TE Vwgh Erkenntnis 2018/3/21 Ra 2017/18/0474

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Veröffentlicht am 21.03.2018
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1;
AVG §52 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2017/18/0475 Ra 2017/18/0476 Ra 2017/18/0479 Ra 2017/18/0478 Ra 2017/18/0477

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Wech, über die Revision 1. des

A H R, 2. der H R, 3. der N R, 4. des A F R, 5. des M R, und

6. des Mi R, alle in W, alle vertreten durch Mag. Wolfgang Auner, Rechtsanwalt in 8700 Leoben, Parkstraße 1/I, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. November 2017,

1)

Zl. W220 2158926-1/12E, 2) Zl. W220 2158931-1/11E,

3)

Zl. W220 2158938-1/9E, 4) Zl. W220 2158929-1/9E,

5)

Zl. W220 2158934-1/9E und 6) Zl. W220 2158936-1/9E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird zurückgewiesen, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerde in Bezug auf den Status der Asylberechtigten gemäß § 3 AsylG 2005 richtet.

II. zu Recht erkannt:

In seinem übrigen Umfang wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Erstrevisionswerber ist der Ehegatte der Zweitrevisionswerberin. Die Drittrevisionswerberin ist deren minderjährige Tochter, die Viert- bis Sechstrevisionswerber sind deren minderjährige Söhne. Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige Afghanistans und stellten am 25. Oktober 2015 (für die erst- bis fünftrevisionswerbenden Parteien) bzw. am 19. Mai 2016 (für den Sechstrevisionswerber) Anträge auf internationalen Schutz im Bundesgebiet. Zum Fluchtgrund befragt, gab der Erstrevisionswerber zusammengefasst an, sein Bruder sei von den - so glaube er - Taliban entführt und getötet worden. Er selbst sei in die Entführungssache nicht involviert gewesen, es habe auch keine persönliche Konfrontation gegeben. Er wolle ein besseres Leben für seine Kinder. Die Zweitrevisionswerberin gab an, zur Entführung nichts sagen zu können. Frauen würden in Afghanistan sehr zurückgezogen leben. Ihre Kinder sollten es gut haben.

2 Mit Bescheiden vom 8. Mai 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für eine freiwillige Ausreise betrage vierzehn Tage.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

4 Begründend führte es - zusammengefasst - aus, das Fluchtvorbringen zur Entführung und Ermordung des Bruders des Erstrevisionswerbers sei aufgrund von Widersprüchlichkeiten und unkonkreten Angaben sowie dem in der mündlichen Verhandlung gesteigerten Vorbringen nicht glaubhaft. Die Zweit- und Drittrevisionswerberinnen hätten in Österreich auch keine selbstbestimmte "westliche" Lebensweise angenommen, welche einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde. Eine solche Lebensweise sei auch nicht wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden. Zur Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz führte das BVwG im Wesentlichen aus, den revisionswerbenden Parteien drohe bei einer Rückkehr nach Kabul keine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 oder 3 EMRK. Der Erstrevisionswerber sei ein gesunder Mann im erwerbsfähigen Alter mit Schulbildung und langjähriger Berufserfahrung als Schneider. Die revisionswerbenden Parteien seien der Landessprache mächtig, mit den kulturellen Gepflogenheiten vertraut und verfügten über ein soziales und familiäres Netz in Kabul. Sie hätten bereits drei Jahre in Kabul in finanziell guten Verhältnissen gelebt. Aufgrund der Berufserfahrung des Erstrevisionswerbers könne davon ausgegangen werden, dass dieser auch nach der Rückkehr die Existenz seiner Familie sichern könne. Die Stadt Kabul sei sicher erreichbar und als vergleichsweise sicher und stabil einzustufen. Auch ergebe sich aufgrund der Minderjährigkeit der dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien keine reale Gefahr, dass diese einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt seien. Es stehe den minderjährigen revisionswerbenden Parteien offen, in Kabul eine Schule zu besuchen. Da der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin einen Schulbesuch ihrer Kinder befürworteten, sei davon auszugehen, dass sie diesen ihren Kindern auch in Kabul ermöglichen würden. Es gebe keinerlei Hinweise auf Gewalt in der Familie, das Familienleben stelle sich vielmehr als sehr harmonisch dar. Es gebe auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die minderjährigen revisionswerbenden Parteien potentielle Opfer von sexuellem Missbrauch, Kinderarbeit oder von Gewalt würden, zumal sie mit ihren Eltern und der erweiterten Familie in Kabul über ein schützendes Netz verfügten. Betreffend die Rückkehrentscheidung würden - vor allem aufgrund der erst kurzen Aufenthaltsdauer seit Ende Oktober 2015 sowie der noch bestehenden starken Bindungen zum Herkunftsstaat - die öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthalts die privaten Interessen der revisionswerbenden Parteien am Verbleib im Bundesgebiet überwiegen.

