TE Vwgh Erkenntnis 2017/12/21 Ra 2017/21/0179

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Veröffentlicht am 21.12.2017
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E1E
E3R E19104000
001 Verwaltungsrecht allgemein
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht
59/04 EU - EWR

Norm

AsylG 2005 §12a Abs1 Z3
AVG §56
AVG §64
BFA-VG 2014 §7 Abs1 Z3
B-VG Art130 Abs1 Z2
B-VG Art130 Abs2 Z1
EURallg
FrPolG 2005 §61 Abs2
VwGG §30
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §13
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §22
VwGVG 2014 §34 Abs1
VwRallg
12010E267 AEUV Art267
12010E278 AEUV Art278
12010E279 AEUV Art279
32013R0604 Dublin-III Art13 Abs1

Beachte


Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):
Ra 2017/21/0180
Ra 2017/21/0181
Ra 2017/21/0182

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Samonig, über die Revision von 1. A U, 2. Z U, 3. R U, und 4. At U, alle vertreten durch Mag. Ronald Frühwirth, Rechtsanwalt in 8020 Graz, Grieskai 48, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 1. August 2017, 1. G301 2153212-1/8E, 2. G301 2153221-1/7E, 3. G301 2153218-1/7E und 4. G301 2153216-1/7E, betreffend Abschiebung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Erstrevisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1        Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind die Eltern des 1997 geborenen Drittrevisionswerbers und des 2002 geborenen Viertrevisionswerbers. Sie sind alle afghanische Staatsangehörige.

2        Die Genannten gelangten über die sogenannte „Balkanroute“ nach Durchquerung der Staatsgebiete von Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien am 21. November 2015 nach Österreich. Hier stellten sie noch am Tag ihrer Einreise Anträge auf Gewährung von internationalem Schutz.

3        Hierauf wurden Konsultationsverfahren nach der Dublin III-VO (Verordnung [EU] Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist [Neufassung]) geführt und es wurde am 14. Dezember 2015 ein auf Art. 13 Abs. 1 der genannten Verordnung gestütztes Aufnahmegesuch an die kroatischen Behörden gerichtet. Dieses Ersuchen blieb unbeantwortet.

4        In der Folge wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheiden vom 2. Mai 2016 die von den Revisionswerbern gestellten Anträge auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 zurück. Unter einem stellte es fest, dass gemäß Art. 13 Abs. 1 iVm Art. 22 Abs. 7 der Dublin III-VO Kroatien zur Antragsprüfung zuständig sei. Das begründete das BFA der Sache nach damit, dass die Revisionswerber im Sinne der erstgenannten Bestimmung aus einem Drittstaat kommend die Landgrenze des Mitgliedstaats Kroatien illegal überschritten hätten und die kroatischen Behörden im Sinne der zweitgenannten Bestimmung zu dem diesbezüglichen Aufnahmegesuch keine Antwort erteilt hätten. Weiters ordnete das BFA gemäß § 61 Abs. 1 FPG die Außerlandesbringung der Revisionswerber [nach Kroatien] an und es sprach aus, dass „demzufolge“ gemäß § 61 Abs. 2 FPG ihre Abschiebung nach Kroatien zulässig sei. Die gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 13. Juni 2016 ab.

5        Die dagegen nur von der Zweitrevisionswerberin und dem Drittrevisionswerber eingebrachte (außerordentliche) Revision, der mit Beschluss vom 9. August 2016 die aufschiebende Wirkung zuerkannt worden war, wurde mit Beschluss VwGH 7.9.2016, Ra 2016/19/0160, 0161, zurückgewiesen. In dieser Entscheidung befasste sich der Verwaltungsgerichtshof mit der Auslegung des Art. 13 Abs. 1 der Dublin III-VO, wonach jener Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, dessen Land-, See- oder Luftgrenze der Antragsteller aus einem Drittstaat kommend illegal überschritten hat. Er vertrat in Bezug auf die zu beurteilende organisierte Ein- und Weiterreise einer Vielzahl von über die „Balkanroute“ kommenden Flüchtlingen in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten die Auffassung, diesbezüglich liege „im Hinblick auf die nicht näher erläuterungsbedürftige Rechtslage“ keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG vor. Mit näherer Begründung kam der Verwaltungsgerichtshof in diesem Beschluss nämlich zum (für ihn eindeutigen) Ergebnis, eine entgegen den Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 Schengener Grenzkodex erfolgte Einreise sei ungeachtet der damals geübten Verwaltungspraxis als „unrechtmäßig“ anzusehen und sie könne auch nicht pauschal auf humanitäre Gründe im Sinne des Art. 5 Abs. 4 lit. c Schengener Grenzkodex gestützt werden. Diesem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes lag implizit die Auffassung zugrunde, diesbezüglich sei von einem nicht zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) verpflichtenden „acte clair“ auszugehen.

