TE Bvwg Beschluss 2018/3/27 W228 2120591-1

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Veröffentlicht am 27.03.2018
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Entscheidungsdatum

27.03.2018

Norm

B-VG Art.133 Abs4
VOG §1
VOG §10
VOG §3
VwGVG §28 Abs3 Satz2

Spruch

W228 2120591-1/4E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Harald WÖGERBAUER als Vorsitzenden und den Richter Mag. Reinhard SEITZ sowie den fachkundigen Laienrichter Mag. Gerald SOMMERHUBER als Beisitzer über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , vertreten durch den Rechtsanwalt Mag. XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservices, Landesstelle Wien, vom 11.12.2015, GZ: XXXX , betreffend Abweisung des Antrages auf Ersatz des Verdienstentganges gemäß § 1 Abs. 1 und Abs. 3, § 3 und § 10 Abs. 1 VOG beschlossen:

A)

In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG idgF zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, zurückverwiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

BEGRÜNDUNG:

I. Verfahrensgang:

XXXX (im Folgenden: Beschwerdeführerin) stellte am 07.11.2012 einen Antrag auf Leistungen nach dem Opferfürsorgegesetz.

Mit Schreiben des Sozialministeriumservice (im Folgenden: belangte Behörde) vom 04.12.2012 wurde ihr im Rahmen eines Verbesserungsauftrages im Sinne des § 13 Abs. 3 AVG das Antragsformblatt für Leistungen nach dem Verbrechensopfergesetz übermittelt, da aufgrund ihrer Angaben davon ausgegangen wurde, dass sie einen Antrag auf Gewährung von Hilfeleistungen für Opfer nach dem österreichischen Verbrechensopfergesetz stellen wollte.

Antragsbegründend brachte die Beschwerdeführerin im Wesentlichen vor, während des Aufenthaltes in der Pflegefamilie XXXX in den Jahren 1973 bis 1992 körperliche Gewalt in Form von Schlägen mit einem Teppichklopfer, einem Kochlöffel oder der Faust sowie Eintauchen in ein mit Wasser gefülltes Becken, bis beinahe zur Bewusstlosigkeit, erlebt zu haben. Auch sei sie an den Haaren gerissen und ihr nach einem "Stromunfall" vorsätzlich ärztliche Hilfe verweigert worden. Sie sei von der Familie ausgegrenzt worden, habe lediglich Kleidung vom Flohmarkt oder von den älteren männlichen Geschwistern auftragen dürfen, als Strafmaßnahme sei sie gezwungen worden, Lebensmittel zu verspeisen, auf welche sie allergisch reagierte. Kontakte mit Schulfreundinnen seien untersagt worden. Auch sei ihr die von ihr gewünschte Schulbildung durch die Pflegeeltern nicht ermöglicht worden. Aufgrund dieser Vorfälle würde sie an Asthma bronchiale, einem Herzklappenfehler, chronischer Polyarthritis, depressiven Störungen sowie einer Lebensmittel- und Tierhaarallergie leiden.

Gemäß einem von der Beschwerdeführerin beigebrachten klinisch-psychologischen Kurzbericht vom 3.5.2012, erstellt von Frau Dr. XXXX , leide sie an einem Herzfehler sowie Asthma. Auch hätte sie bereits zwei Mal einen Lungenriss gehabt. Dieser könne lebensbedrohlich sein und jeder Zeit wieder auftreten, was die Beschwerdeführerin psychisch schwer belaste. Sie sei depressiv, hätte oft Selbstmordgedanken und Panikattacken. Sie sei als Kind, nach dem Suizid ihrer Mutter, in eine Pflegefamilie gekommen, in welcher sie misshandelt worden sei.

