TE Vwgh Erkenntnis 2018/3/15 Ra 2017/21/0203

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Veröffentlicht am 15.03.2018
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
19/05 Menschenrechte;
41/02 Asylrecht;
41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 2005 §57;
BFA-VG 2014 §9 Abs2;
MRK Art8;
VwGG §42 Abs2 Z1;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Dr. Pelant und Dr. Pfiel als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Samonig, über die Revision des B B in W, vertreten durch Mag. Susanne Singer, Rechtsanwältin in 4600 Wels, Maria-Theresia-Straße 9, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27. September 2017, Zl. G307 2149220-1/5E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005, Rückkehrentscheidung, Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung u.a. (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Serbiens, beantragte nach seiner Einreise in Österreich am 18. April 2005 erfolglos die Gewährung von Asyl.

2 Mit Bescheid vom 14. Februar 2017 sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegenüber dem im Bundesgebiet verbliebenen Revisionswerber aus, dass ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt werde. Es erließ gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Serbien zulässig sei, und setzte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise fest.

3 In seiner Begründung ging das BFA davon aus, dass der erwähnte Asylantrag mit Bescheid vom 28. April 2005 abgewiesen und die Ausweisung des Revisionswerbers verfügt worden sei. Das Verfahren über die fristgerecht eingebrachte Berufung sei am 20. November 2009 mangels polizeilicher Meldung und daher "Greifbarkeit" des Revisionswerbers eingestellt worden. Ab diesem Zeitpunkt erweise sich sein fortgesetzter Aufenthalt in Österreich als unrechtmäßig. Er sei strafrechtlich unbescholten. Auch lebten in Österreich Verwandte "wie Cousins und Onkel", wobei jedoch kein ausgeprägtes wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis vorliege. Der Revisionswerber sei in der Grundversorgung untergebracht. Da er trotz mehrjährigen Aufenthaltes keinen Abschluss eines Deutschkurses vorweisen könne, werde davon ausgegangen, dass er der deutschen Sprache kaum bzw. nur schlecht mächtig sei. Insgesamt fehlten auch sonstige Umstände, infolge derer von einer gelungenen Integration ausgegangen werden könnte. Gründe für die Unzumutbarkeit einer Rückkehr in den Herkunftsstaat lägen nicht vor.

4 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragte. Er verwies auf die rund 12-jährige Dauer seines Aufenthaltes sowie auf das Vorliegen enger sozialer Kontakte zu seinem in Österreich lebenden Freundeskreis. Die erwähnte Einstellung des Asylverfahrens sei ihm beinahe sieben Jahre lang nicht erkenntlich gewesen, weil diese "vom BFA nicht in das System eingetragen wurde" und er auch auf Grund der jahrelangen weiteren Auszahlung der Grundversorgung und Unterbleibens fremdenpolizeilicher Maßnahmen darauf habe vertrauen dürfen, dass sein weiterer Aufenthalt in Österreich rechtmäßig gewesen sei. Darüber hinaus legte der Revisionswerber im Beschwerdeverfahren ein ihm am 3. Dezember 2011 ausgestelltes "Sprachzertifikat Deutsch" zum Nachweis des erfolgreichen Erwerbs von Deutschkenntnissen auf der Niveaustufe A2 vor.

5 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 27. September 2017 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diese Beschwerde unter Abstandnahme von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Es sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 Begründend stellte das BVwG fest, das Verfahren über die vom Revisionswerber gegen die Abweisung seines Asylantrages erhobene Berufung sei mit Aktenvermerk des Asylgerichtshofes vom 20. November 2009 eingestellt und in der Folge nicht mehr fortgesetzt worden. Seitdem halte er sich unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Zwar unterhalte der Revisionswerber in Österreich soziale Kontakte zu zahlreichen Freunden, Cousins und Onkel, eine besonders intensive Beziehung, die mit der Führung eines gemeinsamen Haushaltes oder nennenswerter finanzieller Unterstützung einhergehe, habe nicht festgestellt werden können. Der Revisionswerber sei bislang beschäftigungslos und habe Leistungen aus der staatlichen Grundversorgung bezogen. Seit März 2017 arbeite er ehrenamtlich im Sozialmarkt der Volkshilfe W. Das Vorliegen eines regelmäßigen Einkommens oder von Vermögen habe nicht festgestellt werden können. Der Revisionswerber habe keine Sorgepflichten, er sei ledig, führe keine Lebensgemeinschaft und sei strafrechtlich unbescholten. Es haben keine Deutschkenntnisse eines bestimmten Niveaus festgestellt werden können. Auch abgesehen davon seien "keine besonderen weiteren Integrationsmerkmale in gesellschaftlicher, sprachlicher und beruflicher Hinsicht" erwiesen worden.

7 Rechtlich teilte das BVwG die Ansicht des BFA und verwies darauf, dass trotz des rund 12-jährigen Aufenthaltes des Revisionswerbers im Bundesgebiet keine Hinweise auf das Vorliegen einer "berücksichtigungswürdigen besonderen Integration" des Revisionswerbers in Österreich, etwa in sprachlicher, beruflicher oder gesellschaftlicher Hinsicht, zu erkennen seien. Das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthaltes des Revisionswerbers im Bundesgebiet überwiege daher sein persönliches Interesse am Verbleib. Auch konkrete Anhaltspunkte dahingehend, dass eine Abschiebung nach Serbien unzulässig wäre, seien nicht hervorgekommen.

8 Die Durchführung der in der Beschwerde beantragten mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil der Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine. In der Beschwerde sei auch kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens des BFA entgegenstehender oder darüber hinausgehender Sachverhalt konkret und substantiiert behauptet worden.

9 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortungen erstattet wurden, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

In der Revision wird schon im Rahmen der Zulässigkeitsausführungen geltend gemacht, dass das BVwG zu Unrecht in Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes von der Durchführung der beantragten Beschwerdeverhandlung abgesehen habe. Das trifft zu, weshalb sich die Revision als zulässig und als berechtigt erweist.

10 Das BVwG hat trotz der Vorlage einer den positiven Abschluss eines Deutschkurses (auf Niveaustufe A2) bescheinigenden Urkunde durch den Revisionswerber und ohne sich von dessen Sprachkenntnissen - in der ausdrücklich beantragten mündlichen Verhandlung - selbst ein Bild zu machen, eine Negativfeststellung zum Vorliegen von Deutschkenntnissen getroffen. Ebenso ist eine nähere Prüfung des in der Beschwerde geltend gemachten, in Österreich erworbenen engen Freundeskreises (laut Revision insbesondere ein Naheverhältnis zu Günter K.) unterblieben.

11 Schon von daher kann nicht davon die Rede sein, dass im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA-VG der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine (vgl. dazu allgemein etwa VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0289, Rn. 12 iVm Rn. 15, sowie VwGH 31.08.2017, Ra 2017/21/0085, Rn. 12).

Im Übrigen ist in diesem Zusammenhang zu betonen, dass es bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen - ausgenommen in eindeutigen Fällen, wovon hier ebenfalls nicht gesprochen werden kann - auch der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks bedarf (vgl. unter Vielen etwa VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0130, Rn. 16, mwN).

12 Rechtlich ist bei der Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens iSd Art. 8 EMRK geboten ist bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen.

13 Bei dieser Interessenabwägung hat das BVwG der langen Dauer des Aufenthaltes des Revisionswerbers in Österreich (von bereits damals mehr als 12 Jahren) nicht die ihr nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen, indem es für eine stattgebende Entscheidung über den langjährigen Inlandsaufenthalt hinaus unzutreffend eine berücksichtigungswürdige "besondere" Integration in Österreich für erforderlich hielt. Der Verwaltungsgerichtshof judiziert dem gegenüber in ständiger Rechtsprechung, dass bei einem mehr als 10 Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genutzt hatte, um sich sozial, beruflich und sprachlich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325, Rn. 12, mwN).

14 Bereits das Vorliegen der vom Revisionswerber ins Treffen geführten, bislang aber nicht (im Rahmen der dafür erforderlichen mündlichen Verhandlung) ohne Mangelhaftigkeit des Verfahrens geprüften sozialen und sprachlichen Integration stünde daher der Zulässigkeit einer Aufenthaltsbeendigung entgegen. Ebenso wäre das Vorliegen einer Einstellungszusage im Zusammenhang mit dem langjährigen Aufenthalt von Bedeutung (vgl. dazu etwa VwGH 26.1.2017, Ra 2016/21/0168, Rn. 33, mwN).

15 Nach dem Gesagten ist das angefochtene Erkenntnis mit - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Es war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

16 Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.

17 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 15. März 2018

Schlagworte

Besondere Rechtsgebiete

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017210203.L00

Im RIS seit

27.04.2018

Zuletzt aktualisiert am

09.05.2018
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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