6        Das sah der Oberste Gerichtshof der Republik Slowenien in einem bei ihm anhängigen Fall anders, weshalb er (unter anderem) zur Frage des Verständnisses des Begriffes des „illegalen“ Überschreitens der Landgrenze iSd Art. 13 Abs. 1 der Dublin III-VO am 14. September 2016 beim EuGH ein zu C-490/16 registriertes Ersuchen um Vorabentscheidung einbrachte. Insbesondere wurde in diesem Ersuchen die Frage gestellt, ob die genannte Verordnungsbestimmung „dahin auszulegen ist, dass es sich nicht um einen irregulären Grenzübertritt handelt, wenn der Mitgliedstaat den Grenzübertritt hoheitlich und zum Zweck der Durchreise in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union organisiert“. Für den Fall der Bejahung dieser Frage zielte dieses Vorabentscheidungsersuchen noch auf die Beantwortung der Frage, ob dann Art. 13 Abs. 1 der Dublin III-VO „dahin auszulegen [ist], dass er die Rückführung eines Drittstaatsangehörigen in den Staat, in den er in das Hoheitsgebiet der Europäischen Union zuerst eingereist ist, ausschließt“.

7        Im Hinblick auf dieses Vorabentscheidungsersuchen stellten die in Österreich verbliebenen Revisionswerber am 14. November 2016 neuerlich Anträge auf internationalen Schutz. Am 28. November 2016 hielt das BFA dazu in einem Aktenvermerk fest, dass den Revisionswerbern trotz der Stellung dieser Asylfolgeanträge am Maßstab der Kriterien des § 12a Abs. 1 AsylG 2005 kein faktischer Abschiebeschutz zukomme und somit die gegen sie erlassenen Anordnungen zur Außerlandesbringung nach Kroatien „nach wie vor aufrecht“ seien.

8        Davon ausgehend wurden die Revisionswerber über entsprechende Aufträge des BFA vom 28. Februar 2017 sodann festgenommen und am 6. März 2017 auf dem Luftweg von Wien-Schwechat nach Kroatien (Zagreb) abgeschoben, wo sie sich seither aufhalten. Erst danach, nämlich mit Bescheiden des BFA vom 4. April 2017, wurden die Asylfolgeanträge der Revisionswerber jeweils gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen und (neuerlich) Anordnungen zu ihrer Außerlandesbringung nach Kroatien erlassen. Über die von den Revisionswerbern im Rahmen dieser Verfahren (u.a.) gestellten Anträge, ihre Überstellung bis zum Abschluss des beim EuGH anhängigen (in Rn. 6 erwähnten) Vorabentscheidungsverfahrens in Form der Erlassung einer einstweiligen Anordnung nach dem Unionsrecht auszusetzen oder ihnen - der Sache nach: gemäß § 12a Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 wegen Nichtweiterbestehens der Zuständigkeit Kroatiens - faktischen Abschiebeschutz zuzuerkennen, wurde vom BFA nicht entschieden.

9        Gegen die Abschiebung erhoben die Revisionswerber mit einem von ihrem rechtsanwaltlichen Vertreter beim BVwG am 18. April 2017 eingebrachten Schriftsatz eine auf Art. 130 Abs. 1 Z 2 B-VG gestützte Maßnahmenbeschwerde. In dieser Beschwerde vertraten die Revisionswerber (zusammengefasst) die Meinung, ihre Abschiebung sei trotz der rechtskräftigen und durchsetzbaren Anordnungen zur Außerlandesbringung nach Kroatien rechtswidrig gewesen, weil das BFA vor dem Hintergrund des Rechtsgrundsatzes des „effet utile“ verpflichtet gewesen wäre, keine - nicht wieder rückgängig zu machenden - Handlungen zu setzen, die einem (späteren) Urteil des EuGH in den bei ihm anhängigen, die Auslegung des Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO betreffenden Vorabentscheidungsverfahren entgegenstehen könnten.

