TE Vfgh Erkenntnis 2016/9/23 E1200/2016

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Veröffentlicht am 23.09.2016
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
Dublin III-VO vom 26.06.2013, EU 604/2013 Art17 Abs1
AsylG 2005 §5
FremdenpolizeiG 2005 §61

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung des Antrags auf internationalen Schutz und Feststellung der Zuständigkeit Italiens sowie Anordnung der Außerlandesbringung infolge Unterlassens eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens bzw Außerachtlassens des konkreten Sachverhalts

Spruch

I. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl Nr 390/1973) verletzt worden.

Das Erkenntnis wird aufgehoben.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seiner Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I.       Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1.        Der Beschwerdeführer, ein 58-jähriger iranischer Staatsangehöriger, stellte am 8. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Vor der Einreise nach Österreich ist er mit einem Visum für den Schengenraum aus dem Iran kommend nach Italien eingereist. Auf Anfrage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl stimmten die italienischen Asylbehörden am 30. Dezember 2015 der Übernahme des Beschwerdeführers zu.

Der Beschwerdeführer leidet an Parkinson, Depressionen, arterieller Hypertonie und ihm wurde eine Gefäßstütze ("Stent") für das Herzkranzgefäß eingesetzt. Auf Grund seiner Krankheiten ersuchte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die italienischen Behörden, für den Beschwerdeführer eine individuelle Betreuungszusage abzugeben und übersandte eine Liste an Medikamenten, die der Beschwerdeführer benötigt. Am 31. März 2016 antworteten die italienischen Behörden mit einem Schreiben folgenden Inhalts:

"[W]e can't give individual garantuees but we sent a letter in which we assicure all the needed cares to vulnerable persons (see enclosing). […]"

Diesem Schreiben war das angekündigte Schriftstück angeschlossen, das den Titel "Circular Letter" trägt, vom italienischen Innenministerium an alle Dublin-Einheiten ("To all Dublin Units") gerichtet ist und folgenden Inhalt hat:

"Re: Dublin Regulation No. 604/2013.

Guarantees for vulnerable cases: family groups with children.

Following our Circular Letter dated June 9th 2015, please find below an updated list of the SPRAR Projects [ein durch den italienischen Staat finanziertes Zweitunterbringungssystem in Italien] where asylum seeker family groups with children will be accommodated, in full respect of their fundamental rights and specific vulnerabilities.

[Liste mit insgesamt 85 Unterbringungsplätzen geordnet nach Regionen und Provinzen]" Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen

2.       Mit Bescheid vom 21. April 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß §5 Abs1 Asylgesetz zurück und erklärte Italien für die Prüfung des Antrages zuständig. Unter einem wurde die Außerlandesbringung des Beschwerdeführers angeordnet und seine Abschiebung nach Italien für zulässig erklärt.

3.       Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht ab. Es verneinte eine Grundrechtsverletzung durch die Überstellung des Beschwerdeführers nach Italien und damit die Verpflichtung Österreichs zum Selbsteintritt nach Art17 Abs1 Dublin-III-Verordnung ua. wie folgt:

"Das Asyl- und Refoulementschutzverfahren in Italien und die Situation von Asylwerbern dort geben […] keinen Anlass, ein 'real risk' einer Verletzung von Artikel 3 EMRK zu befürchten.

Dublin-Rückkehrer haben in Italien prinzipiell vollen Zugang zum italienischen Asylsystem. Gegen Entscheidungen der Asylbehörde ist eine Beschwerde vor dem Verwaltungsgericht möglich, dieser Beschwerde kommt aufschiebende Wirkung zu. Asylwerber haben während des gesamten Asylverfahrens, einschließlich der Beschwerdephase, das Recht auf Unterbringung in Unterbringungszentren für Asylwerber und bieten diese Unterbringungszentren Unterkunft, medizinische Basisversorgung, Bildung, psychologische Beratung und Hilfe bei der Arbeitssuche. Asylwerber haben in Italien das Recht auf materielle Versorgung während des gesamten Asylverfahrens und der Beschwerdephase. Dieses Recht umfasst Unterbringung, Verpflegung, Kleidung und finanzielle Unterstützung.

Italien hat auf die zuletzt angespannte Lage und den unerwarteten Flüchtlingsstrom in Europa adäquat reagiert und kann derzeit nicht davon ausgegangen werden, dass das dortige Asylsystem mit systemischen Mängeln behaftet ist. Eine besondere Vulnerabilität des Beschwerdeführers, bei dem es sich um einen jungen, allein reisenden Mann ohne schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigung handelt, ist nicht gegeben.

[…]

Im kürzlich ergangenen EGMR-Urteil vom 04.11.2014 in der Sache Tarakhel/Schweiz, 29217/12, wiederholte der Gerichtshof, dass die derzeitige allgemeine Situation von Asylsuchenden in Italien keineswegs mit jener in Griechenland, wie sie im Fall M.S.S./Belgien und Griechenland festgestellt wurde, zu vergleichen ist. Des Weiteren obliegt es dem Aufenthaltsstaat, vor Überstellung der im Verfahren betroffenen Asylwerber eine Zusicherung für deren Aufnahme und Unterbringung von Italien zu erhalten. Im dieser Entscheidung zugrundeliegenden Fall handelte es sich jedoch um eine mehrköpfige Familie einschließlich sechs minderjähriger Kinder, wobei es sicherzustellen galt, dass die gesamte Familie in Italien gemeinsam und dem Alter der Kinder entsprechend untergebracht wird. Das gegenständliche Verfahren betrifft jedoch weder eine Familie mit Kindern, noch eine vulnerable Person, sondern einen jungen, gesunden und volljährigen Mann. Die Einholung einer individuellen Zusicherung der Unterbringung und Versorgung seitens Italiens war daher nicht notwendig.

