RS Vfgh 2018/3/7 G136/2017 ua (G136/2017-19 ua)

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 07.03.2018
beobachten
merken

Index

L9200 Sozialhilfe, Grundsicherung, Mindestsicherung

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Gesetz
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
B-VG Art140 Abs1 Z1 lita
B-VG Art140 Abs6, Abs7
BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
BVG über die Rechte von Kindern Art1, Art7
EMRK Art14
StGG Art2
Nö MindestsicherungsG §7d Abs5, §10 Abs4, §11a, §11b
Nö MindeststandardV

Leitsatz

Aufhebung von Bestimmungen des Nö MindestsicherungsG betreffend die von der Dauer des Aufenthalts abhängige Differenzierung des Anspruchs auf Bedarfsorientierte Mindestsicherung sowie die starre Deckelung der Bezugshöhe bei Haushalten mit mehreren Personen; teilweise Zurückweisung der Gerichtsanträge wegen unzulässigen Anfechtungsumfangs bzw mangels Präjudizialität

Rechtssatz

Zulässigkeit der Anträge des Landesverwaltungsgerichtes Nö auf Prüfung von §10 Abs4, §11a und §11b Nö MindestsicherungsG, LGBl 9205-0 idF LGBl 103/2016 (im Folgenden: NÖ MSG); im Übrigen Zurückweisung der Anträge.

Vor dem Hintergrund der vorgebrachten verfassungsrechtlichen Bedenken hinsichtlich §11a und §11b NÖ MSG, die sich einerseits gegen die Schaffung unterschiedlicher Mindeststandards für verschiedene Personenkreise und andererseits gegen eine absolute Deckelung dieser Mindeststandards richten, umfasst der Anfechtungsumfang §10 Abs4, §11a und §11b NÖ MSG zur Gänze.

Das Vorbringen des Landesverwaltungsgerichtes zielt darauf ab, dass jegliche Differenzierung auf Grund der Aufenthaltsdauer, die zur Anwendung der verminderten Mindeststandards - Integration führe - unabhängig davon, ob Alleinerziehende, Minderjährige oder Volljährige betroffen sind - verfassungswidrig sei. Eine Prüfung dieser verfassungsrechtlichen Bedenken setzt daher die Anfechtung der gesamten Bestimmung voraus.

Die in §10 Abs4 NÖ MSG getroffene Ausnahme von der Anwendung der Mindestsicherung - Integration auf weniger als fünf Jahre aufhältige Personen und in Österreich geborene Kinder ändert, nach dem Vorbringen des Landesverwaltungsgerichtes, nichts an dieser Differenzierung und steht daher im untrennbaren Zusammenhang mit §11a NÖ MSG.

Gleiches gilt für §11b Abs 4 NÖ MSG, der die Berechnung der absoluten Deckelung bestimmt und Vorgaben zur vorzunehmenden Kürzung auf Grund der Deckelung trifft. Da das Landesverwaltungsgericht vorbringt, dass eine absolute Deckelung per se unsachlich und daher gleichheitswidrig sei, ist auch die gesamte Regelung zur Deckelung anzufechten.

Hingegen ist §7d Abs5 NÖ MSG vom antragstellenden Gericht in einzelnen Verfahren nicht anzuwenden und zudem von jenen Bestimmungen, denen der Sitz der verfassungsrechtlichen Bedenken des antragstellenden Gerichts zuzuordnen ist, offensichtlich trennbar. Soweit sich die Anträge daher gegen den Bestandteil "- Integration" in §7d Abs5 NÖ MSG wenden, sind sie unzulässig.

Aufhebung von §10 Abs4, §11a und §11b NÖ MSG wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz und das Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander.

Anspruchsberechtigte Personen haben entweder Anspruch auf Mindeststandards gemäß §11 NÖ MSG oder Anspruch auf Mindeststandards - Integration gemäß §11a NÖ MSG. Personen, die sich innerhalb der letzten sechs Jahre mehr als fünf Jahre in Österreich aufgehalten haben, steht der (allgemeine) Mindeststandard gemäß §11 NÖ MSG zu. Personen, die sich innerhalb der letzten sechs Jahre weniger als fünf Jahre in Österreich aufgehalten haben, steht seit der Novelle LGBl 103/2016 nur der (verminderte) Mindeststandard - Integration gemäß §11a NÖ MSG zu. Davon sind wiederum Personen ausgenommen, die "Österreich nachweislich zu Ausbildungszwecken oder aus beruflichen Gründen verlassen haben" (vgl §10 Abs4 Z1 NÖ MSG). In "Österreich geborene Kinder, bei denen einer der Obsorgeberechtigten nicht zum Personenkreis nach §11a Abs1 zählt" sind ebenfalls vom Erfordernis des fünfjährigen Aufenthalts befreit (vgl §10 Abs4 Z2 NÖ MSG). Für diese Gruppen gelten demnach die (allgemeinen) höheren Mindeststandards gemäß §11 NÖ MSG.

Der nö Gesetzgeber hat damit eine Regelung geschaffen, die österreichische Staatsbürger im Hinblick auf die Höhe der zu gewährenden Mindeststandards - abhängig von ihrer Aufenthaltsdauer im Inland - ungleich behandelt.

Es steht dem Gesetzgeber grundsätzlich frei, auf eine die öffentlichen Haushalte übermäßig belastende Nachfrage nach bestimmten steuerfinanzierten Transferleistungen zu reagieren und den Zugang zu diesen Leistungen zu erschweren. Dabei muss der Gesetzgeber aber an sachliche Kriterien anknüpfen. Das Kriterium der Aufenthaltsdauer in Österreich innerhalb der letzten sechs Jahre stellt keine sachliche Differenzierung dar.

