TE Bvwg Erkenntnis 2018/1/4 W251 2148344-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 04.01.2018
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Entscheidungsdatum

04.01.2018

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art.130 Abs1 Z3
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
VwGVG §8

Spruch

W251 2148344-1/18E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Angelika SENFT als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX alias XXXX, geb. XXXX alias XXXX, StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwalt Edward W. DAIGNEAULT, wegen Verletzung der Entscheidungspflicht durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bezüglich des am 13.10.2015 gestellten Antrags auf internationalen Schutz zur Zl. XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht:

A)

I. Der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen.

II. Der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 abgewiesen.

III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird dem Beschwerdeführer gemäß §§ 57 und 55 AsylG 2005 nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wird gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist.

IV. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte am 13.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.

2. Am 14.10.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er im Wesentlichen an, dass er und seine Brüder von einer Gruppe, die Waffen geliefert und für die Taliban gearbeitet hätten, aufgefordert worden seien sich dieser Gruppe anzuschließen. Da sich der Beschwerdeführer und seine Brüder geweigert hätten, sei einer seiner Brüder umgebracht worden. Die Familie des Beschwerdeführers sei daraufhin nach Pakistan gezogen. Da der Beschwerdeführer illegal in Pakistan aufhältig gewesen und festgenommen worden sei, habe er nach seiner Freilassung Pakistan in Richtung Europa verlassen.

3. Da im Zuge eines Termins beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) am 23.10.2015 Zweifel an der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers aufkamen, erfolgte am 30.10.2015 die Bestimmung seines Knochenalters durch ein Röntgen der linken Hand, welches darauf hindeutete, dass er bereits volljährig ist.

4. Das vom Bundesamt in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachten zur Altersfeststellung vom 27.04.2016 nennt betreffend den Beschwerdeführer den XXXX als spätestmöglichen "fiktiven" Geburtstag und den 14.03.2015 als spätestmöglichen "fiktiven" 18. Geburtstag, sodass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Asylantragstellung am 13.10.2015 jedenfalls bereits volljährig war.

Gestützt auf das Sachverständigengutachten stellte das Bundesamt mit Verfahrens-anordnung vom 23.05.2016 die Volljährigkeit des Beschwerdeführers fest und setzte als Geburtsdatum für das Mindestalter des Beschwerdeführers den XXXX fest.

5. Am 15.02.2017 brachte der Beschwerdeführer, vertreten durch seinen ausgewiesenen Rechtsvertreter, Säumnisbeschwerde wegen Verletzung der Entscheidungspflicht ein. Am 21.02.2017 legte das Bundesamt den Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht vor. Das Bundesamt brachte vor, dass der seit etwa September 2014 im Wesentlichen andauernde, erhebliche Zustrom von Asylwerbern ein unbeeinflussbares und unüberwindliches Hindernis darstelle, das die Sachverhaltsfeststellungen in einer Anzahl von Verfahren verhindert habe. Das Bundesamt treffe an der Verzögerung der Erledigung des gegenständlichen Antrags auf internationalen Schutz kein überwiegendes Verschulden.

6. Am 10.04.2017 wurde der Beschwerdeführer im Auftrag des Bundesverwaltungsgerichts vor dem Bundesamt niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Der Beschwerdeführer bracht im Wesentlichen vor, dass sein Vater aufgrund von Streitigkeiten mit XXXX (auch XXXX) um ein Grundstück von dessen Sohn getötet worden sei. Daraufhin habe der Bruder des Beschwerdeführers zwei Söhne von XXXX getötet. Es sei zu einer Jirga gekommen und die Familie des Beschwerdeführers habe 400.000 Rubin Entschädigung an die Familie von XXXX (im Folgenden FamilieXXXX) zahlen müssen. Da es jedoch danach weiterhin Probleme mit der Familie XXXX gegeben habe, sei die Familie des Beschwerdeführers nach Jalalabad übersiedelt. Eines Tages sei der älteste Bruder des Beschwerdeführers vom Sohn von XXXX angeschossen worden. Dann seien zwei Söhne von XXXX von der Regierung verhaftet worden, weil sie Waffen für die Taliban gekauft hätten. Die Familie XXXX habe den Beschwerdeführer und seine Brüder verdächtigt, sie an die Regierung verraten zu haben. Der Beschwerdeführer sei deshalb entführt und 19 Tage festgehalten worden. Er sei durch eine Polizeioperation freigekommen, habe sich drei Tage bei seinem Onkel versteckt und habe dann Afghanistan verlassen.

7. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 01.09.2017 und am 04.09.2017 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu und im Beisein des Rechtsvertreter des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. Der Beschwerdeführer wurde u. a. ausführlich zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat, seinen Fluchtgründen und seiner Integration in Österreich befragt. Ein Vertreter des Bundesamtes nahm an der Verhandlung nicht teil. Den Parteien wurde in der Verhandlung aufgetragen binnen 14 Tagen zu den beigezogenen Länderberichten Stellung zu nehmen.

8. Der Beschwerdeführer erstattete keine Stellungnahme. Das Bundesamt nahm Stellung zu den Länderberichten und den Verfahrensergebnissen und führet aus, dass das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers jeder Glaubwürdigkeit entbehre. In Gesamtschau der Angaben des Beschwerdeführers (familiäre Anknüpfungspunkte in Afghanistan, Arbeitsfähigkeit, Berufserfahrung, finanzielle Unterstützung durch seinen in Österreich lebenden Bruder) und unter Berücksichtigung der aktuellen Länderberichte zu Afghanistan hätten sich keine konkreten Anhaltspunkte ergeben, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Rechten nach Art. 2 oder 3 EMRK verletzt werden würde.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

1.1.1. Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX alias XXXX und das Geburtsdatum XXXX alias XXXX. Er ist afghanischer Staatsangehöriger, Volksgruppenangehöriger der Paschtunen und bekennt sich zum sunnitisch-muslimischen Glauben. Er ist nicht verheiratet und hat keine Kinder (AS 5, 473; Verhandlungsprotokoll vom 01.09.2017 - OZ 8, S. 7).

Der Beschwerdeführer ist in der Provinz Nangarhar, im Distrikt XXXX, im Dorf XXXX geboren und dort mit seinen Eltern, seinen drei Brüdern und seiner Schwester aufgewachsen (AS 475; OZ 8, S. 7). Seine Eltern waren in der Landwirtschaft tätig. Sie verfügen in ihrem Heimatdorf sowie im Dorf XXXX (Provinz Nangarhar, Distrikt XXXX) über insgesamt 10 jerib Grundstücke. Die Familie des Beschwerdeführers besitzt drei Häuser in der Stadt Jalalabad im XXXX, die sie vermietet bzw. verpachtet hat und von deren Einnahmen sie lebt (AS 477 f; OZ 8, S. 8; Verhandlungsprotokoll vom 04.09.2017 - OZ 10, S. 4). Der Beschwerdeführer hat fünf Jahre die Schule in der Stadt Jalalabad besucht und hat in der Landwirtschaft seiner Eltern mitgeholfen (AS 477 f; OZ 8, S. 8).

Der Beschwerdeführer verfügt über eine Tante väterlicherseits in der Stadt Jalalabad, zwei Tanten väterlicherseits und fünf Onkel mütterlicherseits im Distrikt XXXX (Provinz Nangarhar). Die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers leben nach wie vor in der Provinz Nangarhar im Distrikt XXXX, nunmehr im Haus eines Onkels des Beschwerde-führers. Die Mutter des Beschwerdeführers und seine Schwester erhalten nach wie vor Einnahmen aus der Vermietung und Verpachtung der drei Häuser. Der Beschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seinem Onkel mütterlicherseits und seiner Mutter (AS 477, 479; OZ 8, S. 10; OZ 10, S. 18).