In einer Niederschrift, aufgenommen am 14.12.2012, gab der Ehegatte der Beschwerdeführerin stellvertretend ergänzend an, dass die Beschwerdeführerin die Mittelschule besuchen hätten wollen, ihr jedoch nur der Hauptschulbesuch gestattet worden sei. Sie hätte immer schlechtere Noten als die leiblichen Kinder ihrer Pflegeeltern bekommen, da der Pflegevater Direktor in einer Schule im 3. Bezirk gewesen sei und dies veranlasst hätte. Auch dem Wunsch der Beschwerdeführerin, eine Lehre zu absolvieren, sei nicht nachgekommen worden. Mit 19 oder 20 hätten die Pflegeeltern die Beschwerdeführerin überraschend auf die Straße gesetzt, da sie keine weitere finanzielle Unterstützung für ihre Unterbringung erhalten hätten. Ihre Unterlagen seien nicht mehr auffindbar gewesen, weshalb sie auch eine Gesellenprüfung nicht absolvieren konnte. Diese habe sie jedoch im Jahr 1993 bzw. 1994 nachgeholt. Auch hätte sie ein Diplom in Kunstpädagogik erlangt sowie eine Ausbildung zur diplomierten Legasthenietrainerin absolviert. 1997 sei bei der Beschwerdeführerin ein erworbener Herzklappenfehler diagnostiziert worden, welchen sie auf einen "Stromunfall" ohne anschließende ärztliche Versorgung zurückführe. Auch leide sie unter schwerem Asthma, welches in ihrer Kindheit nicht behandelt worden sei.

Weiters wurde ein Schreiben der Opferhilfeorganisation Weißer Ring vorgelegt, aus welchem hervorgeht, dass die Beschwerdeführerin eine finanzielle Entschädigung in Höhe von € 25.000,- erhalten habe.

Am 27.06.2012 beantragte die Beschwerdeführerin bei der Pensionsversicherungsanstalt die Gewährung einer Invaliditätspension. Diesen Antrag wies die Pensionsversicherungsanstalt mit Bescheid vom 31.10.2012 ab. Die Beschwerdeführerin erhob gegen diesen Bescheid fristgerecht das Rechtsmittel der Klage beim Arbeits- und Sozialgericht Wien. Im Rahmen des Klageverfahrens wurden mehrere Gutachten aus unterschiedlichen medizinischen Fachbereichen eingeholt:

Laut neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachten vom 17.6.2013 bestehe bei der Beschwerdeführerin eine Dysthymie (ICD-10 F.34.1), eine generalisierte Angststörung (ICD-10 F. 41.1), eine akzentuierte Persönlichkeit mit selbstunsicheren Merkmalen (ICD-10 Z.73.1) sowie Hinweise für das Vorliegen einer Polyneuropathie und eine seropositive Polyarthritis (Gelenksentzündung). Es bestehe eine Traumaerfahrung im Jugendalter. Es hätten sich Persönlichkeitsmerkmale entwickelt, im Hinblick auf Selbstunsicherheit und Ängstlichkeit, neben tatsächlichen Merkmalen einer Angststörung und einer dysthymen Entwicklung in den letzten Jahren.

Gemäß neurologisch-psychiatrischen Ergänzungsgutachten vom 25.7.2013 seien der Beschwerdeführerin weiterhin Arbeiten mit durchschnittlichem psychischem und gehobenem geistigem Anforderungsprofil zumutbar und möglich.

Weiters wurde ein chirurgisch-orthopädisches Sachverständigengutachten eingeholt, aus welchem folgende Diagnosen hervorgehen: klinische Symptome einer chronischen rheumatischen Polyarthritis, Stat. p. Spontanpneumothorax, Stat. p. Lungeninfarkt, Stat. p. Mittelfußfraktur rechts. Vom chirurgischen und orthopädischen Standpunkt aus sei die Beschwerdeführerin für ganzzeitig alle leichten und mittelschweren Arbeiten im Gehen, Stehen und Sitzen zu den üblichen Arbeitszeiten und -pausen geeignet.

Laut lungenfachärztlichen Sachverständigengutachten vom 26.07.2013 leide die Beschwerdeführerin an einem milden persistierenden allergischen Asthma bronchiale, einer polivalenten Allergieneigung mit wiederkehrenden Beschwerden, an einem Zustand nach folgenlos abgeheilter beidseitiger Lungenembolie 2010 mit Marcoumarbehandlung bis Jänner 2011, an einem abgeheilten Zustand nach Spontanpneumothorax links 1997 und rezidivierend 2009 sowie an wiederkehrenden Rippenfellschmerzen links. Aus lungenfachärztlicher Sicht seien der Beschwerdeführerin leichte und halbzeitig mittelschwere körperliche Arbeiten möglich.