Die an das Merkmal der Aufenthaltsdauer anknüpfende Nahebeziehung zur Solidargemeinschaft jenes Staates, der für die Leistungen aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung finanziell aufkommt, besteht bei allen Staatsbürgern kraft dieses Status, sie sind - unabhängig von der Dauer ihres Aufenthaltes - jedenfalls Teil der Gesellschaft, die für die Leistungen aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung aufkommt.

Es steht dem Gesetzgeber - unter Einhaltung europa- und völkerrechtlicher Verpflichtungen - frei, Differenzierungen auf Grund der Beständigkeit des Aufenthaltsrechtes vorzunehmen, soweit zumindest die für ein menschenwürdiges Dasein erforderlichen Leistungen im zwingend erforderlichen Umfang gewährt werden.

Ebenso steht es dem Gesetzgeber frei, auf den im Bedarfszeitraum tatsächlichen Aufenthalt im Inland abzustellen.

Die Ausnahmeregelung des §10 Abs4 Z2 NÖ MSG überträgt letztlich die nach §11a NÖ MSG verfassungswidrig geregelten Mindeststandards auf Kinder und ist daher ebenso verfassungswidrig: Es ist kein Grund ersichtlich, warum die Bedarfsorientierte Mindestsicherung für Kinder von Staatsbürgern vom früheren Aufenthalt ihrer Eltern in Österreich abhängen soll.

Nach dem NÖ MSG ist der Kreis der anspruchsberechtigten ausländischen Staatsangehörigen auf Fremde begrenzt, die über ein nicht bloß provisorisches Aufenthaltsrecht verfügen (vgl §5 Abs1 Z3 NÖ MSG). Damit verhindert das NÖ MSG, dass Personen ausschließlich zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen nach Österreich migrieren.

Art23 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) verlangt eine nach Art und Höhe gleich ausgestaltete öffentliche Unterstützung und Hilfeleistung für Asylberechtigte und Staatsbürger. Österreich hat die - innerstaatlich im Rang eines einfachen Bundesgesetzes stehende - GFK mit der Maßgabe ratifiziert, dass unter den in Art23 GFK angeführten "Öffentlichen Unterstützungen und Hilfeleistungen" nur Zuwendungen aus der öffentlichen Fürsorge (Armenversorgung) zu verstehen sind. Leistungen aus der Bedarfsorientierten Mindestsicherung sind jedenfalls Zuwendungen aus der öffentlichen Fürsorge.

§10 Abs4 und §11a NÖ MSG, die zwar nicht nach der Staatsangehörigkeit, aber nach der Aufenthaltsdauer im Inland differenzieren, verstoßen vor diesem Hintergrund gegen den Gleichheitsgrundsatz.

Unabhängig davon, ob der Mindeststandard gemäß §11 NÖ MSG oder der Mindeststandard - Integration gemäß §11a NÖ MSG zusteht, sieht §11b NÖ MSG eine Deckelung des Mindeststandards pro Haushalt vor: In einem Haushalt können maximal € 1.500,- an Bedarfsorientierter Mindestsicherung bezogen werden. Die Mindeststandards der Anspruchsberechtigten eines Haushalts sind prozentuell zu kürzen, sodass die Ansprüche insgesamt € 1.500,- nicht übersteigen, und zwar unabhängig davon, wie viele und welche Personen tatsächlich im Haushalt leben und wie hoch deren konkreter Bedarf ist. Auch wenn die Lebenshaltungskosten pro Person bei zunehmender Größe der Haushaltsgemeinschaft abnehmen mögen, so ist doch immer noch je weitere Person ein Aufwand in einiger Höhe erforderlich.

Es ist zulässig, den Grundbetrag der Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag bei der Bemessung von Leistungen beim Anspruchsberechtigten aus der Mindestsicherung zu berücksichtigen. Dies ändert jedoch nichts an der unsachlichen Ausgestaltung von §11b NÖ MSG, die es verhindert, den konkreten Bedarf von Personen, die in einer Haushaltsgemeinschaft leben, wahrzunehmen. Vor dem Hintergrund der systemimmanenten Unsachlichkeit kann auch nicht von einem bloßen Härtefall gesprochen werden.

Die Deckelung in anderen sozialrechtlichen Regelungen ist nicht mit §11b NÖ MSG vergleichbar. So ist (zB) die in §220 ASVG vorgesehene Deckelung im Hinblick auf die Gebundenheit der Leistungshöhe an geleistete Beiträge systemimmanent sachlich begründet und einem Vergleich mit der - unabhängig von Beitragsleistungen ausgestalteten - Bedarfsorientierten Mindestsicherung, die sich am Bedarf orientiert, nicht zugänglich.

Ausspruch gem Art140 Abs6 erster Satz B-VG, dass frühere gesetzliche Bestimmungen nicht wieder in Kraft treten.

Ausspruch gem Art140 Abs7 zweier Satz B-VG, dass die aufgehobenen Bestimmungen nicht mehr anzuwenden sind.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Mindestsicherung, Grundversorgung, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Präjudizialität, Auslegung eines Gesetzes, VfGH / Aufhebung Wirkung, Rechtspolitik

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2018:G136.2017

Zuletzt aktualisiert am

30.07.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten