere vor, das Bundesverwaltungsgericht habe verkannt, dass für die betroffenen Dienstnehmer A1-Bescheinigungen vorgelegt worden seien.

8 Damit wird insoweit eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG aufgeworfen, als das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Bindungswirkung derartiger Bescheinigungen abgewichen ist.

9 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat im Urteil vom 6.9.2018, C-527/16, in Beantwortung eines Vorabentscheidungsersuchens des Verwaltungsgerichtshofes klargestellt, dass eine vom zuständigen Träger eines Mitgliedstaats aufgrund von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ausgestellte A1-Bescheinigung nicht nur für die Träger des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedstaats verbindlich ist.

10 Der EuGH hat in seinem Urteil vom 6.2.2018, C-359/16, zwar - noch zu E 101-Bescheinigungen nach der Verordnung (EG) Nr. 1408/71 - auch ausgeführt, dass sich Rechtsunterworfene nicht in betrügerischer oder missbräuchlicher Weise auf diese Bindungswirkung berufen können, wobei sich ein Betrug in Bezug auf die Ausstellung der Bescheinigungen in objektiver Hinsicht aus der Nichterfüllung der rechtlichen Voraussetzungen und in subjektiver Hinsicht aus der Absicht, diese Voraussetzungen zu umgehen, ergibt. Demnach kann sich die betrügerische Erwirkung einer Bescheinigung in einer willentlichen Handlung - wie der unzutreffenden Darstellung der tatsächlichen Situation des entsandten Arbeitnehmers oder des entsendenden Unternehmens - oder einer willentlichen Unterlassung - wie dem Verschweigen einer relevanten Information - bestehen, die in Umgehungsabsicht erfolgt (vgl. Rn. 53 des Urteils). Aber nur dann, wenn der ausstellende Träger nach Vorlage entsprechender Beweise nicht innerhalb angemessener Frist eine erneute Überprüfung vornimmt, kann ein nationales Gericht des Beschäftigungsstaates die betreffenden Bescheinigungen - nach Durchführung eines Verfahrens gegen die Person, die verdächtigt wird, entsandte Arbeitnehmer unter Verwendung von betrügerisch erlangten Bescheinigungen eingesetzt zu haben - außer Acht lassen (vgl. Rn. 54 bis 56 und sowie 60 und 61 des Urteils). Diese Rechtsprechung ist auf die A1- Bescheinigungen nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zu übertragen (vgl. den Hinweis im Urteil des EuGH 6.9.2018, C- 527/16, Rn. 46, auf das Urteil C-359/16).

11 Im vorliegenden Fall hat das Bundesverwaltungsgericht festgestellt, dass A1-Bescheinigungen für die betreffenden Dienstnehmer vorgelegt worden seien, dass es sich bei dem entsendenden Unternehmen aber um ein Scheinunternehmen gehandelt habe. Damit würden die rechtlichen Voraussetzungen für eine Pflichtversicherung in der Slowakei gemäß Art. 12 Abs. 1 der VO 883/2004 mangels dort entfalteter Tätigkeit des Dienstgebers und damit auch die Voraussetzungen für die Ausstellung einer A1- Bescheinigung nicht vorliegen. Das Bundesverwaltungsgericht hat aber nicht festgestellt - und es gibt dafür nach der Aktenlage auch keine Anhaltspunkte -, dass der slowakische Träger mit diesem Sachverhalt konfrontiert und um die Überprüfung der Bescheinigungen ersucht worden wäre oder sie etwa von sich aus zurückgezogen hätte. Bei dieser Ausgangslage war weiterhin von der Bindungswirkung der A1-Bescheinigungen auszugehen, deren Echtheit im bisherigen Verfahren nicht in Frage gestellt wurde. Sie standen daher dem Eintritt einer Pflichtversicherung der betreffenden Dienstnehmer in Österreich und damit auch der Annahme einer Meldepflichtverletzung durch die Dienstgeberin entgegen.

12 Da das Bundesverwaltungsgericht dies verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

13 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil zum einen die geltend gemachte Umsatzsteuer in den Pauschalbeträgen nach der genannten Verordnung schon enthalten ist, und zum anderen die Eingabengebühr im Hinblick auf die sachliche Abgabenfreiheit nach § 110 ASVG nicht zu entrichten war.

Wien, am 10. Oktober 2018

Gerichtsentscheidung

EuGH 62016CJ0359 Altun VORAB
EuGH 62016CJ0527 Alpenrind VORAB

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2016080176.L00

Im RIS seit

30.10.2018

Zuletzt aktualisiert am

15.01.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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