10       In diesem Zusammenhang wurde in der Beschwerde ergänzend darauf verwiesen, dass nunmehr auch der Verwaltungsgerichtshof mit einem Beschluss (VwGH 14.12.2016, Ra 2016/19/0303, 0304), ein (eigenes) zu C-646/16 registriertes Ersuchen um Vorabentscheidung an den EuGH gestellt hatte, in dem es ebenfalls um die Auslegung des Art. 13 Abs. 1 der Dublin III-VO im Zusammenhang mit den organisierten Flüchtlingsbewegungen über die „Balkanroute“ ging. Einleitend verwies der Verwaltungsgerichtshof in diesem Beschluss darauf, dass er sich zwar in dem (in Rn. 5 genannten, die Revisionswerber betreffenden) Beschluss VwGH 7.9.2016, Ra 2016/19/0160, 0161, bereits zu einzelnen Aspekten, welche die nunmehr gestellten Fragen betreffen, geäußert habe. Aus dem Vorabentscheidungsersuchen des slowenischen Obersten Gerichtshofs lasse sich aber - so der Verwaltungsgerichtshof weiter - ableiten, „dass dieses Gericht es als möglich erachtet, bestimmten für die Interpretation von Bestimmungen der Dublin III-Verordnung maßgeblichen Aspekten eine Bedeutung beizumessen, die das Verständnis der maßgeblichen unionsrechtlichen Bestimmungen als zweifelhaft erscheinen lässt“. Damit könne aber nunmehr seitens des Verwaltungsgerichtshofes die Gefahr voneinander abweichender Gerichtsentscheidungen innerhalb der Europäischen Union nicht (länger) ausgeschlossen werden, weshalb er nunmehr nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet sei, dem EuGH die näher angeführten Fragen zu unterbreiten. Diese Fragen liefen im Wesentlichen darauf hinaus, ob das von den Behörden eines Mitgliedstaats geduldete Überschreiten der Grenze durch einen Drittstaatsangehörigen ohne Erfüllung der grundsätzlich geforderten Einreisevoraussetzungen im Zuge der damaligen Massenfluchtbewegungen zur Durchreise und Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem anderen Mitgliedstaat als „illegal“ iSd Art. 13 Abs. 1 der Dublin III-VO zu qualifizieren sei.

11       Die in Rn. 9 erwähnte Beschwerde wies das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 1. August 2017 unter Kostenzuspruch an den Bund als unbegründet ab, wobei es die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärte.

12       Das BVwG vertrat in der Entscheidungsbegründung die Auffassung, dass die in Rede stehenden Vorabentscheidungsersuchen an der Rechtskraft und Durchsetzbarkeit der mit Bescheiden des BFA vom 2. Mai 2016, bestätigt durch das Erkenntnis des BVwG vom 13. Juni 2016, erlassenen Anordnungen zur Außerlandesbringung der Revisionswerber nach Kroatien nichts geändert hätten. Das gelte auch für die Asylfolgeanträge, weil sie gemäß § 12a Abs. 1 AsylG 2015 für die Revisionswerber keinen faktischen Abschiebeschutz bewirken konnten. Zum Beschwerdevorbringen, trotz durchsetzbarer Anordnungen zur Außerlandesbringung hätten die Revisionswerber während der Anhängigkeit der erwähnten Vorabentscheidungsverfahren nicht nach Kroatien überstellt werden dürfen, könne auf die diesbezüglichen und für den vorliegenden Fall gleichermaßen gültigen Ausführungen im Erkenntnis VwGH 29.6.2017, Ra 2017/21/0089, verwiesen werden. Dort habe der Verwaltungsgerichtshof „unter Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH zur Bedeutung der Rechtskraft von behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen und auch zum Aspekt der Verhältnismäßigkeit (a.a.O., Rz 15 bis 20)“ keine Verpflichtung des BFA gesehen, dass es „von einer Abschiebung, insbesondere zu einem Zeitpunkt, als eine Entscheidung des EuGH noch nicht vorlag, Abstand nehmen hätte müssen“. Es habe sich somit nicht ergeben, dass die am 6. März 2017 vorgenommenen Abschiebungen der zu einer freiwilligen Ausreise nicht bereit gewesenen Revisionswerber nach Kroatien aus den in der Beschwerde vorgebrachten Gründen rechtswidrig gewesen seien.

