Entscheidungsdatum
12.04.2018Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W236 2012640-2/10E
W236 2145136-1/8E
W236 2145138-1/4E
W236 2145140-1/3E
W236 2145137-1/3E
W236 2180820-1/2E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Lena BINDER als Einzelrichterin über die Beschwerden von
1) XXXX , geb. XXXX ,
2) XXXX , geb. XXXX ,
3) XXXX , geb. XXXX ,
4) XXXX , geb. XXXX ,
5) XXXX , geb. XXXX ,
6) XXXX , geb. XXXX
alle StA. Russische Föderation, vertreten durch Rechtsanwalt Mag. Dr. Bernhard ROSENKRANZ, jeweils gegen die Spruchpunkte I. der Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom
1) 21.12.2016, Zl. 1002211305-14133973,
2) 21.12.2016, Zl. 1081709904-151028496,
3) 21.12.2016, Zl. 1081712605-151028518,
4) 21.12.2016, Zl. 1081712409-151028526,
5) 21.12.2016, Zl. 1081711804-151028534,
6) 28.11.2017, Zl. 1172771501-171241844,
nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.03.2018 zu Recht:
A)
Die Beschwerden werden gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005, als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der Erstbeschwerdeführer ist der Lebensgefährte der Zweitbeschwerdeführerin (sie sind nach islamischer Tradition verheiratet), beide sind die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer (alle gemeinsam als Beschwerdeführer bezeichnet). Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe.
1. Der Erstbeschwerdeführer reiste alleine in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 25.02.2014 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz.
Im Zuge seiner Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag führte der Erstbeschwerdeführer zu seinem Gesundheitszustand aus, dass auf ihn ein Attentat verübt und sein Kopf verletzt worden sei, er bekomme manchmal Anfälle und sehe am rechten Auge nichts mehr, mit dem linken Auge sehe er nur sehr schlecht, er verliere auch teilweise das Zeitgefühl. Zu seinem Fluchtgrund führte er zusammengefasst an, im Dorf XXXX drei Tankstellen und ein Einkaufszentrum besessen zu haben. Die Behörden wären an seinem Grundstück interessiert gewesen, hätten jedoch nichts dafür zahlen wollen, was der Erstbeschwerdeführer nicht akzeptiert habe. Anfang 2013 sei er schließlich angeschossen worden. Er habe sich schlafen gelegt, dann wisse er nichts mehr. Erst im Krankenhaus habe man ihm mitgeteilt, dass er eine Schussverletzung erlitten habe. Er sei im Koma gelegen und habe erst im Nachhinein erfahren, dass sein Bruder alle Tankstellen abgeben habe müssen. Am Telefon hätten ihn unbekannte Personen mehrmals bedroht.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.09.2014 wurde der Antrag des Erstbeschwerdeführers auf internationalen Schutz abgewiesen und gegen den Erstbeschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen. Der dagegen erhobenen Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 14.10.2014 stattgegeben, der Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG behoben und die Angelegenheit an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
2. Die Zweitbeschwerdeführerin reiste im August 2015 gemeinsam mit den minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern in Österreich und stellte für sich und die minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführer am 06.08.2015 die vorliegenden Anträge auf internationalen Schutz (die minderjährige Sechstbeschwerdeführerin wurde wurde am 10.10.2017 im österreichischen Bundesgebiet geboren; sie stellte, vertreten durch die Zweitbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin am 03.11.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz). Im Rahmen ihrer Erstbefragung am 07.08.2015 brachte die Zweitbeschwerdeführerin vor, dass sie mit ihren Kindern zu ihrem Mann gewollt habe. Die Behörden in Tschetschenien hätten sie immer nach dem Aufenthaltsort ihres Mannes gefragt, da dieser angeschossen worden sei.
3.1. Der Erstbeschwerdeführer wurde am 10.09.2015 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache einvernommen, wo er zu seinem Gesundheitszustand im Wesentlichen vorbrachte, dass er in Österreich bereits einmal am Kopf operiert worden sei. Er sei bereits in Rostov wegen seiner Kopfverletzung operiert worden. Als er danach nach Hause zurückgekehrt sei, habe er Drohanrufe erhalten. Er leide seit 2013 an Epilepsie und müsse deshalb täglich Tabletten nehmen, die Ärzte hätten gemeint, dass die Behandlung drei Jahre dauern würde, die Dosis aber immer vom Gesundheitszustand abhänge.