Es kann weder festgestellt werden, dass die Familie des Beschwerdeführers aufgrund einer angeblichen Blutfehde mit der Familie XXXX nach Jalalabad übersiedelt ist noch, dass die Mutter des Beschwerdeführers ihre landwirtschaftlich genutzten Grundstücke an die Taliban oder die Familie XXXX überschrieben hat noch, dass die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers gemeinsam mit dem Beschwerdeführer aus Afghanistan ausgereist sind.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten (Strafregisterauszug vom 08.08.2017).

Der Beschwerdeführer befindet sich nicht in dauerhafter medikamentöser Behandlung. Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten (AS 475; OZ 8, S. 15; Beilage ./A)

1.2. Zur maßgeblichen Situation des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer befindet sich seit Oktober 2015 durchgehend im Bundesgebiet und lebt von der Grundversorgung (Beilage ./I). Der Beschwerdeführer geht keiner Erwerbstätigkeit nach.

Der Beschwerdeführer ist seit Februar/März 2016 Schüler bei PROSA (Projekt Schule für Alle) um ihn auf den Pflichtschulabschluss vorzubereiten (AS 501, 505; OZ 8, S. 12). Er hat im Zuge dessen bereits den Basisbildungskurs 1 und 2 in Deutsch und Mathematik sowie 2 und 3 in Englisch erfolgreich absolviert (AS 499, 507, 509; OZ 8, S. 12). Der Beschwerdeführer hat auch bereits die Deutschprüfung für die Stufe A2 bestanden (AS 515). Er hat an einem Workshop Möbel bauen sowie an einem IT-Basis-Kurs teilgenommen (OZ 8, S. 12).

Der Beschwerdeführer ist kein Mitglied eines Vereins, hat freundschaftliche Beziehungen zu Afghanen, Somalier und Türken und hat über das Projekt "vielmehr für alle" eine freundschaftliche Beziehung zu seinem aus England stammenden "Vertrauensbuddy" in Österreich aufbauen können (AS 511; OZ 8, S. 13). Bis auf die Kontakte zu seiner Vertrauenslehrerin hat der Beschwerdeführer jedoch keine Kontakte zu Österreichern (OZ 8, S. 14). Der private und familiäre Lebensmittelpunkt des Beschwerdeführers befand sich in Afghanistan, wo er unverändert ein soziales und familiäres Umfeld vorfindet. Der Beschwerdeführer verfügt über einen entfernten Verwandten seines Vaters in Bregenz, den er nicht kennt und zu dem er auch keinen Kontakt hat sowie über einen Bruder in Wien. Diesem Bruder des Beschwerdeführers wurde im Februar 2015 der Status eines Asylberechtigten zuerkannt. Mit diesem Bruder trifft sich der Beschwerdeführer 2-3 mal im Monat und hat telefonischen Kontakt. Er steht in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Bruder, dieser kann den Beschwerdeführer jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch finanziell unterstützen (OZ 8, S. 11, 13 f; OZ 10, S. 19).

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Das vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.

1.3.1. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Familie des Beschwerdeführers in Grundstückstreitigkeiten verwickelt war. Es kann weder festgestellt werden, dass der Vater des Beschwerdeführers wegen Grundstücksstreitigkeiten mit XXXX von dessen Sohn getötet worden ist noch, dass der älteste Bruder des Beschwerdeführers im Zuge dieses Streits zwei Söhne von XXXX erschossen hat. Darüber hinaus kann nicht festgestellt werden, dass der älteste Bruder des Beschwerdeführers von einem Sohn von XXXX angeschossen worden ist. Ebenso kann nicht festgestellt werden, dass es eine Blutfehde zwischen der FamilieXXXX und der Familie des Beschwerdeführers gegeben hat. Es kann zudem nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan geschlagen oder gequält wurde.

1.3.2. Es kann nicht festgestellt werden, dass die Familie XXXX oder die Taliban den Beschwerdeführer oder seine Familie verdächtigt haben, die Söhne von XXXX an die Regierung verraten zu haben. Weiters kann der Vorfall, wonach der Beschwerdeführer von den Taliban oder der Familie XXXX entführt und 19 Tage festgehalten worden ist, nicht festgestellt werden. Es kann auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerde-führer oder seine Familienangehörigen Drohbriefe der Taliban erhalten haben oder ins Blickfeld der Taliban geraten sind. Ebenso kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer von der Familie XXXX oder von den Taliban oder von anderen Personen in Afghanistan konkret und individuell mit der Ausübung von physischer oder psychischer Gewalt bedroht worden ist.

Darüber hinaus kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine konkrete und individuelle Ausübung von physischer oder psychischer Gewalt durchXXXX oder seinen Familienangehörigen, durch die Taliban oder andere Personen in Afghanistan droht.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist durch eine tief verwurzelte militante Opposition beeinträchtigt. (Länderinformationsblatt für Afghanistan vom 02.03.2017 mit Aktualisierung vom 22.06.2017 - LIB 22.06.2017, S. 24).

Die afghanischen Verteidigungsstreitkräfte (ANDSF) waren im Allgemeinen in der Lage, große Bevölkerungszentren zu beschützen. Sie hielten die Taliban davon ab, Kontrolle in bestimmten Gegenden über einen längeren Zeitraum zu halten und reagierten auf Talibanangriffe. Den Taliban hingegen gelang es, ländliche Gegenden einzunehmen; sie kehrten in Gegenden zurück, die von den ANDSF bereits befreit worden waren, und in denen die ANDSF ihre Präsenz nicht halten konnten. Sie führten außerdem Angriffe durch, um das öffentliche Vertrauen in die Sicherheitskräfte der Regierung, und deren Fähigkeit, für Schutz zu sorgen, zu untergraben (LIB 22.06.2017, S. 28).

Im zweiten Quartal 2017 war die Sicherheitslage in Afghanistan weiterhin volatil, insbesondere in den östlichen und südöstlichen Regionen, die zu den volatilsten zählen (LIB 22.06.2017, S. 6).

Nangarhar

Die Provinz Nangarhar liegt im Osten von Afghanistan. Im Norden grenzt sie an die Provinzen Kunar und Laghman, im Westen an die Hauptstadt Kabul und die Provinz Logar, im Süden an den Gebirgszug Spinghar. Die Provinzhauptstadt Jalalabad ist 120 km von Kabul entfernt. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.545.448 geschätzt (LIB 22.06.2017, S. 84).

Seit dem Auftreten des Islamischen Staates in der bergreichen Provinz Nangarhar kommt es zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräfte und IS-Aufständischen. Die Aktivitäten des Islamischen Staates in der Provinz sind auf einige Gebiete in Nangarhar beschränkt. Dies betrifft insbesondere die Distrikte Achin, Kot, Haska Mina, sowie andere abgelegene Distrikte in Nangarhar (LIB 22.06.2017, S. 84).

In der Provinz werden regelmäßig Luftangriffe gegen den Islamischen Staat durchgeführt. Auch werden regelmäßig militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Aufständischen zu befreien; getötet wurden dabei hochrangige Führer des IS, aber auch Anführer der Taliban. In manchen Teilen der Provinz hat sich die Sicherheitslage aufgrund von militärischen Operationen verbessert. Die afghanischen Sicherheitskräfte werden weiterhin Druck auf Sympathisanten des IS in Ostafghanistan ausüben, um zu verhindern, dass diese sich in den Distrikten Nangarhars oder anderen Provinzen ausweiten (LIB 22.06.2017, S. 84 f).