13       Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen hat:

14       Voranzustellen ist, dass es auch nach der (seit 1. Jänner 2014) geltenden Rechtslage zulässig ist, im Wege einer Beschwerde gegen Maßnahmen unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt die Rechtmäßigkeit einer Abschiebung durch das BVwG prüfen zu lassen. Bei dieser Beurteilung ist auf den Zeitpunkt des Vollzugs der Abschiebung abzustellen (vgl. VwGH 29.6.2017, Ra 2017/21/0089, Rn. 8, mwN).

15       Diese Auffassung liegt auch dem angefochtenen Erkenntnis zugrunde. Angesichts dessen ist es nicht nachvollziehbar, dass das BVwG zur Begründung der Beschwerdeabweisung ergänzend auch auf die (erst) am 26. Juli 2017 ergangenen, die in Rede stehenden Vorabentscheidungsersuchen erledigenden Urteile des EuGH [Große Kammer] in den Rechtssachen C-490/16, A.S., und C-646/16, Jafari, Bezug nahm. Auch wenn sich aus diesen Urteilen für den vorliegenden Fall ableiten lässt, dass die unter den damaligen Bedingungen eines Massenzustroms von Flüchtlingen geduldete Einreise der Revisionswerber von Serbien nach Kroatien als „illegal“ iSd Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO zu qualifizieren ist und daher (rückblickend) bei den Entscheidungen im Verfahren über ihre ersten Anträge auf internationalen Schutz in Anwendung der genannten Verordnungsbestimmung zu Recht von der Zuständigkeit Kroatiens zur Prüfung dieser Anträge ausgegangen wurde, ist daraus für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der gegenständlichen Abschiebungen nichts zu gewinnen, weil dabei - wie in Rn. 14 erwähnt - auf den Zeitpunkt ihres Vollzugs am 6. März 2017 abzustellen ist.

16       Im Hinblick auf diesen Beurteilungszeitpunkt kam es jedenfalls auch nicht zu einer „Durchbrechung“ der Rechtskraft der im Verfahren über den ersten Antrag auf internationalen Schutz erlassenen, die Grundlage für die bekämpften Abschiebungen bildenden Anordnungen zur Außerlandesbringung, weil dies am Maßstab der Rechtsprechung des EuGH vor allem vorausgesetzt hätte, dass damals ein Urteil des EuGH vorgelegen wäre, aufgrund dessen sich erwiesen hätte, die auf Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO gegründeten Zuständigkeitsentscheidungen hätten auf einer unrichtigen Auslegung der genannten unionsrechtlichen Bestimmung beruht (vgl. dazu des Näheren VwGH 29.6.2017, Ra 2017/21/0089, Rn. 15 und 16). Insoweit ist dem BVwG im Ergebnis beizupflichten.

17       Entscheidend ist somit, ob die damals beim EuGH anhängigen Vorabentscheidungsersuchen aus unionsrechtlichen Gründen die Wirkung entfalteten, dass das BFA von einer Durchsetzung der rechtskräftigen und durchsetzbaren Anordnungen zur Außerlandesbringung der Revisionswerber nach Kroatien - auch unter dem Gesichtspunkt ihrer Verhältnismäßigkeit (siehe auch dazu VwGH 29.6.2017, Ra 2017/21/0089, Rn. 9) - hätte Abstand nehmen müssen.