[…]

Die Ausführungen des Antragstellers, in Italien weder Unterkunft, noch Versorgung zu erhalten, sind letztlich nicht geeignet, um eine Anordnung zur Außerlandesbringung als unzulässig erscheinen zu lassen. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass er selbst vorbrachte, nach seiner Ankunft in Italien über ein Jahr in einem örtlichen Flüchtlingslager untergebracht worden zu sein.

[…]

Hervorzuheben ist, dass aufgrund der besonderen Gelagertheit des vorliegenden Falles die Behörde erster Instanz ausdrücklich die italienische Partnerbehörde von der besonderen Situation des Antragstellers in Kenntnis setzte, sowie letztlich im Rahmen des erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens ausdrücklich an die italienische Partnerbehörde herantrat, um eine Zusicherung der geregelten Aufnahme und Unterbringung bzw. adäquaten Behandlung bestätigt zu erhalten. Die adäquate Aufnahme des Beschwerdeführers bei Überstellung nach Italien ist einerseits durch das erhaltene Antwortschreiben der italienischen Behörden vom 30.12.2015, worin ausdrücklich gebeten wird, über die besondere Gesundheitssituation und sonstige Aspekte einer Vulnerabilität im Vorfeld Auskunft zu geben, im Zusammenhang mit dem Schreiben um Ersuchen der Zusicherung der ordnungsgemäßen Aufnahme und auch Zusicherung der adäquaten medizinischen Betreuung und Behandlung sowie Verabreichung notwendiger Medikamente unter genauer Auflistung derselben im Zusammenhang mit der eingelangten Einzelfallzusicherung zu vorliegenden Falls unter genauer Auflistung der Unterbringungsmöglichkeiten sowie der Zusicherung des vollen Respekts der Menschenrechte und der speziellen Bedürfnisse als hinreichend garantiert." Zitat ohne die im Original enthaltenen Hervorhebungen

Eine Verletzung in Art8 EMRK – der Beschwerdeführer ist mit seinem Lebensgefährten, einem iranischen Staatsangehörigen, dessen Asylverfahren in Österreich zugelassen wurde, eingereist – verneinte das Bundesverwaltungsgericht ebenso.

4.       Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses, in eventu die Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof beantragt wird.

5.       Das Bundesverwaltungsgericht hat die Bezug habenden Akten vorgelegt, ohne eine Gegenschrift zu erstatten.

II.      Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet:

1.       Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn das Verwaltungsgericht dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn es bei Erlassung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten des Verwaltungsgerichtes, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

2.       Solche Fehler sind dem Bundesverwaltungsgericht unterlaufen:

2.1.    Das Bundesverwaltungsgericht geht zunächst aktenwidrig davon aus, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen "jungen, allein reisenden Mann ohne schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigung" handelt und verneint das Vorliegen einer besonderen Vulnerabilität. Wie sich aus dem Akt des Bundesverwaltungsgerichtes jedoch ergibt, ist der Beschwerdeführer ein 58-jähriger Mann, der mit seinem Lebensgefährten aus dem Iran nach Österreich gereist ist und der ua. deshalb gesundheitlich beeinträchtigt ist, weil er an Parkinson leidet und ihm ein "Stent" in ein Herzkranzgefäß eingesetzt wurde.

2.2.    Auf Grund der aktenwidrigen Annahme, dass es sich beim Beschwerdeführer um einen jungen, gesunden Mann handle, verneint das Bundesverwaltungsgericht weiters, dass die Einholung einer individuellen Zusicherung der Unterbringung und der Versorgung des Beschwerdeführers in Italien notwendig sei. Dazu führt es aus, dass der Beschwerdeführer vorgebracht habe, nach seiner Ankunft in Italien über ein Jahr in einem örtlichen Flüchtlingslager untergebracht worden zu sein. Dem Akt des Bundesverwaltungsgerichtes, konkret der Niederschrift von der Einvernahme des Beschwerdeführers durch einen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 3. Februar 2016, ist aber zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer, der sich an das genaue Datum der Einreise nach Italien auf Grund seiner Krankheit nicht erinnern könne, von einem kurzen Aufenthalt in Italien ausging ("Ich denke mal eine Woche").

2.3.    Abschließend sah das Bundesverwaltungsgericht die "adäquate Aufnahme des Beschwerdeführers bei Überstellung nach Italien […] als hinreichend garantiert" an, da es – abermals aktenwidrig – von einer "eingelangten Einzelfallzusicherung" durch die italienischen Behörden ausging, obwohl diese die Möglichkeit der Zusicherung einer individuellen Betreuung des Beschwerdeführers im Schreiben vom 31. März 2016 ausdrücklich verneint haben. Dass das diesem Schreiben angeschlossene Rundschreiben ("Circular Letter") des italienischen Innenministeriums keinesfalls als individuelle Betreuungszusage gilt, und zwar weder abstrakt (vgl. dazu schon VfGH 30.6.2016, E449-450/2016 ua.) noch in Bezug auf den konkreten Fall (Überstellung eines gesundheitlich beeinträchtigten Mannes nach Italien und nicht einer Familie mit Kindern), sei festgestellt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch diese Fehler ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren unterlassen, weshalb das angefochtene Erkenntnis schon deshalb mit Verfassungswidrigkeit belastet ist.

III.    Ergebnis

Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden. Das Erkenntnis ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Fremdenpolizei, Außerlandesbringung, Ermittlungsverfahren

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2016:E1200.2016

Zuletzt aktualisiert am

06.06.2018
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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