5 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit im Wesentlichen geltend macht, das BVwG habe es unterlassen, zur Beurteilung des Fluchtvorbringens ergänzende Ermittlungen - etwa die Einholung eines länderkundlichen Sachverständigengutachtens - zu veranlassen. Hinsichtlich der westlichen Prägung der Zweitrevisionswerberin habe es das BVwG verabsäumt, die Integrationsanstrengungen, den Wunsch nach Bildung und auf ein selbstbestimmtes Leben entsprechend zu würdigen. Betreffend die Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz habe keine ganzheitliche Bewertung der konkreten und aktuellen Gefahrenlage stattgefunden. Bei der Rückkehrentscheidung seien nicht alle Aspekte berücksichtigt worden.

6 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8 Die Revision ist teilweise zulässig und auch teilweise

begründet.

Zu I:

9 Keine Berechtigung kommt der Revision insoweit zu, als sie die Abweisung der Anträge auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten bekämpft.

10 Soweit in der Revision zunächst pauschal Ermittlungsmängel hinsichtlich des Fluchtvorbringens moniert werden, machen die revisionswerbenden Parteien damit Verfahrensmängel geltend. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes reicht es aber nicht aus, die Außerachtlassung von Verfahrensvorschriften zu behaupten, ohne die Relevanz der genannten Verfahrensmängel darzulegen. Die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler ist in konkreter Weise darzulegen (vgl. etwa VwGH 13.12.2017, Ra 2017/01/0187, mwN). Mit dem pauschalen Vorbringen, das BVwG hätte zu einer anders lautenden Entscheidung gelangen können, wird die Relevanz der behaupteten Verfahrensmängel nicht konkret dargelegt.

11 Zur gerügten unterlassenen Beiziehung eines länderkundlichen Sachverständigen ist auszuführen, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes das BVwG in der Regel einen Sachverständigen beizuziehen hat, wenn ihm dies notwendig erscheint (vgl. VwGH 13.9.2017, Ra 2016/12/0118, mwN). Die Beiziehung eines Sachverständigen ist regelmäßig dann "notwendig" iSd § 52 Abs. 1 AVG, wenn zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts besonderes Fachwissen erforderlich ist, über das das entscheidende Organ selbst nicht verfügt (vgl. VwGH 23.11.2017, Ra 2016/11/0160). Die revisionswerbenden Parteien legen in ihren Ausführungen zur Zulässigkeit in keiner Weise dar, welche fachkundigen Schlussfolgerungen erforderlich wären, die nur ein Sachverständiger zu ziehen in der Lage wäre. Eine Notwendigkeit ist im Übrigen auch nicht ersichtlich, zumal das BVwG dem Fluchtvorbringen bereits aufgrund von Widersprüchlichkeiten und unkonkreten Angaben schlüssig die Glaubwürdigkeit absprach. Dem trat die Revision nicht entgegen.