Kabul

Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul Stadt. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan, im Nordosten an Kapisa, im Osten an Laghman, Nangarhar im Südosten, Logar im Süden und (Maidan) Wardak im Südwesten. Kabul ist mit den Provinzen Kandahar, Herat und Mazar durch die sogenannte Ringstraße und mit Peshawar in Pakistan durch die Kabul-Torkham Autobahn verbunden. Die Stadt hat 22 Stadtgemeinden und 14 administrative Einheiten. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.523.718 geschätzt (LIB 22.06.2017, S. 36).

Die afghanische Regierung hat die Kontrolle über Kabul, größere Transitrouten, Provinzhauptstädte und fast alle Distriktzentren (LIB 22.06.2017, S. 37). Kabul ist über den internationalen Flughafen Hamid Karzai in Kabul gut erreichbar (LIB 22.06.2017, S. 116, Gutachten Mag. Karl Mahringer vom 05.03.2017, S. 14).

Nach einem Zeitraum länger andauernder relativer Ruhe in der Hauptstadt, wird Kabul nunmehr immer wieder von Attentaten erschüttert. Aufständische Gruppen führen Angriffe auf Gebäude und Individuen mit afghanischem und amerikanischem Hintergrund:

afghanische und US-amerikanische Regierungs-einrichtungen, ausländische Vertretungen, militärische Einrichtungen, gewerbliche Einrichtungen, Büros von Nichtregierungs-organisationen, Restaurants, Hotels und Gästehäuser, Flughäfen und Bildungszentren. Auch religiöse Orte, wie z.B. Moscheen werden Ziel von Angriffen (LIB 22.06.2017, S. 8 f, 37). Die genannten Gefährdungsquellen sind in reinen Wohngebieten nicht anzunehmen, weshalb die Sicherheitslage in der Stadt Kabul nach wie vor als ausreichend sicher zu bewerten ist.

Es besteht kein Engpass bei der Lebensmittelversorgung und der Versorgung durch andere Produkte des täglichen Lebens in Afghanistan (Gutachten Mahringer, S. 22). In Kabul ist die Stromversorgung aufgrund der veralteten technischen Infrastruktur und dem Import von Strom aus den Nachbarländern nur beschränkt gesichert (Gutachten Mahringer, S. 31). Die Wasserversorgung ist das ganze Jahr ausreichend gegeben (Gutachten Mahringer, S. 33).

Somit ist - auch wenn die Verwirklichung grundlegender sozialer und wirtschaftlicher Bedürfnisse, wie etwa der Zugang zu Arbeit, Nahrung, Wohnraum und Gesundheits-versorgung häufig nur sehr eingeschränkt möglich ist - die Versorgung der afghanischen Bevölkerung in Kabul dennoch zumindest grundlegend gesichert.

Medizinische Versorgung:

Es gibt keine staatliche Krankenkasse und die privaten Anbieter sind überschaubar und teuer, somit für die einheimische Bevölkerung nicht erschwinglich. Die staatlich geförderten öffentlichen Krankenhäuser bieten ihre Dienste zwar umsonst an, jedoch sind Medikamente häufig nicht verfügbar und somit müssen bei privaten Apotheken von den Patient/innen selbst bezahlt werden. Untersuchungen, Labortests sowie Routine Check-Ups sind in den Krankenhäusern umsonst. Da kein gesondertes Verfahren existiert, haben alle Staatsbürger Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Chirurgische Eingriffe können nur in ausgewählten Orten geboten werden, welche zudem meist einen Mangel an Ausstattung und Personal aufweisen. Diagnostische Ausstattungen wie Computer Tomographie ist in Kabul verfügbar. Eine begrenzte Zahl staatlicher Krankenhäuser in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung. Die Kosten für Medikamente in diesen Einrichtungen weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e-Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren. Um Zugang zu erhalten, benötigt man die afghanische Nationalität (Ausweis/Tazkira). Man kann sich mit seinem Ausweis in jedem afghanischen Krankenhaus registrieren und je nach gesundheitlicher Beschwerde einem Arzt zugewiesen werden. Sollten Operation und Krankenhausaufenthalt nötig sein, wird dem Patienten in dem Krankenhaus ein Bett zur Verfügung gestellt (LIB 22.06.2017, S. 185).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Afghanistan ist mit einer anhaltenden Bedrohung durch mehr als 20 aufständische Gruppen bzw. terroristische Netzwerke, die in der Region Afghanistan und Pakistan (AfPak-Region) operieren, konfrontiert; zu diesen Gruppierungen zählen unter anderem die Taliban, das Haqqani Netzwerk, der Islamische Staat und al-Qaida (LIB 22.06.2017, S. 10).

Regierungsfeindliche Elemente versuchten weiterhin durch Bedrohungen, Entführungen und gezielten Tötungen ihren Einfluss zu verstärken. Zwangsrekrutierungen durch die Taliban, Milizen, Warlords oder kriminelle Banden sind nicht auszuschließen. Konkrete Fälle kommen jedoch aus Furcht vor Konsequenzen für die Rekrutierten oder ihren Familien kaum an die Öffentlichkeit (LIB 22.06.2017, S. 27).

Taliban und ihre Offensive

Die Taliban haben ihr Ziel, großangelegte Offensiven gegen Regierungsstützpunkte durchzuführen um die vom Westen unterstütze Regierung zu vertreiben, nicht erreicht. Gebietsgewinne der Taliban waren nicht dauerhaft, nachdem die ANDSF immer wieder die Distriktzentren und Bevölkerungsgegenden innerhalb eines Tages zurückerobern konnte. Die Taliban haben ihre lokalen und temporären Erfolge ausgenutzt, indem sie diese als große strategische Veränderungen in sozialen Medien und in anderen öffentlichen Informationskampagnen verlautbarten. Zusätzlich zum bewaffneten Konflikt zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Taliban kämpften die Taliban gegen den ISIL-KP (Islamischer Staat in der Provinz Khorasan). Aufgrund interner Unstimmigkeiten und Überläufern zu feindlichen Gruppierungen, wie dem Islamischen Staat, sind die afghanischen Taliban geschwächt (LIB 22.06.2017, S. 28).

Afghanen, die mit ausländischen oder afghanischen Unternehmen kooperieren oder als einfache Arbeiter dort tätig sind, können von den Taliban bestraft oder getötet werden. Ist jemand nur als Arbeiter tätig gewesen und hat an keinen Militäraktionen teilgenommen oder für die Regierung spioniert, ist kein Schaden für die Taliban entstanden, sodass eine Verfolgung des Arbeiters durch die Taliban im gesamten Staatsgebiet auszuschließen ist. Die Taliban sind untereinander im Staatsgebiet gut vernetzt. Sie verfolgen jedoch nur jene Personen, deren Tätigkeit einen Schaden bei ihnen verursacht haben oder wenn sie davon ausgehen, dass die Person weiterhin mit den Organisationen arbeiten, für diese spionieren oder für diese kämpfen werde (Gutachten Dr. Rasuly vom 13.06.2012, betreffend die Verfolgung durch Talibankämpfer).

Drohbriefe der Taliban

Todesdrohungen - übermittelt durch handgeschriebene Briefe - haben eine lange Tradition in der Region und wurden normalerweise jenen übermittelt, die mit den afghanischen Sicherheitskräften oder den internationalen Kräften (z.B. den US-geführten Truppen) zusammengearbeitet haben. Es wurden deren "Verbrechen" aufgelistet und sie wurden gewarnt, dass die "militärische Kommission" über ihre Strafen entscheidet. Die Schreiben schlossen mit der Warnung, dass die Aufständischen keine Verantwortung für das übernehmen, was passieren werde. Die Taliban haben diese Praxis jedoch aufgegeben. Wenn ein Kämpfer der Taliban nunmehr vermutet, dass jemand mit der Regierung oder den Sicherheitskräften arbeitet, wird die Familie kontaktiert und er aufgefordert, diese Tätigkeit einzustellen. Es werden aber keine Drohbriefe mehr gesendet, weil das nicht (mehr) der Stil der Taliban ist. Die Taliban verwenden auch nur selten das Telefon, wenn sie auf ernsthafte Probleme stoßen (Anfragebeantwortung des BFA vom 28.07.2016 über die Drohbriefe der Taliban und die Bedrohung militärischer Mitarbeiter, S. 1 ff und 4 f).