Gemäß internistischen Sachverständigengutachten vom 16.04.2013 gebe es keine Hinweise, dass in absehbarer Zeit Invalidität eintreten werde.

Im rheumatologischen Gutachten vom 10.06.2013 wurde eine chronische Polyarthritis (Funktionsklasse 1 nach Steinbrocker) diagnostiziert.

Laut arbeitspsychologischen Sachverständigengutachten vom 23.07.2013 seien der Beschwerdeführerin weiterhin Arbeiten mit durchschnittlichem psychischem und gehobenem geistigem Anforderungsprofil sowie Arbeiten mit durchschnittlicher psychischer Belastung zumutbar und möglich.

Im Rahmen des schriftlichen Parteiengehörs gemäß vom 10.09.2013 wurde der Beschwerdeführerin von der belangten Behörde mitgeteilt, dass ihr Antrag voraussichtlich nicht bewilligt werde, da ein verbrechenskausaler Verdienstentgang im fiktiven schadensfreien Verlauf nicht mit der für das Verbrechensopfergesetz erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne. Bezug genommen wurde hierbei unter anderem auf das Gutachten des arbeitspsychologischen Sachverständigen, Dr. XXXX , welches im Auftrag des Arbeits- und Sozialgerichtes erstattet wurde. Die Beschwerdeführerin erstattete daraufhin fristgerecht eine Stellungnahme, in der sie im Wesentlichen angab, dass die Gutachten, welche im Rahmen des Verfahrens vor dem Arbeits- und Sozialgericht eingeholt wurden, nicht korrekt seien.

Aufgrund des Urteils des Arbeits- und Sozialgerichtes vom 2. Juni 2014, ZI XXXX , mit welchem das Ansuchen der Beschwerdeführerin um Gewährung einer Invaliditätspension abgewiesen wurde, erging am 7.11.2014 neuerlich ein schriftliches Parteiengehör an die Beschwerdeführerin. Darin wurde ihr mitgeteilt, dass ihr Antrag voraussichtlich nicht bewilligt werde. Es könne zwar das Vorliegen von psychischen Gesundheitsschädigungen bestätigt werden, diese lägen allerdings gemäß den bisher vorliegenden Gutachten nicht in einem für die Annahme eines Verdienstentganges im Sinne des § 3 VOG relevanten Ausmaß vor.

Am 09.02.2015 langte bei der belangten Behörde eine Stellungnahme des Rechtsvertreters der Beschwerdeführerin ein, in welcher im Wesentlichen vorgebracht wurde, dass sich die Rechtsansicht der belangten Behörde hauptsächlich auf die im Verfahren XXXX des Arbeits- und Sozialgerichtes eingeholten Gutachten gründe, gegen dessen Entscheidung ein Rechtsmittel eingebracht worden sei, weshalb der Ausgang des Verfahrens vor dem Oberlandesgericht abzuwarten sei.

Am 18.08.2015 langten bei der belangten Behörde das den Rekurs und die Berufung abweisende Urteil des Oberlandesgerichtes vom 28.01.2015, ZI XXXX und XXXX und die in diesen Verfahren erstatteten Gutachten und Ergänzungsgutachten sowie erneut das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes vom 02.06.2014, ZI XXXX , ein.

Mit Schreiben vom 23.09.2015 wurde der Beschwerdeführerin im Rahmen eines neuerlichen Parteiengehörs das Sachverständigengutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, Frau Dr. XXXX , übermittelt. Es wurde ihr mitgeteilt, dass dieses mit den im o.a. sozialgerichtlichen Verfahren herangezogenen Gutachten im Einklang stehe und die belangte Behörde daher im Wesentlichen bei den Ausführungen in dem Schreiben vom 07.11.2014 bleibe. Es liege keine Arbeitsunfähigkeit vor, das Vorliegen eines verbrechenskausalen Verdienstentganges zum Zeitpunkt der Antragstellung (bzw. ab dem Antragsfolgemonat Dezember 2012) im fiktiven schadenfreien Verlauf könne nicht mit der für das Verbrechensopfergesetz erforderlichen Wahrscheinlichkeit angenommen werden.