12 Ebenso gelingt es der Revision nicht, die Einschätzung des BVwG, dass eine westliche Lebensweise nicht wesentlicher Bestandteil der Identität der Zweitrevisionswerberin geworden sei, in Zweifel zu ziehen. Das BVwG setzte sich im vorliegenden Fall detailliert mit der aktuellen Lebensweise der Zweitrevisionswerberin auseinander, würdigte das entsprechende Vorbringen und kam letztlich vertretbar zum Schluss, dass die Zweitrevisionswerberin keine Lebensweise angenommen habe, welche einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde.

13 Entgegen dem Vorbringen in der Revision setzte sich die erkennende Richterin auch mit den Alltagsbeschäftigungen der Zweitrevisionswerberin auseinander. In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof bereits ausgesprochen, dass nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, dazu führt, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0301, mwN). Der Zweitrevisionswerberin gelingt es in der vorliegenden Revision nicht, darzulegen, dass die Ansicht des BVwG, die Zweitrevisionswerberin habe keinen derart veränderten Lebensstil angenommen, welcher zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden wäre, unvertretbar ist.

Zu II:

14 Berechtigung kommt der Revision hingegen insoweit zu, als sie zutreffend darauf verweist, dass das BVwG die möglichen Gründe für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht ausreichend geprüft hat.

15 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt festgehalten, dass bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr ("real risk") einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat (vgl. VwGH 13.12.2016, Ra 2016/20/0098, mwN).

16 In diesem Zusammenhang ist im vorliegenden Revisionsfall insbesondere zu berücksichtigen, dass es sich bei den revisionswerbenden Parteien um eine Familie mit vier minderjährigen Kindern und somit - im Hinblick auf die Minderjährigkeit der dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien -

um eine besonders vulnerable und besonders schutzbedürftige Personengruppe handelt (vgl. die Definition schutzbedürftiger Personen in Art. 21 der EU-Richtlinie 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie)). Diese besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob den revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinn bereits VwGH 30.8.2017, Ra 2017/18/0089, mwN; 30.8.2017, Ra 2017/18/0036, mwN). Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die revisionswerbenden Parteien in Kabul tatsächlich vorfinden, insbesondere unter Berücksichtigung der dort herrschenden Sicherheitslage und Bewegungsfreiheit.

17 Die Ausführung des BVwG, wonach die Lage in Kabul vergleichsweise sicher und stabil sei, lässt keinen Rückschluss darauf zu, dass dies in gleicher Weise für besonders vulnerable Personen gilt. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Länderfeststellungen des BVwG zu verweisen, wonach die Mission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) in Afghanistan im Jahr 2016 die höchste Zahl an minderjährigen Opfern seit Aufzeichnungsbeginn verzeichnet habe. Die zweithöchste Zahl an zivilen Opfern sei dabei in zentralen Regionen, wozu auch die Stadt Kabul zähle, registriert worden.

18 Ausgehend davon bedarf es im gegenständlichen Fall einer genaueren, auf aktuellen Berichten beruhenden Auseinandersetzung mit der Frage, ob den (vulnerablen) revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr nach Afghanistan, insbesondere in Kabul, eine Verletzung ihrer durch Art. 3 EMRK garantierten Rechte droht. Zwar setzt sich das BVwG mit einigen Aspekten der Art. 3 EMRK-Prüfung auseinander, jedoch lässt das angefochtene Erkenntnis eine ganzheitliche Bewertung der möglichen Gefahren, insbesondere in Anbetracht der bereits ausgeführten besonderen Schutzbedürftigkeit der minderjährigen revisionswerbenden Parteien, vermissen. Die Revision rügt daher zu Recht, dass dem BVwG eine Verletzung der Begründungspflicht vorzuwerfen ist (vgl. zur Begründungspflicht im Allgemeinen etwa VwGH 29.11.2017, Ro 2017/18/0002, mwN).

19 Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten mangels Darlegung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG jedoch gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

20 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung.

Wien, am 21. März 2018

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017180474.L00

Im RIS seit

23.05.2018

Zuletzt aktualisiert am

27.06.2018
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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