Zu seinem Fluchtgrund führte der Erstbeschwerdeführer an, dass er in Tschetschenien zwei Tankstellen gehabt und im Jahr 2008 ein Einkaufszentrum gebaut habe, wobei dieses Einkaufszentrum aus steuerlichen Gründen im Eigentum seiner Mutter gestanden sei. Es sei jemand auf ihn zugekommen und habe gesagt, dass er diese Immobilien haben wolle. Man habe ihn auch bedrängt und bedroht. Sein Bruder habe ihm geraten, seine Besitztümer lieber herzugeben. Eines Tages sei er zum Leiter der Rayonsverwaltung vorgeladen worden, welcher den Erstbeschwerdeführer aufgefordert habe, seine Immobilien unentgeltlich herzugeben, da diese ohnehin abgerissen würden. Als der Erstbeschwerdeführer ihm gesagt habe, die Angelegenheit vor Gericht zu bringen, habe der Verwaltungsleiter dies abgelehnt. Man habe sein Einkaufszentrum abreißen und dort eine Moschee errichten wollen. Er habe dann eine Blankovollmacht unterschrieben. Der Erstbeschwerdeführer habe schließlich gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Bruder beschlossen, die Immobilien herzugeben, da diese Leute sie sonst weiter aufsuchen würden. Am Heimweg von diesem Familientreffen, sei er schließlich im Treppenhaus vor seiner Wohnung attackiert worden; er könne sich an den Vorfall nicht erinnern. Seine Frau sei zu Hause gewesen und habe den Krankenwagen gerufen. Erst im Krankenhaus sei der Erstbeschwerdeführer aufgewacht und habe erfahren, dass er am Kopf angeschossen worden sei. Als er aus dem Krankenhaus heimgekehrt sei, habe er einen Anruf erhalten, dass er verschwinden solle. Bis zur Ausreise habe sich der Erstbeschwerdeführer ungefähr einen Monat lang bei Verwandten versteckt gehalten, unter anderem auch in Ossetien bei seiner Mutter und seinem Bruder. Da er nicht gewusst habe, wer ihn angeschossen habe, sei er aus Angst nicht aus dem Haus gegangen. Als er bei seinen Verwandten gewesen sei, habe er einen zweiten Drohanruf erhalten. Ein unbekannter Mann habe gewusst, wo er sich verstecke und habe ihm gedroht, zu verschwinden, andernfalls es seiner Familie schlecht ergehen werde.
Das Einkaufszentrum und die Tankstellen gebe es heute noch immer, allerdings stünden diese leer. Er wisse nicht, was der Rayonsverwaltungsleiter mit diesen Immobilien vorhabe, er vermute, dass die Immobilien im Besitz des Rayonsverwaltungsleiters wären. Der Rayonsverwaltungsleiter sei ein Günstling Kadyrovs, der Erstbeschwerdeführer vermute, dass er auch in Zusammenhang mit dem Schussattentat stehe. Ob polizeiliche Ermittlungen geführt worden seien, wisse er nicht.
3.2. Der Erstbeschwerdeführer legte im Zuge seiner Einvernahme folgende Unterlagen aus der Russischen Föderation zu seiner Krankengeschichte vor:
1. Auszug aus der Krankheitsgeschichte: Die Verwandten des Erstbeschwerdeführers hätten angegeben, dass dieser am 25.02.2013 während des unvorsichtigen Umgangs mit der Feuerwaffe verletzt worden sei und einen Kopfschuss abbekommen habe;
2. Auszug aus der Krankheitsgeschichte: Aufenthalt in einem Rehazentrum der tschetschenischen Republik vom 13.06.2013 bis 28.06.2013, weiters festgehalten, der Beschwerdeführer sei am 25.02.2013 von einer Feuerschusswaffe am Kopf verletzt worden;
3. Epikrise: Der Erstbeschwerdeführer habe sich vom 25.02.2013 bis 25.03.2013 im Krankenhaus in XXXX befunden, bei Anamnese hätten die Personen, die ihn ins Krankenhaus gebracht hätten, angegeben, dass sich der Erstbeschwerdeführer ca. 1,5 Stunden vor Einlieferung während des unvorsichtigen Umgangs mit der Feuerwaffe selbst verletzt habe.