Pashtunwali

Das Pashtunwali ist ein Kanon an Gesetzen und Verhaltensregeln und stellt den Rechts- und Ehrenkodex der Pashtunen dar. Pashtunwali übernimmt eine sowohl ideelle als auch physische Schutzfunktion in der Familie, des Stammes, der Nation und der Ehre. Es zählt zu den sogenannten Stammesgesetzen, nach denen die Angehörigen der paschtunischen Volksgruppe leben. Pashtunwali kann als Ansammlung von Normen und Werten gesehen werden, die die soziale Interaktion in der paschtunischen Gesellschaft anleitet (gutachterliche Stellungnahme von Mina ASEF-HAMEED vom 15.04.2015 im Verfahren W156 1428648-1; Dossier der Staatendokumentation, Afghanistan-Pakistan (AfPak) Grundlagen der Stammes und Clanstruktur aus 2016, S. 33).

Das Pashtunwali gilt für jeden, der in einem Siedlungsgebiet der Paschtunen lebt. Ein Paschtune, der an einem anderen Ort auf der Welt lebt, müsste sein Leben auch gemäß dem Pashtunwali führen, da er seiner Abstammung nach Paschtune ist; es ist überall gleichermaßen gültig (AfPak Grundlagen der Stammes und Clanstruktur, S. 33)

Melmastiya (Gastfreundschaft) ist ein wesentlicher Aspekt des Pashtunwali. Melmastiya bedeutet allen Besuchern Gastfreundschaft und tiefempfundenen Respekt entgegenzubringen, unabhängig von Rasse, Religion, nationaler Zughörigkeit und wirtschaftlichem Status und ohne Erwartung einer Belohnung oder von Vorteilen. Melmastiya verlangt auch, dass dem Gast Sicherheit gewährt wird und hat manchmal Vorrang vor der Badal (Vergeltung) (AfPak Grundlagen der Stammes und Clanstruktur, S. 33).

Nang steht für die Ehre. Es geht um die Bewahrung von Mut, Anstand, Großzügigkeit und anderen des im Pashtunwali verkörperten guten Eigenschaften. Dies ist der Kern des Pashtunwali und alle guten Eigenschaften, d.h. Gastfreundschaft, Respekt der Ältesten und der Frauen, Vergebung usw. basieren auf dem Grundsatz des Nang (AfPak Grundlagen der Stammes und Clanstruktur, S. 36).

Blutrache

Blutrache ist ein Prinzip zur Sühnung von Verbrechen, bei dem Tötungen oder andere verbrechen durch Tötungen gerächt werden. Hierbei straft die Familie des Opfers den Täter und seine Familie oftmals auch aus der Absicht heraus, die vermeintlich verlorene Familienehre wiederherzustellen (gutachterliche Stellungnahme von Mina ASEF-HAMEED).

Eine Blutfehde besteht zwischen zwei Familien, wobei Mitglieder der einen Familie solche der anderen zur Vergeltung einer Tat töten. Die Blutrache sei hauptsächlich eine paschtunische Tradition und im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali) verankert, werde aber auch von anderen ethnischen Gruppen praktiziert. Auslöser einer Blutfehde könne ein Mord oder eine ungelöste Streitigkeit sein (Schnellrecherche der Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) - Länderanalyse vom 07.06.2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde, S. 1).

Für die paschtunische Gesellschaft ist das Tura-Konzept von großer Bedeutung, das auf die Verteidigung der eigenen Interessen gerichtet ist. Diese Umstände fordern ein aggressives und kriegerisches Verhalten vom Paschtunen, mit dem er alles verteidigt, worauf er einen Anspruch zu machen glauben kann. Dabei wird nach Badal, das "Ausgleich" in der Form von "Vergeltung nach dem Prinzip Aug um Aug, Zahn um Zahn, Leben um Leben" bedeutet, gefordert. Bei Verlust eines verteidigungsfähigen Mannes einer Gruppe muss dem Aggressor ebenfalls eine Verminderung seiner Verteidigungsfähigkeit zugefügt werden um das vorher bestehende Ausgangsstadium und Gleichgewicht der Kräfte wiederherzustellen. Zwar beinhaltet das Tura-Konzept auch die Forderung nach Nanawate, was Vergebung bzw. Entschuldigung bedeutet. Dies fördert jedoch nur nach erfolgter Vergeltung das Prestige des Paschtunen, da es davor als Zeichen für Feigheit und Verteidigungsunfähigkeit gilt und einen Ehrverlust zur Folge hat (Gutachten von Mag. Zerka MALYAR vom 27.07.2009 vor dem Asylgerichtshof, zitiert vom BVwG im Erkenntnis vom 21.01.2016, W174 1436214-1; Blutrache und Ehrenmorde in Afghanistan - Glossar).

Kommt es zu einem Normbruch, so wird dieser vom betroffenen Individuum festgestellt und die weitere Sanktionierung der Tat liegt in seiner Hand. Die Öffentlichkeit schreitet nicht in den Konflikt ein. Befriedungsversuche scheitern meist. Um ihre Ehre wiederherzustellen und sich nicht der Feigheit verdächtig zu machen, bevorzugen meist beide Parteien die Konfliktlösung durch Badal (Vergeltung). Badal stellt eine legitime Reaktion dar, wenn es in seinem Ausmaß der Tat gleichgestellt ist. Das erreichte Badal bedeutet jedoch nicht immer das Ende des Konflikts. Eine Reaktion der Gegenpartei bricht zwar erneut mit der Norm, jedoch ist sie im Sinne des Rechts auf Blutrache legitim und wird auch vom Gemeinwesen anerkannt (Gutachten von Mag. Zerka MALYAR).

Die Bestrafung des Täters durch das formale Rechtssystem schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat (ACCORD-Anfragebeantwortung vom 25.08.2014 zu Blutrache, S. 2).

Die lokalen Schuras und Dschirgas (Jirga, Ratsversammlungen) sind die einzigen Strukturen, die sich mit der Beilegung von Blutfehden beschäftigen (ACCORD-Anfragebeantwortung vom 25.08.2014, S. 4).

Betroffen von Blutrache sind in den paschtunischen Gebieten die männlichen Verwandten ersten Grades, die auf- und absteigende Linie der männlichen Geschwister und deren männliche Abkömmlinge sowie die Onkel und deren Söhne, Cousins und deren Söhne und sogar diejenigen, die dem Feind Schutz gewährt haben. In Norden, Nordosten sowie dem Zentrum des Landes, die von anderen afghanischen Volksgruppen besiedelt sind, ist der Betroffenenkreis auf den Vater, den Bruder und dessen Söhne sowie den Onkel und dessen Söhne beschränkt (Gutachten von Mag. Zerka MALYAR).

Zur Annahme einer Kompensationszahlung (Nek) ist die Opfer-Familie im Falle einer Tötung meist nur bereit, wenn sie zu schwach ist, um eine legitime Rache mit den daraus folgenden Reaktionen der gegnerischen Gruppe durchzufechten, denn nur dann wäre die Annahme der Zahlung ohne Prestigeverlust möglich. Auch die Täter-Familie wird in der Regel das Zahlen eines Nek weit von sich weisen, um nicht in den Verdacht der Feigheit zu kommen und mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, Angst vor der Badal-Reaktion der Gegner zu haben (Gutachten von Mag. Zerka MALYAR).