Am 11.12.2015 erließ die belangte Behörde den angefochtenen Bescheid, mit welchem der Antrag der Beschwerdeführerin vom 07.11.2012 auf Ersatz des Verdienstentganges gemäß

§ 1 Abs. 1 und Abs. 3, § 3 und § 10 Abs. 1 VOG abgewiesen wurde. Begründend wurde ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin am 24.04.1973 zur Pflegefamilie XXXX gekommen sei. In der Pflegefamilie habe sie körperliche Gewalt in Form von Schlägen erlitten, sei in ein mit Wasser gefülltes Becken getaucht worden, sei an den Haaren gerissen worden und habe einen "Stromunfall" erlitten. Am 31.05.1992 sei das Pflegegeld eingestellt worden. Kurz darauf habe die Beschwerdeführerin den Kontakt zur Pflegefamilie abgebrochen. Aus neurologisch-psychiatrischer Sicht leide die Beschwerdeführerin an einer Dysthymie, einer generalisierten Angststörung, einer akzentuierten Persönlichkeit mit selbstunsicheren Merkmalen und einer seropositiven Polyarthritis. Psychodiagnostische bestehe ein depressiv-ängstlicher Verstimmungszustand. Die chronifizierte depressive Verstimmung sei zum Teil auf die Kindheitserlebnisse der Beschwerdeführerin in der Pflegefamilie zurückzuführen, jedoch würden auch konstitutionelle Faktoren vorliegen, sodass nicht mit der für das VOG ausreichenden Wahrscheinlichkeit von einer überwiegenden Kausalität ausgegangen werden könne.

Arbeitsunfähigkeit liege jedenfalls nicht vor. So gehe aus dem Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts vom 02.06.2014, Zl. XXXX hervor, dass Invalidität gemäß § 255 Abs. 3 ASVG nicht vorliege. In rechtlicher Hinsicht wurde ausgeführt, dass die der Beschwerdeführerin zugefügten Misshandlungen und der Missbrauch nicht bezweifelt werden. Allerdings müsse nach den Bestimmungen des VOG mit Wahrscheinlichkeit feststehen, dass die durch diese Misshandlungen erlittenen Schädigungen den beruflichen Werdegang der Beschwerdeführerin dermaßen beeinträchtigt hätten, dass sie heute nicht den Beruf ausübe, dem sie bei Nichterleben der Misshandlungen nachgehen könnte und deshalb noch immer einen Verdienstentgang erleide. Die bloß abstrakte Möglichkeit der Verursachung reiche für eine Leistung nach den Bestimmungen des VOG nicht aus. Die Annahme eines fiktiven schadensfreien Verlaufes könnte also nur auf der Grundlage einer Wahrscheinlichkeit in dem Sinne erfolgen, dass erheblich mehr für als gegen das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 1 Abs. 1 Z 1 iVm § 3 VOG spricht. Für eine derartige Annahme würden jedoch ausreichende Anhaltspunkte fehlen.

Gegen diesen Bescheid vom 11.12.2015 erhob der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin mit Schriftsatz vom 25.01.2016 fristgerecht Beschwerde. Begründend wurde ausgeführt, dass die Abweisung ausschließlich darauf gestützt werde, dass im Fall der Beschwerdeführerin angeblich keine Arbeitsunfähigkeit vorliege und/oder diese nicht ausschließlich auf die damaligen Geschehnisse zurückgeführt werden könne. In medizinischer Hinsicht berufe sich die belangte Behörde auf ein Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie Frau Dr. XXXX vom 16.05.2014, die bei der Beschwerdeführerin lediglich eine chronifizierte depressive Verstimmung, welche überdies nur teilweise aus traumatischen Kindheitserfahrungen resultieren würde, attestiere. Zu diesem Gutachten sei abgesehen von dessen Kürze zu bemerken, dass es sich bei dieser Ärztin offenbar um keine gerichtlich zertifizierte Sachverständige handle. Von einer fundierten Untersuchung der Beschwerdeführerin könne keine Rede sein. Die Befundaufnahme am 16.05.2014 habe gerade fünf Minuten gedauert. Weiters habe sich Dr. XXXX keinerlei psychologischer Tests bedient. Insbesondere sei eine arbeitspsychologische Testung der Beschwerdeführerin gänzlich unterblieben. Im Unterlassen einer dem Stand der Wissenschaft entsprechenden psychologisch-psychiatrischen Begutachtung der Beschwerdeführerin werde eine wesentliche Mangelhaftigkeit des von der belangten Behörde geführten Ermittlungsverfahrens erblickt.

Die Beschwerde wurde unter Anschluss der Akten des Verfahrens am 04.02.2016 dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG erkennen die Verwaltungsgerichte über Beschwerden gegen den Bescheid einer Verwaltungsbehörde wegen Rechtswidrigkeit.

Gemäß § 9 Abs. 2 Z 1 VwGVG ist belangte Behörde in den Fällen des Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG jene Behörde, die den angefochtenen Bescheid erlassen hat - vorliegend sohin das Sozialministeriumsservice, Landesstelle Wien.

Gemäß § 9d Abs. 1 Verbrechensopfergesetz (VOG) entscheidet über Beschwerden gegen Bescheide nach diesem Bundesgesetz das Bundesverwaltungsgericht durch einen Senat, dem ein fachkundiger Laienrichter angehört. Es liegt somit Senatszuständigkeit vor.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.).

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Die zentrale Regelung zur Frage der Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte bildet § 28 VwGVG.

"§ 28. (1) Sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

(2) Über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG hat das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn

1. der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder

2. die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

(3) Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist."

§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.

Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.

Zu A) Zurückverweisung der Beschwerde:

Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt nach dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063 insbesondere dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat oder, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat oder, wenn die Verwaltungsbehörde Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden.

Der angefochtene Bescheid erweist sich aus folgenden Gründen als grob mangelhaft:

Im Aktenvermerk vom 22.09.2015 (AS 382) wird angegeben, dass mit Anordnung der belangten Behörde vom 24.03.2014 der ärztliche Dienst des Sozialministeriumsservice um eine Doppelbegutachtung und Erstellung eines neurologischen, psychologischen und allgemeinmedizinischen Gutachtens ersucht wurde. Aufgrund der - nach Ansicht der belangten Behörde vorliegenden - Unschlüssigkeit der daraufhin erstatteten beiden Gutachten sei seitens der belangten Behörde eine "Ergänzung der Gutachten" beauftragt worden, wobei jedoch nur Dr XXXX ein neues Gutachten erstattet habe. Das Gutachten von Dr. XXXX sei nicht überarbeitet worden. Aus welchem Grund die belangte Behörde auf die Ergänzung des - ihrer Ansicht nach - unschlüssigen Gutachtens von Dr. XXXX verzichtete, ist nicht ersichtlich.

Das Gutachten von Dr. XXXX (Begutachtung am 21.05.2014) wurde laut Aktenvermerk vom 22.09.2015 aufgrund der von der belangten Behörde angenommenen Unschlüssigkeit von der Akteneinsicht ausgenommen. Dieses Gutachten wurde den Parteien nicht zu Gehör gebracht; die Unschlüssigkeit wurde seitens der belangten Behörde jedoch nicht begründet. In diesem Gutachten von Dr. XXXX findet sich an jener Stelle, wo das Leiden "chronifizierte Depression" festgestellt wird, folgender handschriftlicher Vermerk: "aktenwidrig?". Dieser mit Bleistift geschriebene Vermerk mit dem Fragezeichen weist jedoch darauf hin, dass die Behörde nicht erörtert hat, ob das Leiden tatsächlich aktenwidrig angenommen wurde. Es ist festzuhalten, dass die Beschwerdeführerin durch die Ausnahme von der Akteneinsicht und die mangelnde Möglichkeit der Parteien zur Stellungnahme in ihren Rechten verkürzt wurde.

So ist die Aktenwidrigkeit im Gutachten von Dr. XXXX schon deshalb nicht offensichtlich, da in dem im Akt befindlichen neurologisch-psychiatrischen Sachverständigengutachten von Dr. XXXX , Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, vom 17.06.2013 (AS 214-220) die Diagnose F34.1. festgestellt wird und diese Diagnose somit zur Gruppe F31-34 zugehörig ist. Da die ICD-10 - anders als das DSM-5- keine Codierung für die Remissionsstärke oder die Chronizität der Störung vorsieht, wäre mit dem Gutachter zu erörtern gewesen, ob nicht eine andere Einordnung in der Gruppe F31-34 näher liegend ist.