4. Gerichtsvorladung des Erstbeschwerdeführers in einem Verwaltungsverfahren.
3.3. Die Zweitbeschwerdeführerin wurde am 15.09.2015 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache einvernommen und gab zu ihren Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass sie dieselben Fluchtgründe wie ihr Mann habe. Sie sei Zeugin des Vorfalls gewesen, weshalb es für sie in Tschetschenien ebenfalls gefährlich gewesen sei. Sie habe keine anderen Fluchtgründe. Bevor auf ihren Mann geschossen worden sei, habe der Rayonsverwaltungsleiter versucht, das Business ihres Mannes, das zwei Tankstellen und ein Einkaufszentrum umfasst habe, wegzunehmen. Ihr Mann habe die Immobilien jedoch behalten wollen. Der Rayonsverwaltungsleiter habe gesagt, einen Befehl eines Ministers zu haben. Am 25.02.2013 sei die Zweitbeschwerdeführerin aus dem Haus gegangen, um den Müll rauszubringen, als sie wieder rein gekommen sei, wären ihr mehrere Männer entgegen gekommen. Sie sei die Stiegen raufgelaufen und habe ihren Mann im Vorraum der Wohnung in seinem Blut auf dem Boden liegend gefunden und habe ein Einschussloch auf seinem Kopf gesehen. Die Zweitbeschwerdeführerin habe schließlich Hilfe geholt und ihr Mann sei ins Krankenaus gebracht worden.
Zwei Tage nach dem Schussattentat sei der Rayonsverwaltungsleiter mit dem Mullah zur Zweitbeschwerdeführerin in die Wohnung gekommen und habe ihr gesagt, dass die Anordnung von oben gekommen sei und die Beschwerdeführer nichts dagegen machen könnten.
Ihr Mann sei in verschiedenen Krankenhäusern gewesen und anschließend bei seinen Verwandten versteckt worden. Sie habe kaum Kontakt zu ihm gehabt. Er habe Angst gehabt, zurückzukehren. Die Zweitbeschwerdeführerin sei mehrmals von Unbekannten angerufen worden, man habe sie beschimpft und ihr gedroht, dass ihren Kindern etwas passiere, wenn sie die Eigentumsdokumente nicht besorge. Am 01.01.2014 sei sie vor ihrem Elternhaus in ein Polizeiauto gezerrt worden. Man habe sie beschimpft, nach dem Aufenthalt ihres Mannes gefragt und ihr gedroht, sie zu vergewaltigen und zu töten. Passanten hätten mitbekommen, dass sie in das Auto gezerrt worden sei und hätten sie befreit. Am 12.01.2015 wären Polizeibeamte in ihr Elternhaus gekommen, wo sie sich gerade aufgehalten habe und hätten nach dem Aufenthaltsort ihres Mannes gefragt. Ihre Mutter habe sich so darüber aufgeregt, dass sie einen Herzinfarkt erlitten und am selben Abend verstorben sei. Was mit dem Einkaufszentrum und den Tankstellen passiert sei, wisse sie nicht, sie habe eine angespannte Beziehung zu seinen Verwandten gehabt.
Auf konkrete Nachfrage gab die Zweitbeschwerdeführerin an, dass ihr Mann keine Waffen zu Hause gehabt habe und damit auch nicht umgehen könne.
4. In Stellungnahmen vom 14.09.2015, vom 09.10.2015 und vom 07.10.2015 brachten die Beschwerdeführer durch ihren gewillkürten Vertreter im Wesentlichen vor, dass der Rayonsverwaltungsleiter im Zusammenspiel mit Kadyrov für den Kopfschuss verantwortlich sei. Der Erstbeschwerdeführer befinde sich nach wie vor in einem sehr schlechten gesundheitlichen Zustand, sei sehr vergesslich, leide unter Epilepsie und könne deshalb nicht sagen, ob er dem Rayonsverwaltungsleiter die Originalurkunden oder nur eine Blankovollmacht gegeben habe. Die Zweitbeschwerdeführerin habe ebenso die Unterdrückung des Regimes von Kadyrov erfahren. Staatliche Organe hätten ihr Elternhaus aufgesucht, die Angst sei so groß gewesen, dass ihre Mutter an einem Herzanfall verstorben sei. Auch wenn die gesamte Familie in die Russische Föderation abgeschoben würde, sei die Zweitbeschwerdeführerin mit großen Problemen konfrontiert, da ihr Mann krank sei und sie nicht schützen könne.
5. Am 20.04.2016 langte das von der belangten Behörde in Auftrag gegebene medizinische Gutachten des Erstbeschwerdeführers beim Bundesamt ein. In diesem wird zu seinem Gesundheitszustand ausgeführt, dass ein "schwerer" Residualzustand nach Kopfschusstrauma in Form von Epilepsie, beinahe vollständiger einseitiger Erblindung rechts und Gewebsdefekten im Kopfbereich vorliege. Der Erstbeschwerdeführer bedürfe antiepileptischer Medikation, die lebenslang notwendig sei. Unter Gewährleistung einer regelmäßigen Medikamenteneinnahme und der empfohlenen fachärztlichen Kontrollen, bestehe keine reale Gefahr einer nachhaltigen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes, ein lebensbedrohlicher Zustand (zB Status epilepticus) könne unabhängig von einer Überstellung zu jeder Zeit auftreten. Für den Transfer sei auf die Mitführung der Medikamente zu achten, der Zugang zu Medikamenten und medizinischen Kontrollen müsse gewährleistet sein. Der Erstbeschwerdeführer sei ab sofort reisefähig.