Blutrache wird überall in Afghanistan sowie von und zwischen allen Volksgruppen praktiziert. Es ist in Afghanistan auch kein ausschließlich ländliches Phänomen, sondern überall und auch zwischen allen Ethnien möglich (SFH-Länderanalyse vom 07.06.2017, S. 2).

Blutfehden sind im Allgemeinen eine seltene Erscheinung und sie folgen zu einem gewissen Ausmaß denselben saisonalen Mustern wie andere Konflikte. Blutrache und Ehrenmorde sind kein alltägliches Phänomen, sondern eher exzeptionell (ACCORD-Anfragebeantwortung vom 25.08.2014, S 2 f).

Jirga

Die Jirga ist eine Versammlung der Stammesältesten, die zu verschiedensten Gelegenheiten einberufen wird, z.B. zur Beilegung eines Konflikts zwischen Privatpersonen (AfPak Grundlagen der Stammes und Clanstruktur, S. 41; Blutrache und Ehrenmorde in Afghanistan - Glossar).

Der Hauptzweck der Jirga ist es, Streitigkeiten oder Konflikte beizulegen, es wird über Verbrechen und Verstöße als Gremium entschieden. Darüber hinaus hat die Jirga die Aufgabe, den Sachverhalt und Standpunkte zu klären, dabei gelten die Grundsätze der Redefreiheit, der Vermittlung, Transparenz, Vertrauen auf die Gemeinschaft, Rechenschafts-pflicht und wiedergutmachendes Recht (AfPak Grundlagen der Stammes und Clanstruktur, S. 43).

Im Wesentlichen gibt es vier Arten von Jirgas. Eine stellt die Qaumi oder Ulasi oder große Jirga dar, die von einem oder mehreren Stämmen eingesetzt wird um in Sachen wie Mord, Fehden zwischen verschiedenen Stämmen, fremde Aggression, Entwicklungsprogramme etc. zu entscheiden (AfPak Grundlagen der Stammes und Clanstruktur, S. 42).

Sobald die Jirga ihre Entscheidung gefällt hat, kann sie von den Parteien nicht mehr angefochten werden, sie wird für alle verbindlich; die unterlegene Partei kann jedoch noch eine andere Jirga ihrer Wahl anrufen. Die Jirga fordert von den Streitparteien die Waak (Entscheidungsbefugnis). Dadurch wird das Urteil der Jirga für die Streitparteien verbindlich, sie müssen es anerkennen und ausführen, normalerweise ohne Berufungsmöglichkeit. Wenn eine Entscheidung getroffen wurde, schwören die Jirga-Mitglieder entweder auf Malga, Tura oder den heiligen Koran. Wer die Entscheidungen der Jirga nicht befolgt, hat mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen, d. h. Zerstörung oder Abbrennen des Wohnhauses, Geldstrafe, Swara (Verheiratung einer Frau mit einem Verwandten des Opfers als Entschädigung zur Beilegung eines Konflikts) leisten, Verstoß aus der Heimat. Wenn es den lokalen Ältesten und Mitgliedern der Jirga nicht möglich ist, bestimmte Probleme nach den lokalen Bräuchen und Traditionen zu lösen, wendet man sich an das islamische Recht, die Scharia (AfPak Grundlagen der Stammes und Clanstruktur, S. 41 f, 44).

Das spirituelle Element der Jirga ist ein Grund, warum ihre Entscheidungen so verbindlich sind und das zu deren wirksamer Durchsetzung beiträgt. Spingrey (Älteste) gelten als Gäste Gottes und wenn man ihre Entscheidung ablehnt, fordert man damit Gottes Fluch heraus (AfPak Grundlagen der Stammes und Clanstruktur, S. 45).

2. Beweiswürdigung:

Beweis wurde erhoben durch Einsichtnahme in den Verwaltungsakt, in Auszüge aus dem Zentralen Melderegister und dem Fremdeninformationssystem, in einen Strafregisterauszug und einen Auszug aus dem Grundversorgungs-Informationssystem sowie durch Einvernahme des Beschwerdeführers und des Zeugen XXXX (Bruder des Beschwerdeführers) in der mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die zum Akt genommenen Urkunden Beilage ./I bis ./XVIII (Konvolut Auszüge ZMR, GVS, Strafregister, Schengener Informationssystem des Beschwerdeführers; GVS Auszug des Zeugen XXXX; Einvernahmeprotokoll XXXX vom 21.11.2012 und 10.01.2013;

Einvernahmeprotokoll XXXX vom 07.02.2013; Verhandlungsniederschrift XXXX vom 06.02.2015; Urteil des BVwG betreffend XXXX vom 16.02.2015;

Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan 02.03.2017 mit Aktualisierung vom 22.06.2017; Gutachten Mag Mahringer vom 05.03.2017; Auszug aus einer Karte der Provinz Nangarhar; gutachterliche Stellungnahme Mina ASEF-HAMEED vom 15.04.2015; Gutachten Mag Malyar vom 27.07.2009; Blutrache und Ehrenmorde in Afghanistan - Glossar; Schnellrecherche der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 07.06.2017 zu Blutrache und Blutfehde; ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan über Blutrache vom 25.08.2014; Dossier der Staatendokumentation, AfPak Grundlagen der Stammes und Clanstruktur aus 2016 (Seiten 1-7, 30-80); Anfrage-beantwortung der Staatendokumentation betreffend die Gefährdungslage für Dolmetscher und Regierungsmitarbeiter in Afghanistan vom 11.02.2014; Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Afghanistan - Taliban Drohbriefe, Bedrohungen, militärische Mitarbeiter vom 28.07.2016; gutachterliche Stellungnahme Dr. Rasuly vom 13.06.2012) und Beilage ./A (Kopie eines Arztbriefes vom 29.08.2017).

2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

2.1.1. Die einzelnen Feststellungen beruhen auf den jeweils in der Klammer angeführten Beweismitteln.

Das Gericht verkennt nicht, dass die behaupteten Vorfälle schon einige Zeit zurückliegen und der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse minderjährig, mindestens jedoch 13 Jahre alt gewesen ist und deshalb Erinnerungslücken einer vollkommen detaillierten Erzählung entgegenstehen können. Das Alter des Beschwerdeführers findet daher bei der Beurteilung des Vorbringens des Beschwerdeführers in die Beweiswürdigung Eingang.

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen bisherigen Angaben im Verfahren sowie aus dem Sachverständigengutachten zur Altersfeststellung vom 27.04.2016. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Schulbildung und Berufserfahrung, zu den Eigentums-verhältnissen seiner Familie sowie zu seinem Familienstand und seinem familiären Umfeld gründen sich auf seine diesbezüglich glaubhaften Angaben. Die erkennende Richterin hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren im Wesentlichen gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

Da die Angaben des Beschwerdeführers zum Fluchtvorbringen nicht glaubhaft sind (siehe Punkt 2.2.) ist es für das Gericht unplausibel, dass die Familie des Beschwerdeführers ihr Heimatdorf verlassen sollte, die Mutter des Beschwerdeführers die landwirtschaftlich genutzten Grundstücke der Familie an die Taliban oder die Familie XXXX überschreiben sollte oder der Beschwerdeführer gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester aus Afghanistan ausreisen sollte. Zudem scheint es unplausibel, dass die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers mit nach Pakistan gereist seien, obwohl ihnen doch bekannt gewesen sei, dass man Probleme in Pakistan bekomme, wenn man keinen pakistanischen Identitätsausweis besitze (OZ 10, S. 9). Das Gericht konnte daher weder feststellen, dass die Familie des Beschwerdeführers aufgrund von Problemen mit der Familie XXXX nach Jalalabad übersiedelt ist, noch, dass die Mutter des Beschwerdeführers ihre landwirtschaftlich genutzten Grundstücke an die Taliban oder die Familie XXXX überschrieben hat, noch, dass die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers gemeinsam mit dem Beschwerdeführer aus Afghanistan ausgereist sind.

Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen des Beschwerdeführers beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung, wonach er Augen- sowie Magenprobleme habe und deshalb manchmal Medikamente nehme. Er ist nicht lebensgefährlich krank (AS 475; OZ 8, S. 15). Es ist im Verfahren auch nichts Gegenteiliges hervorgekommen. Dem in der Verhandlung vorgelegten Arztbrief (Beilage ./A) ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer an einer Kurzsichtigkeit mit Hornhautverkrümmung (Myopie mit Astigmatismus), einer Fettstoffwechselstörung (Hypertriglyceridämie), einer schmerzhaften Entzündung der Achillessehne (Achillodynie links) sowie an einer Entzündung der Magenschleimhaut (Gastritis) leide, sodass auch dem Arztbrief keine lebensbedrohlichen Krankheiten zu entnehmen sind.

Befragt nach seinem Gesundheitszustand gab der Beschwerdeführer an:

"Ich habe Augenprobleme dafür nehme ich manche Medikamente und ich habe Magenprobleme, da nehme ich manchmal auch Medikamente." (OZ 8, Seite 15). Es ist daher auch diesen Angaben, wonach er nur manchmal Medikamente nehme, keine lebensbedrohlichen Krankheiten und auch keine Erforderlichkeit einer dauerhaften Medikation zu entnehmen.

Der Bruder des Beschwerdeführers verneinte die Frage, ob er seinen Bruder finanziell unterstützen könnte, zwar zunächst weil die Fixkosten in Österreich hoch sind. Anschließend gab er jedoch an, dass er ihn doch mit 50-100 Euro unterstützen könnte und er ihn bereits dadurch unterstützt habe, dass er ihm manchmal Kleidung kaufe. Es ist daher davon auszugehen, dass der in Österreich lebende Bruder des Beschwerdeführers diesen auch bei einer Rückreise nach Afghanistan weiterhin unterstützen kann und da er seinen Bruder bereits in Österreich unterstützt hat, dies wohl auch machen würde, wenn der Beschwerdeführer nach Afghanistan zurückkehrt. Da der Beschwerdeführer auch über ein sehr großes Familiennetz in Afghanistan verfügt und seine Familie auch Eigentum in Afghanistan hat, geht das Gericht davon aus, dass er auch von seiner in Afghanistan lebenden Familie bei einer Rückkehr nach Afghanistan ausreichend Unterstützung erhalten wird. Der Bruder des Beschwerdeführers gab bei seiner eigenen Einvernahme an: "Meiner Familie geht es finanziell gut, wir besitzen viele Häuser in der XXXX in der Stadt Jalalabad, die wir vermietet haben, außerdem besitzen wir auch viele Grundstück." (Beilage ./IV Seite 3). Es ist daher davon auszugehen, dass die Familie des Beschwerdeführers eher wohlhabend ist und diese es sich leisten kann, den Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan zumindest zu Beginn finanziell zu unterstützen.

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:

Das Hauptvorbringen des Beschwerdeführers lautet, sein Vater sei aufgrund von Grundstücksstreitigkeiten mitXXXX von dessen Sohn getötet worden, woraufhin der älteste Bruder des Beschwerdeführers zwei Söhne von XXXX erschossen habe. Es sei deshalb zu einer Jirga gekommen, die die Familie XXXX jedoch nicht anerkannt habe. Die Familie des Beschwerdeführers sei deshalb nach Jalalabad gezogen. Ein Sohn von XXXX habe die Familie des Beschwerdeführers in Jalalabad gefunden und den ältesten Bruder des Beschwerdeführers angeschossen, der deshalb eine Niere verloren habe und aufgrund von Nierensteinen einige Monate später verstorben sei. Zwei Stiefsöhne von XXXX seien von der Regierung wegen Waffenhandels verhaftet worden. XXXX habe den Taliban mitgeteilt, dass die Familie des Beschwerdeführers seine Söhne an die Regierung verraten habe. Der Bruder des Beschwerdeführers sei deshalb von den Taliban bedroht worden, weshalb er aus Afghanistan ausgereist sei. Nachdem die zwei Söhne von XXXX freigekommen seien, sei der Beschwerdeführer entführt und 19 Tage festgehalten worden. Aufgrund eines Polizeieinsatzes habe er befreit werden können. Drei Tage danach sei er zuerst nach Pakistan und anschließend nach Österreich geflüchtet.

2.2.1. Die wesentlichen Angaben des Beschwerdeführers sind nicht mit den Länderberichten in Einklang zu bringen. Zudem sind in seinen Angaben betreffend seine Fluchtgeschichte erhebliche Widersprüche und Ungereimtheiten enthalten, die seine Angaben unglaubhaft scheinen lassen. Das Gericht geht aufgrund nachstehender Ungereimtheiten und Widersprüche davon aus, dass es sich bei den Angaben des Beschwerdeführers betreffend seine Fluchtgeschichte nicht um tatsächlich Erlebtes handelt:

2.2.1.1. Der Beschwerdeführer gab beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung an, dass sein Vater ein Grundstück mit einem Weg, der 10 Meter lang und zwei Meter breit gewesen sei, an XXXX verkauft habe. Es sei wegen des Weges zu einem Streit zwischen ihnen gekommen, weil XXXX eine Breite von fünf Meter für den Weg verlangt habe. Während dieses Streits habe der Sohn von XXXX, den Vater des Beschwerdeführers getötet (AS 481; OZ 8, S. 15). Unplausibel scheint, dass der Vater des Beschwerdeführers undXXXX nicht bereits vor dem Verkauf des Grundstücks über den dazugehörigen Weg gesprochen und den Preis dementsprechend verhandelt hätten. Selbst wenn es beim Verkauf dennoch zu Streitigkeiten diesbezüglich gekommen sei, ist es nicht nachvollziehbar, dass der Sohn von XXXX den Vater des Beschwerdeführers sofort getötet habe anstatt vom Kauf des Grundstückes zurückzutreten oder diesbezüglich eine Jirga entscheiden zu lassen.

Der Beschwerdeführer gab in der mündlichen Verhandlung an, dass bei dem Streit um das Grundstück sein Vater sowie sein ältester Bruder, XXXX und dessen Söhne sowie andere Dorfbewohner dabei gewesen seien (OZ 8, S. 17). Der Bruder des Beschwerdeführers gab als Zeuge in der fortgesetzten Verhandlung jedoch an, dass bei dem Streit ihr Vater und ihr ältester Bruder, XXXX und zwei seiner Söhne gewesen seien. Der Zeuge selbst [Anm. BVwG: somit ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers] sei etwas entfernt auch dort gewesen. Ausdrücklich befragt gab er weiter an, dass sonst niemand anwesend gewesen sei (OZ 10, S. 15). Im Widerspruch dazu gab der Bruder des Beschwerdeführers bei seiner eigenen Einvernahme vor dem Bundesamt im Jahr 2013 an, dass außer ihm auch noch andere Personen dort gewesen seien, unter anderem die Enkel von XXXX und er sei daneben gestanden (Beilage ./IV, Seite 9). Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Beschwerdeführer und sein Bruder die Beteiligten der Situation derart unterschiedlich beschreiben, dies selbst wenn man das junge Alter zum vermeintlichen Vorfallszeitpunkt und die bis dahin vergangene Zeit berücksichtigt. Es hätte sich bei dem Vorfall um den Tod des Vaters und daher um ein besonders entscheidendes und einprägsames Ereignis handeln müssen, das jedenfalls in Erinnerung bleibt. Den Angaben des Beschwerdeführers und des Zeugen kommt keine Glaubhaftigkeit zu.