Zudem ist festzuhalten, dass der ursprüngliche Gutachtensauftrag vom 27.03.2014 die von der Psychotherapeutin Mag. XXXX erstellte Diagnose ICD 10, F 62.0 "andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung" (Email vom 13.02.2013, AS 100) sowie die Beurteilung der Klinischen Psychologin Dr. XXXX im klinisch-psychologischen Befund vom 03.05.2012 "mittelgradig depressive Störung mit verstärkten Angstsymptomen und Traumatisierungsmerkmalen" (AS 12/13) völlig unerwähnt lässt. Eine - wie von der belangten Behörde angenommene - Aktenwidrigkeit im Gutachten von Dr. XXXX bezüglich der dort festgestellten chronifizierten Depression liegt sohin nicht auf der Hand.

Zu dem im Akt befindlichen nervenärztlichen Gutachten von Dr. XXXX , Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie, ist wie folgt auszuführen: Im Aktenvermerk vom 22.09.2015 wurde angegeben, dass Dr. XXXX ein neues Gutachten, datierend auf 11.12.2014, erstattete. Das ursprüngliche Gutachten von Dr. XXXX wurde jedoch nicht dem Akt beigefügt. Somit ist auch nicht überprüfbar, ob es sich bei dem nunmehr im Akt befindlichen Gutachten (AS 316-317) um ein abgeändertes Gutachten handelt, da Veränderungen nicht dokumentiert sind. Es ist keiner Überprüfung zugänglich, ob es sich, wie im Aktenvermerk vom 22.09.2015 angegeben, um ein komplett neues Gutachten handelt, wobei der Anschein der Datierung "Wien, 16.05.2014" jedenfalls dagegen spricht.

Somit ist jedoch festzuhalten, dass die Überprüfbarkeit des Bescheides dem Bundesverwaltungsgericht entzogen ist und ist bereits aus diesem Grund die Sache an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde das bisher von der Akteneinsicht ausgenommene Gutachten von Dr. XXXX den Parteien offen zu legen und Gelegenheit zur Stellungnahme zu bieten haben. Aufgrund der, durch das Bundesverwaltungsgericht aufgezeigten, Unschlüssigkeit der behördlichen Behauptung der Aktenwidrigkeit und mangelnden Berücksichtigung von Diagnosen und Beurteilungen, ist ein neues oder ergänzendes Gutachten einzuholen. Zu diesem ist ebenso Parteiengehör zu gewähren und das Parteienvorbringen eingehend zu würdigen. Die belangte Behörde wird sodann unter Berücksichtigung sämtlicher Befunde und den darin erstellten Diagnosen den Sachverhalt erneut zu beurteilen haben.

Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat und sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung der Voraussetzungen für Hilfeleistungen nach dem VOG als bloß ansatzweise ermittelt erweist, sodass grundlegende und geeignete Ermittlungen und darauf aufbauende überprüfbare Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.

Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann im Lichte obiger rechtlicher Ausführungen nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteienverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes und angesichts des Umfanges der im gegenständlichen Fall nachzuholenden erforderlichen Sachverhaltsermittlungen - nicht ersichtlich.

Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben. Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall der Beschwerdeführerin noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rasch und kostengünstig festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

In der Beurteilung durch das Bundesverwaltungsgericht wurde ausgeführt, dass im erstbehördlichen Verfahren notwendige Ermittlungen unterlassen wurden. Betreffend die Anwendbarkeit des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG im gegenständlichen Fall liegt keine grundsätzliche Rechtsfrage vor, vielmehr orientiert sich der vorliegende Beschluss an der aktuellen Rechtsprechung (26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063 und 24.02.2016, Zl. Ra 2015/08/0209) des Verwaltungsgerichtshofes zur Anwendung des § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Schlagworte

Ermittlungspflicht, Gutachten, Kassation, mangelnde
Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2018:W228.2120591.1.00

Zuletzt aktualisiert am

10.04.2018
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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