6. Am 06.06.2016 langte der von der belangten Behörde in Auftrag gegebene medizinische Befund der Zweitbeschwerdeführerin ein. In diesem wird ausgeführt, dass die Zweitbeschwerdeführerin aktuell an einer Anpassungsstörung mit depressiver Episode leide. Sie habe im Jahr 2009 eine Zystenoperation gehabt, eine Laserbehandlung des Gebärmutterhalses sei im Jahr 2014 erfolgt, es liege eine latente Hypothyreose bei chronischer Immunthyreoditis vor, Verdacht auf GDSR (gastroduodenales Reizsyndrom, Kopfschmerz). Eine Psychotherapie sei aus organisatorischen Gründen noch nicht begonnen worden, bzgl. der Schilddrüsenerkrankung werde eine regelmäßige Medikamenteneinnahme und eine fachärztliche Kontrolle empfohlen. Eine Überstellung und eine allfällige medizinische Betreuung im Ankunftsland seien möglich. Es könne bzgl. der Schilddrüsenerkrankung über die Jahre bei unterlassener Behandlung zu einer Manifestation der Krankheitssymptome kommen. Bzgl. der psychischen Symptomatik sei es bisher zu keinem lebensbedrohlichen Ereignis gekommen.
7. Am 20.04.2016 übermittelte der Rechtsvertreter an das Bundesamt ein Schreiben das als "äußerst vertraulich" tituliert wurde. Die Zweitbeschwerdeführerin habe erstmalig davon berichtet, von "Uniformierten" vergewaltigt worden zu sein. Sie könne über diesen Umstand nur unter großen Schwierigkeiten berichten und habe davon noch niemandem erzählt, sie wolle, dass ihre Familienangehörigen nichts davon erfahren.
8. Die Zweitbeschwerdeführerin legte eine schriftliche Zusammenfassung ihrer Fluchtgeschichte in russischer Sprache vor, welche in die deutsche Sprache übersetzt wurde. In dieser Zusammenfassung wiederholte sie im Wesentlichen ihr bisheriges Vorbringen und führte aus, dass sie nach dem Attentat auf ihren Mann von Männern angerufen worden sei, die den Aufenthaltsort ihres Mannes hätten wissen und all seine Dokumente und Immobilien hätten haben wollen.
9. Am 21.06.2016 wurde die Zweitbeschwerdeführerin neuerlich vor dem Bundesamt einvernommen. Dabei führte sie aus, dass es ihr bisher nicht möglich gewesen sei, über die Vergewaltigung zu sprechen, sie habe versucht, dieses schlimme Erlebnis zu vergessen. Zu dem Vorfall führte sie an, dass sie am 22.01.2014 mit ihren Kindern am Weg zum Krankenhaus gewesen sei, als sich vor ihrem Elternhaus ein Auto genähert habe. Ein Mann habe sie mit Gewalt ins Auto gezerrt, darin wären vier Männer gewesen. Sie wären mit ihr in den Wald gefahren und hätten gesagt, dass man sie beseitigen müsse und hätten damit gedroht, ihren Mann und ihre Kinder zu finden. Sie hätten sie an der rechten Hand verletzt und ihr ins Gesicht geschlagen. Sie sei ohnmächtig geworden, als sie wieder zu sich gekommen sei, habe sie Schmerzen gehabt, es sei viel Blut auf ihren Oberschenkeln gewesen. Sie sei durch den Wald geschlichen und wieder in ihr Elternhaus gegangen. Sie habe ihren Eltern nichts erzählt, sie habe keine Probleme machen wollen. Nach diesem Vorfall sei sie von einem Mann, der vom Verwaltungsabteilungschef der Regierung Kadyrovs beauftragt worden sei, angerufen worden, der den Aufenthaltsort der Beschwerdeführer habe wissen wollen.