Unplausibel scheint auch, dass der älteste Bruder des Beschwerdeführers als sein Vater getötet worden sei, aus dem Haus der Familie des Beschwerdeführers eine Kalaschnikow geholt habe und daraufhin zwei Söhne von XXXX erschossen habe (OZ 8, S. 15). Selbst wenn das Haus der Familie des Beschwerdeführers zu dem Ort, wo der Streit stattgefunden habe nur ca. 20 bis 25 Meter entfernt gewesen sei (OZ 10, S. 15), muss es einige Zeit gedauert haben, bis der älteste Bruder des Beschwerdeführers die Kalaschnikow geholt habe. So ist es zum einen nicht vorstellbar, dass XXXX und seine Söhne gewartet hätten bis der älteste Bruder wieder aus dem Haus zurückgekommen sei, da der Sohn vonXXXX gerade den Vater des Beschwerdeführers getötet habe, sie auch nicht gewusst haben können, ob der älteste Bruder des Beschwerdeführers überhaupt wiederkomme oder aus Angst geflüchtet sei und ihnen auch bewusst gewesen sein muss, dass wenn er zurückkomme, er ihnen gegenüber nicht friedlich gestimmt sein würde. Zum anderen gab der Bruder des Beschwerdeführers als Zeuge in der fortgesetzten Verhandlung an, dass der Sohn von XXXX eine Pistole gezogen und ihren Vater erschossen habe (OZ 10, S. 13). Es ist nicht nachvollziehbar, dass der Sohn von XXXX nicht versucht habe mit seiner Pistole den ältesten Bruder des Beschwerdeführers aufzuhalten und es diesem gelungen sei zwei Brüder von XXXX zu erschießen, obwohl die Familie XXXX in der Überzahl gewesen sei und sie auch eine Pistole bei sich gehabt haben.

Der Bruder des Beschwerdeführers gab bei seiner eigenen Einvernahme als Partei vor dem Bundesamt an: "Mein Vater und XXXXsind handgreiflich geworden, deshalb ist mein Bruder ins Haus gegangen, der Streit fand unmittelbar vor unserem Haus statt und (er) hat aus dem Zimmer die Kalaschnikow geholt. (...) Mein Vater und XXXX sind handgreiflich geworden, mein Vater hat den XXXX auf den Boden geschmissen, der Sohn von XXXX zuckte die Waffe und sagte meinem Vater, er solle seinen Vater loslassen, ansonsten würde er schießen. In diesem Moment ist mein Bruder ins Haus gelaufen und hat die Kalaschnikow geholt." (Beilage ./IV, Seite 9). Es ist ein erheblicher Widerspruch, dass der Bruder des Beschwerdeführers bei seiner eigenen Einvernahme 2013 angab, dass der Streit unmittelbar vor dem Haus seiner Familie stattgefunden habe und dieser 2017 in der Gerichtsverhandlung angab, dass der Streit auf dem verkauften Grundstück stattgefunden habe und das Grundstück jedoch durch ein anderes Grundstück ca. 20-25 Meter vom Haus getrennt war. Der Beschwerdeführer und sein Bruder konnten daher nicht glaubhaft machen, dass jemals ein Streit um ein Grundstück stattgefunden habe. Es ist von einer erfundenen Fiktion auszugehen, der keine Glaubhaftigkeit zukommt.

Der Beschwerdeführer hat im Verfahren immer wieder angegeben, dass die Familie XXXX sehr mächtig und einflussreich sei (AS 483; OZ 8, S. 22; OZ 10, S. 11) und konnte in der mündlichen Verhandlung die Namen der Söhne von XXXX nennen und genau angeben, ob es sich dabei um seinen leiblichen oder seinen Stiefsohn handle. Er wusste auch, dass XXXX zweimal verheiratet gewesen sei (OZ 8, S. 17). Unplausibel scheint daher, dass der Beschwerdeführer zwar diese Einzelheiten nennen konnte, aber weder angeben konnte, welchen Beruf XXXX ausgeübt habe (OZ 11, S. 17) noch wie sein Nachname laute (AS 481), obwohl XXXX doch sehr mächtig und einflussreich und daher auch sehr bekannt gewesen sein müsste (AS 483; OZ 8, S. 22; OZ 10, S. 11).

Der Beschwerdeführer gab in der fortgesetzten mündlichen Verhandlung an, dass eine Jirga eingesetzt und diese sowohl von der Familie des Beschwerdeführers als auch von der Familie XXXX bevollmächtigt worden sei um den Streit zwischen ihnen zu lösen (OZ 10, S. 5). Die Jirga habe aufgrund des Todes des Vaters des Beschwerdeführers und des Todes zweier Söhne von XXXX entschieden, dass der älteste Bruder des Beschwerdeführers 400.000 Kaldar als Schadenersatz an die Familie XXXX zu zahlen habe (OZ 8, S. 15; OZ 10, S. 11). Der älteste Bruder des Beschwerdeführers habe den festgesetzten Schadenersatzbetrag noch in der Jirga an die Familie XXXX gezahlt und um Verzeihung gebeten (OZ 8, S. 18). Es scheint daher unplausibel, dass die Familie XXXX das Ergebnis der Jirga nicht anerkannt haben soll, zumal diese den Geldbetrag angenommen hat (OZ 8, S. 18; OZ 10, S. 11). Dies ist insbesondere deshalb unplausibel, weil sich aus den Länderberichten ergibt, dass sobald die Jirga ihre Entscheidung gefällt hat, sie von den Parteien nicht mehr angefochten werden kann und für alle verbindlich wird. Wer die Entscheidungen der Jirga nicht befolgt, hat mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen, d.h. Zerstörung oder Abbrennen des Wohnhauses, Geldstrafe, Swara (Verheiratung einer Frau mit einem Verwandten des Opfers als Entschädigung zur Beilegung eines Konflikts) leisten, Verstoß aus der Heimat. Zwar könnte die unterlegene Partei noch eine andere Jirga ihrer Wahl anrufen (vgl. Punkt II.1.4.), da die Familie XXXX jedoch die Zahlung des Bruders des Beschwerdeführers angenommen hätte (OZ 8, S. 18) und nicht von der Anrufung einer anderen Jirga Gebraucht gemacht hätte, wäre eine Entscheidung der Jirga für sie jedenfalls verbindlich geworden. Die Jirga hätte auch beschlossen, dass nach der Zahlung des Schadenersatzes die Sache jedenfalls erledigt gewesen wäre (OZ 8, S. 18), sodass der Familie XXXX bewusst gewesen hätte sein müssen, dass die Streitigkeiten beendet wären und ein weiterer Racheakt als Verstoß gegen die Entscheidung der Jirga und neuerlicher Angriff gewertet worden wäre. Dass die Familie XXXX die strengen Konsequenzen eines Verstoßes gegen die Entscheidung der Jirga in Kauf nehmen würden, ist auch insbesondere deshalb unplausibel, weil der FamilieXXXX ihr Ruf und ihr Ansehen in der Region sehr wichtig gewesen wären und sie nicht in die Kritik der Dorfbewohner hätte geraten wollen (OZ 8, S. 22).

Der Beschwerdeführer gab bei der Vernehmung beim Bundesamt an, dass seine Familie auf Grund der Jirga einen Betrag von 400.000 Rubin gezahlt hätte (AS 481). In der mündlichen Verhandlung gab der Beschwerdeführer dazu im Widerspruch an, dass seine Familie 400.000 Kaldar habe zahlen müssen (OZ 8, Seite 15). Den Angaben des Beschwerdeführers ist nicht zu glauben.

Zudem gab der Beschwerdeführer in der fortgesetzten Verhandlung an, dass die jungen Männer der Familie XXXX die Entscheidung der Jirga bei der Versammlung der Jirga akzeptiert hätten, damit sich die Weißbärtigen [Anm. BVwG: wohl gemeint die Ältesten] nicht gegen ihre Familie stellen würden (OZ 10, S. 11). Sein Bruder gab als Zeuge in der fortgesetzten Verhandlung jedoch an, dass die jungen Männer der Familie XXXX bei der Verkündung der Entscheidung offen kundgetan hätten, dass sie die Entscheidung nicht akzeptieren werden, obwohl die älteren Männer der Familie XXXX [Anm. BVwG: wohl gemeint insbesondere XXXX] zur Akzeptanz ermahnt hätten (OZ 10, S. 14). Dass sich die Söhne von XXXX gegen ihren Vater, der die Entscheidung der Jirga offenkundig akzeptiert habe (OZ 10, S. 11, 14), gestellt hätten, ist insbesondere deshalb unplausibel, weil der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, dass die Söhne von XXXX lediglich das getan hätten, was ihnen ihr Vater gesagt habe (OZ 8, S. 20). Zudem ist ein derartig respektloses Verhalten von jungen Männern vor der Jirga nicht mit den Länderberichten in Einklang zu bringen. Die paschtunischen Verhaltensregeln sind auch jungen Männern bekannt und werden nach dem Paschtunwalli auch eingehalten. Es kommen den Schilderungen des Beschwerdeführers und seines Bruders keine Glaubhaftigkeit zu.

Der Beschwerdeführer gab in der mündlichen Einvernahme an, dass die jungen Männer der Familie XXXX die Jirga nicht akzeptiert hätten, da diese kein Geld haben wollten, sondern ein Mädchen von der Familie des Beschwerdeführers (OZ 8, Seite 11). Der Bruder des Beschwerdeführers gab jedoch befragt an, dass die jungen Männer der Familie XXXX mit der Entscheidung der Jirga nicht einverstanden gewesen wären, da diese statt dem Erhalt von Geld lieber Rache genommen hätten (OZ 10, Seite 14). Der Bruder des Beschwerdeführers erwähnte jedoch mit keinem Wort, dass die andere Familie sich von der Jirga erhofft hätten ein Mädchen der Familie des Beschwerdeführers zu erhalten. Dies wäre jedoch ein besonders einprägsames Detail und steht im Widerspruch zum bloßen Rachegedanken. Den Angaben des Beschwerdeführers und seines Bruders kommt keine Glaubhaftigkeit zu.

Sofern der Beschwerdeführer angab, dass das System in Afghanistan so sei, dass Blutrache ausgeübt werden muss (OZ 8, S. 18), ist dies nicht mit den Länderberichten in Einklang zu bringen. Aus den Länderberichten ergibt sich zwar, dass der Verlust eines verteidigungs-fähigen Mannes Vergeltung (Badal) fordert um das Gleichgewicht der Kräfte und die Ehre wiederherzustellen. Jedoch fördert Vergebung (Nanawate) nach erfolgter Vergeltung das Prestige eines Paschtunen. Lediglich vor erfolgter Vergeltung gilt es als Zeichen für Feigheit und Verteidigungsunfähigkeit und hat einen Ehrverlust zur Folge. Da es jedoch sowohl bei der Familie XXXX als auch bei der Familie des Beschwerdeführers Opfer gegeben habe und somit beide Seiten bereits gezeigt hätten, dass sie fähig sind die Ehre ihrer Familie aufrecht zu erhalten bzw. wiederherzustellen, wäre der Vergebung in Form der Jirga kein gesellschaftlicher Druck mehr entgegen gestanden. Im Gegenteil, die Vergebung hätte das Prestige der Jirgabeteiligten gefördert (vgl. Punkt II.1.4.). Es hätte sich auch insbesondere dadurch, dass die Ältesten von beiden Familien mit der Streitbeilegung bevollmächtigt worden wären (OZ 10, S. 5), gezeigt, dass beide Parteien mit der friedlichen Streitbeilegung einverstanden gewesen wären sowie bereit gewesen wären die Blutfehde aufzulösen und auf weitere Vergeltung zu verzichten. Aus den Länderberichten geht auch hervor, dass die Bestrafung des Täters durch das formale Rechtssystem, gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht ausschließt, sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde. Die lokalen Schuras und Dschirgas (Jirga, Ratsversammlungen) sind die einzigen Strukturen, die sich mit der Beilegung von Blutfehden beschäftigen (vgl. Punkt II.1.4.). Dass die Familie XXXX das Ergebnis der Jirga nicht anerkannt haben soll, ist daher absolut nicht nachvollziehbar und nicht mit den Länderfeststellungen in Einklang zu bringen. Den Angaben des Beschwerdeführers und seines Bruders kommt keine Glaubhaftigkeit zu.

In diesem Zusammenhang scheint auch unplausibel, dass sich die Familie des Beschwerde-führers nach der Jirga bei weiterhin anhaltenden Problemen mit der Familie von XXXX nicht an die Ältesten gewandt habe und allfällige Verstöße gegen die Entscheidung der Jirga gemeldet habe, sondern deshalb nach Jalalabad gezogen sei (AS 481; OZ 8, S. 18).

Der Beschwerdeführer hat in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass er bei der Jirga dabei gewesen sei. Er sei noch ein kleines Kind gewesen und habe den Tee gebracht. Außerdem seien noch XXXX und dessen zwei Söhne XXXX und XXXX [Anm. BVwG: die nach der vorherigen Ausführung des Beschwerdeführers die Stiefsöhne vonXXXX seien (OZ 8, S. 17)], der ältester Bruder des Beschwerdeführers sowie 15-20 andere Personen wie Dorfälteste und Dorfvorsteher anwesend gewesen (OZ 8, S. 17 f). Der Bruder des Beschwerdeführers gab als Zeuge in der fortgesetzten Verhandlung befragt jedoch an, dass XXXX und seine zwei leiblichen Söhne, der älteste Bruder des Beschwerdeführers, er selbst [Anm. BVwG: somit ein weiterer Bruder des Beschwerdeführers] sowie der Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers bei der Jirga anwesend gewesen seien. Der Beschwerdeführers sprach daraufhin dem Zeugen während der Einvernahme des Zeugen in der mündlichen Verhandlung etwas auf Paschtu zu, woraufhin der Zeuge seine Aussage dahin korrigierte, dass die Stiefsöhne XXXX und XXXX von XXXX dabei gewesen seien. Nachgefragt gab der Zeuge nunmehr an, dass auch der Beschwerdeführer dabei gewesen sei und Tee gebracht habe. Weitere Personen, wie Dorfbewohner oder -vorsteher erwähnte er jedoch nicht (OZ 10, S. 16). Die Angaben sind daher nicht glaubhaft.

Es kann daher auf Grund der oben aufgezeigten Unplausibilitäten und Widersprüche vom Gericht nicht festgestellt werden, dass es überhaupt zu Grundstücksstreitigkeiten oder zu einer Jirga gekommen ist oder, dass überhaupt eine Blutfehde zwischen den Familien bestanden hat. Die Angaben des Beschwerdeführers und seines Bruders sind nicht glaubhaft.

Unplausibel scheint zudem, dass die Familie XXXX selbst als die Familie des Beschwerde-führers ihr Heimatdorf verlassen habe und nach Jalalabad gezogen sei, diese weiterhin gesucht und sodann den ältesten Bruder des Beschwerdeführers angeschossen habe. Dies steht zudem im Widerspruch zu den Angaben des Beschwerdeführers, wonach er in Jalalabad ein ruhiges Leben geführt habe (AS 481) und zu den Länderberichten, wonach durch eine Jirga ein derartiger Streit bereinigt gewesen wäre. Die Angaben des Beschwerdeführers sind nicht glaubhaft. Es kann daher nicht festgestellt werden, da

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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