10. In einer Stellungnahme vom 28.06.2016 brachte der Rechtsvertreter zum medizinischen Gutachten der Zweitbeschwerdeführerin vor, dass die Methoden des Interviews nicht nachvollziehbar seien. Es werde ersucht, ein strukturiertes Gutachten hinsichtlich PTBS einzuholen. Die Zweitbeschwerdeführerin unterliege extremer psychischer Belastung. Die psychiatrischen Institutionen in der Russischen Föderation seien ungenügend und teils grausam. Der Rechtsvertreter legte einen Bericht von ACCORD zu Frauen in Tschetschenien vor.
11. Mit Bescheiden vom 21.12.2016 (Erst- bis Fünftbeschwerdeführer) und vom 28.11.2017 (minderjähriger Sechstbeschwerdeführer) wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkte I.) ab, erkannte ihnen gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte den Beschwerdeführern gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 20.12.2017 (Spruchpunkt III.). Begründend wurde ausgeführt, dass sich im Zuge der Einvernahmen Widersprüche ergeben hätten, weshalb der vorgetragene Fluchtgrund nicht habe festgestellt werden können. Der Erstbeschwerdeführer habe bei der Erstbefragung angegeben, sich schlafen gelegt zu haben und sich ab da an nichts mehr zu erinnern, während er im Rahmen seiner Einvernahme am 10.09.2015 angegeben habe, dass er am Abend heimgekommen sei und sich der Vorfall im Treppenhaus ereignet habe. Weiters habe er in der Erstbefragung von drei Tankstellen gesprochen, in der Einvernahme habe er nur noch zwei Tankstellen erwähnt. Wenn der Beschwerdeführer zu Beginn der Einvernahme angegeben habe, Eigentumsnachweise für die Tankstellen vorlegen zu können, stehe dies im Widerspruch zu seiner ursprünglichen Schilderung, wonach sein Bruder sämtliche Eigentumsnachweise für die Liegenschaften an den Rayonsverwaltungsleiter abgeben habe müssen.
Die Zweitbeschwerdeführerin habe hingegen ausgeführt, dass sich das Schussattentat im Stiegenhaus zur Wohnung ereignet habe. In ihrer ersten Einvernahme habe sie angegeben, dass ihr im Stiegenhaus zwei Männer entgegen gekommen wären, in einer späteren Einvernahme habe sie von drei bis vier Männern gesprochen.
Die vorgelegten medizinischen Unterlagen aus Russland würden darüber hinaus zeigen, dass sich der Erstbeschwerdeführer durch unvorsichtigen Umgang mit einer Feuerwaffe selbst verletzt habe. In Zusammenschau wären die Beschwerdeführer nicht in der Lage gewesen, berechtigte Furcht durch Dritte vorzutragen. Die Angaben zu den Fluchtgründen wären zu vage und ungenau gewesen, darüber hinaus hätten sich zahlreiche Widersprüche ergeben. Der Erstbeschwerdeführer sei in Russland medizinisch behandelt und operiert worden, weshalb eine staatliche Verfolgung auch unter diesem Aspekt nicht wahrscheinlich sei.
Zum Vorbringen der Zweitbeschwerdeführerin, vergewaltigt worden zu sein, sei auszuführen, dass es sich hierbei um ein strafrechtliches Delikt handle, das sie jedoch nicht angezeigt habe. Es könne den Sicherheitsbehörden somit keine mangelnde Schutzunterstellung vorgeworfen werden. Sie habe eine ernsthafte Gefährdung ihrer Person nicht glaubhaft machen können.
Zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes wurde ausgeführt, dass auf Grund der schweren Erkrankung des Erstbeschwerdeführers unter Berücksichtigung der von ihm vorgelegten medizinischen Unterlagen davon auszugehen sei, dass dieser weiterer intensiver medizinischer Behandlung bzw. Therapie bedürfe und eine Rückkehr in die Russische Föderation derzeit und unter den aktuellen persönlichen Verhältnissen nicht zumutbar sei. Die regelmäßige Einnahme verordneter Medikamente und fachärztliche Kontrollen müssten gewährleistet sein, um nicht in einen lebensbedrohlichen Zustand zu verfallen. Die verordneten Medikamente wären zwar in der Russischen Föderation, jedoch nicht in Tschetschenien erhältlich, eine Behandlung von Epilepsie sei in Tschetschenien nur unzureichend verfügbar. Es sei daher die Schwelle der Unzumutbarkeit im Sinne der einschlägigen Regelungen der EMRK überschritten, weshalb den Beschwerdeführern subsidiärer Schutz zu gewähren sei.
12. Gegen die Spruchpunkte I. dieser Bescheide erhoben die Beschwerdeführer am 08.01.2017 fristgerecht Beschwerde und führten im Wesentlichen aus, dass der Erstbeschwerdeführer aus politischen Gründen verfolgt worden sei. Seine Lebenssituation sei bis jetzt nicht umfassend festgestellt worden, weil er gesundheitlich nicht in der Lage sei, seine Verfolgungssituation zu schildern. Er sei in Russland ein wohlhabender Geschäftsmann gewesen, der den geschäftlichen Interessen Kadyrovs im Weg gestanden sei. Allein die Weigerung, den Machtinteressen und Machtansprüchen zu entsprechen, werde in Tschetschenien als Ausdruck einer politischen Gesinnung verstanden.
Zur Zweitbeschwerdeführerin wurde ausgeführt, dass Vergewaltigungen in Tschetschenien nicht angezeigt würden und man nicht darüber spreche. Eine vergewaltigte Frau sei stigmatisiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Es sei nicht unüblich, dass vergewaltigte Frauen von ihren Familien weggeschickt würden. Die Zweitbeschwerdeführerin habe aus politischen Gründen sexuelle Gewalt erfahren. Die russischen Behörden wären somit nicht in der Lage, die Zweitbeschwerdeführerin vor Übergriffen zu schützen. Sie habe in Österreich eine Psychotherapie begonnen und sei bereits "verwestlicht", sie nehme die Rolle des Familienoberhaupts ein, da ihr Mann dazu nicht in der Lage sei. Ihr werde deshalb eine regimefeindliche politische Gesinnung unterstellt, da diese Lebensweise den staatlichen Organen und der patriarchalen Gesellschaft in Tschetschenien missfalle.
13. Am 20.03.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die russische Sprache, den Beschwerdeführern, sowie deren Rechtsvertreters statt, in welcher der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin ausführlich zu ihren Fluchtgründen befragt wurden. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wiederholten in der Verhandlung im Wesentlichen ihre bereits geltend gemachten Vorbringen. Ihrem Rechtsvertreter wurde eine zweiwöchige Frist zur Stellungnahme zu den eingebrachten Länderberichten gewährt.
14. In der am 22.03.2018 eingelangten Stellungnahme wird lediglich hinsichtlich der Zweitbeschwerdeführerin ausgeführt, dass die Familie des Erstbeschwerdeführers von Anfang an gegen diese Ehe gewesen sei. Man habe die Zweitbeschwerdeführerin als Dienerin betrachtet. Sie habe jahrelang Geringschätzung durch die Familie des Erstbeschwerdeführers erfahren. Nach dem Attentat auf ihren Mann sei sie völlig auf sich alleine gestellt gewesen. Auch ihre Angehörigen seien nicht in der Lage gewesen, sie zu schützen. Sie sei ständig auf der Flucht gewesen und auch einmal vergewaltigt worden. Obwohl die Zweitbeschwerdeführerin angegeben habe, dass sie ihrer Familie nichts von der Vergewaltigung erzählt habe, habe diese aufgrund des räumlichen und zeitlichen Konnexes zumindest vermuten müssen, was passiert sei. Die Zweitbeschwerdeführerin sei die Ehefrau eines psychisch kranken Mannes und könne gleichsam als alleinstehende Frau mit Kindern angesehen werden. Die Zweitbeschwerdeführerin sei zwar nach wie vor in großem Ausmaß im tschetschenischen Fühlen und Denken verhaftet. Dennoch habe sie im Falle der Rückkehr zu befürchten, dass ihre Familie die Vergewaltigung anspreche und sie als selbstbewusste Frau gelte, die sich durch ihr Verhalten in Österreich einer neuen "Mentalität" hingewendet habe. Sie sei auch bereit ohne Kopftuch zu leben und sei aufgrund ihrer Notsituation auch gezwungen, in Österreich selbständig als Haushaltsvorstand die Verantwortung für die gesamte Familie zu übernehmen. Sie habe die feste Absicht, im Arbeitsleben in Österreich Fuß zu fassen und sei auch schon in der Lage die Unterdrückungssituation von Frauen in Tschetschenien anzusprechen. Sie würde diese im Falle der Rückkehr nicht mehr kritiklos hinnehmen. Die Zweitbeschwerdeführerin gehört damit zur Gruppe von vergewaltigten alleinstehenden Frauen, der durch ihre "westliche Lebensweise" auch ein amoralischer Lebenswandel und ein Verrat der tschetschenischen Kultur vorgeworfen werde, weswegen ihr Asyl zuzuerkennen sei. Der Stellungnahme sind Berichte zur Lage von Frauen in Tschetschenien angehängt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Aufgrund der Anträge auf internationalen Schutz, der Einvernahmen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der abgegebenen schriftlichen Stellungnahmen, der Bescheide der belangten Behörde, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungs- und Gerichtsakte, der Einsichtnahmen in das zentrale Melderegister, in das Grundversorgungs-Informationssystem, in das Strafregister sowie insbesondere auf Grundlage der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten mündlichen Verhandlung am 20.03.2018 werden, die folgenden Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:
1.1. Zu den Personen der Beschwerdeführer:
Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin sind nach islamischer Tradition verheiratet. Sie sind die Eltern der minderjährigen Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer.
Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe. Die Identität der Beschwerdeführer steht fest.
Der Erstbeschwerdeführer leidet an den Folgen einer Kopfschussverletzung rechts fronto-parietal am 25.02.2013 mit Residualsyndrom, bei welcher Gewebsdefekte im Kopfbereich erfolgten und das rechte Auge fast vollständig erblindete (hochgradige Visusreduktion mit erhaltener Lichtempfindlichkeit). Er leidet seither rechts an einem herabhängenden Augenlid (Ptosis), an einem eingesunkenen Augapfel rechts (Enophthalmus) und einem Augennerv-Schwund rechts (traumatische Opticusatrophie). Weiters leidet er seither an Epilepsie, welche medikamentös behandelt wird, an einer Teillähmung der linken Körperhälfte mit erhöhter Eigenspannung (spastische Hemiparese links, leicht) und an einer Gesichtsteillähmung links (zentrale Fazialisparese links, leicht). Der Erstbeschwerdeführer wurde bereits in der Russischen Föderation mehreren Operationen unterzogen; ihm wurde eine Titanplatte in den Kopf eingesetzt. In Österreich erfolgten zahlreiche Rekonstruktionsoperationen im Kopf- und Augenbereich in den Jahren 2014, 2015 und 2016. Der Erstbeschwerdeführer leidet nach wie vor an einem chronischen Schmerzsyndrom. Er bedarf einer lebenslangen antiepileptischen Medikation.
Die Zweitbeschwerdeführerin sowie die minderjährigen Dritt- bis Sechstbeschwerdeführer sind gesund.
Die Beschwerdeführer sind in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.2. Zum Verfahrensgang:
Der Erstbeschwerdeführer reiste im Februar 2014 in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 25.02.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Zweitbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit den minderjährigen Dritt- bis Fünftbeschwerdeführern im August 2015 in das österreichische Bundesgebiet ein; diese stellten am 06.08.2015 Anträge auf internationalen Schutz. Die minderjährige Sechstbeschwerdeführerin wurde am 10.10.2017 im österreichischen Bundesgebiet geboren; sie stellte, vertreten durch die Zweitbeschwerdeführerin als gesetzliche Vertreterin am 03.11.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Alle Anträge der Beschwerdeführer wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheiden vom 21.12.2016 bzw. vom 28.11.2017 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihnen jedoch den Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation zu und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen.
1.3. Zum Fluchtgrund:
Der von den Beschwerdeführern vorgebrachte Fluchtgrund wird der Entscheidung nicht zugrunde gelegt. Es kann nicht festgestellt werden, dass seitens des Rayonsverwaltungsleiters der Versuch unternommen wurde, den Erstbeschwerdeführer seiner beiden Tankstellen und seines Einkaufszentrums zu enteignen und dem Erstbeschwerdeführer aufgrund seiner Weigerung seinen Besitz abzugeben, am 25.02.2013 von Unbekannten in seinem Stiegenhaus ein Kopfschuss versetzt wurde. Es kann weiters nicht festgestellt werden, dass sich der Erstbeschwerdeführer nach Krankenhaus- und Rehabilitationsaufenthalten im Februar 2014 gezwungen sah, wegen dieser Bedrohungen die Russische Föderation zu verlassen. Nicht festgestellt werden kann, dass die Zweitbeschwerdeführerin im Anschluss an die Kopfschussverletzung des Erstbeschwerdeführers bis zu ihrer Ausreise aus der Russischen Föderation im August 2015 vom Rayonsverwaltungsleiter gesucht, bedroht und immer wieder zur Herausgabe der Eigentumsdokumente bezüglich der Tankstellen und des Einkaufszentrums aufgefordert wurde. Nicht festgestellt werden kann zudem, dass die Vergewaltigung der Zweitbeschwerdeführerin mit dem vorgebrachten Fluchtgrund in Zusammenhang steht.
1.4. Zur maßgeblichen Situation in der Russischen Föderation:
Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus den vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Länderberichten wiedergegeben (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Russische Föderation, Tschetschenien, Gesamtaktualisierung am 21.07.2017):
Politische Lage im Allgemeinen
Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017). Er wurde am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident. Dmitri Medwedjew, Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8. Mai 2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017).
Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).
Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl. AA 3.2017a).
Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (3.2017a): Russische Föderation - Innenpolitik,
http://www.auswaertiges-amt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 21.6.2017
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CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2017): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 21.6.2017
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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017
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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c24819, Zugriff 21.6.2017
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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2017c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 11.7.2017
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Kurier.at (13.7.2017): Nemzow-Mord: 20 Jahre Straflager für Mörder,
https://kurier.at/politik/ausland/nemzow-mord-20-jahre-straflager-fuer-moerder/274.903.855, Zugriff 13.7.2017
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RA - Russland Analysen (7.10.2016): Nr. 322, Bewegung in der russischen Politik?,
http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen322.pdf, Zugriff 21.6.2017
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Standard (29.7.2017): Alle Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldiggesprochen,
http://derstandard.at/2000060550142/Alle-Angeklagten-im-Mordfall-Nemzow-schuldig-gesprochen, Zugriff 30.6.2017
Politische Lage in Tschetschenien im Besonderen
Die Tschetschenische Republik ist eine der 21 Republiken der Russischen Föderation. Betreffend Fläche und Einwohnerzahl - 15.647 km2 und fast 1,3 Millionen Einwohner/innen (2010) - ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).
Den Föderationssubjekten stehen Gouverneure vor. Gouverneur von Tschetschenien ist Ramsan Kadyrow. Er gilt als willkürlich herrschend. Russlands Präsident Putin lässt ihn aber walten, da er Tschetschenien "ruhig" hält. Tschetschenien wird überwiegend von Geldern der Zentralregierung finanziert. So erfolgte der Wiederaufbau von Tschetscheniens Hauptstadt Grosny vor allem mit Geldern aus Moskau (BAMF 10.2013, vgl. RFE/RL 19.1.2015).
In Tschetschenien gilt Ramsan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres System geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und größtenteils außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert. So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens zurücktreten, nachdem er von Kadyrow kritisiert worden war, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter in die föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen im September 2016, wenn auch das Republikoberhaupt gewählt wird, durchzuführen. Die Entscheidung erklärte man mit potentiellen Einsparungen durch das Zusammenlegen der beiden Wahlgänge, Experten gehen jedoch davon aus, dass Kadyrow einen Teil der Abgeordneten durch jüngere, aus seinem Umfeld stammende Politiker ersetzen möchte. Bei den Wahlen vom 18. September 2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Den offiziellen Angaben zufolge wurde Kadyrow mit über 97% der Stimmen im Amt des Oberhauptes der Republik bestätigt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld HRW über Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte (ÖB Moskau 12.2016). In Tschetschenien hat das Republikoberhaupt Ramsan Kadyrow ein auf seine Person zugeschnittenes repressives Regime etabliert. Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 24.1.2017).
Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird hart vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die darauf aus wären, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtlern, aber auch von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert. Im März ernannte Präsident Putin Kadyrow im Zusammenhang mit dessen im April auslaufender Amtszeit zum Interims-Oberhaupt der Republik und drückte seine Unterstützung für Kadyrows erneute Kandidatur aus. Bei den Wahlen im September 2016 wurde Kadyrow laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt, wohingegen unabhängige Medien von krassen Regelverstößen bei der Wahl berichteten (ÖB Moskau 12.2016). Im Vorfeld dieser Wahlen zielten lokale Behörden auf Kritiker und Personen, die als nicht loyal zu Kadyrow gelten ab, z.B. mittels Entführungen, Verschwindenlassen, Misshandlungen, Todesdrohungen und Androhung von Gewalt gegenüber Verwandten (HRW 12.1.2017).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (24.1.2017): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation
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BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2013):
Protokoll zum Workshop Russische Föderation/Tschetschenien am 21.-22.10.2013 in Nürnberg
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HRW - Human Rights Watch (12.1.2017): World Report 2017 - Russia, http://www.ecoi.net/local_link/334746/476500_de.html, Zugriff 28.6.2017)
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ÖB Moskau (12.2016): Asylländerbericht Russische Föderation
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RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty (19.1.2015): The Unstoppable Rise Of Ramzan Kadyrov, http://www.rferl.org/content/profile-ramzan-kadyrov-chechnya-russia-putin/26802368.html, Zugriff 21.6.2017
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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,
http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 21.6.2017
Sicherheitslage im Allgemeinen
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen Sicherheitsorgane noch den Rückgang terror