18       Mit den dazu in der Beschwerde und in der vorliegenden Revision erstatteten Ausführungen beziehen sich die Revisionswerber auf die Aussagen in den Erkenntnissen VwGH 20.12.2007, 2004/21/0319, und VwGH 25.4.2006, 2004/21/0164, 2005/21/0053. Im erstgenannten Erkenntnis erinnerte der Verwaltungsgerichtshof an den in Art. 242 und 243 EG (Art. 278 und 279 AEUV) zum Ausdruck gebrachten allgemeinen Rechtsgrundsatz, dass während eines laufenden Verfahrens vor dem EuGH nicht bereits vollendete Tatsachen (durch die Behörden der Mitgliedstaaten) geschaffen werden sollen, welche nach Ablauf des Verfahrens in der Hauptsache zu nicht wieder gutzumachenden Schäden führen können, sodass in Verbindung mit dem allgemeinen Rechtsgrundsatz des „effet utile“ mittels einstweiliger Anordnung sichergestellt werden solle, dass eine Endentscheidung des EuGH volle Wirksamkeit entfalten könne (siehe zu den Voraussetzungen für die Erlassung einer auf das Unionsrecht gegründeten einstweiligen Anordnung noch des Näheren VwGH 13.10.2010, 2010/12/0169). Daraus folgerte der Verwaltungsgerichtshof in beiden eingangs genannten Erkenntnissen, dass eine nach nationalem Recht vorgesehene aufschiebende Wirkung eines Rechtsmittels nicht ausgeschlossen werden dürfe, wenn Zweifel an der Vereinbarkeit einer staatlichen Regelung (in concreto: einer das Rechtsschutzsystem betreffenden Norm) mit dem Gemeinschaftsrecht (Unionsrecht) in einem bereits beim EuGH anhängigen Vorabentscheidungsersuchen geäußert wurden. Der Sache nach ging es (auch wenn das erstgenannte Erkenntnis Schubhaft betraf) jeweils darum, dass ein solches Vorabentscheidungsersuchen in dem - noch nicht endgültig erledigten - Verfahren zu berücksichtigen ist, in dem die den Gegenstand des Vorabentscheidungsersuchens bildende Norm anzuwenden ist. In diesem Sinn hat der Verwaltungsgerichtshof auch in seinen, von den Revisionswerbern ebenfalls ins Treffen geführten Erkenntnissen VwGH 16.11.2016, Ra 2016/18/0172 bis 0177, und Ra 2016/18/0224 bis 0227, und in mehreren daran anschließenden Erkenntnissen, mit denen Entscheidungen betreffend die Zurückweisung von Anträgen auf internationalen Schutz wegen der auf Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO gegründeten Zuständigkeit Kroatiens und damit verbundene Anordnungen zur Außerlandesbringung aufgehoben wurden, zum Ausdruck gebracht, vor der (neuerlichen) Entscheidung des BVwG sei der Ausgang des slowenischen Vorabentscheidungsverfahrens zu C-490/16 abzuwarten, wenn sich die Ein- bzw. Durchreise der revisionswerbenden Parteien durch Kroatien so gestaltet habe wie im Fall dieses Vorabentscheidungsersuchens.

19       Dazu vertrat das BVwG im angefochtenen Erkenntnis der Sache nach die Auffassung, aus der dargestellten Rechtsprechung sei für den vorliegenden Fall nichts zu gewinnen, wobei es zur Begründung nur auf „die diesbezüglichen und seiner Ansicht nach für den vorliegenden Fall gleichermaßen gültigen Ausführungen“ im Erkenntnis VwGH 29.6.2017, Ra 2017/21/0089, verwies. In der damit angesprochenen Rn. 21 dieses Erkenntnisses hatte der Verwaltungsgerichtshof nach Darstellung der vorstehend referierten Judikatur deren Anwendbarkeit im dort zu beurteilenden Fall verneint, weil dem BVwG beizupflichten gewesen sei, dass „diese Aussagen“ nur „die Durchführung des Dublin-Verfahrens“ betreffen würden und sich nicht auf „die Abschiebung aufgrund rechtskräftiger Dublin-Bescheide“ übertragen ließen.

20       Die Revision zeigt aber zutreffend auf, dass sich die vorliegend zu beurteilende Konstellation von dem zu Ra 2017/21/0089 entschiedenen Fall insofern maßgeblich unterscheidet, als im Zeitpunkt der Abschiebungen der Revisionswerber auch der Verwaltungsgerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen betreffend die Auslegung des Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO eingebracht hatte, die Verfahren über die von den Revisionswerbern am 14. November 2016 gestellten Asylfolgeanträge in erster Instanz beim BFA anhängig waren und über die Anträge auf „Zuerkennung“ von faktischem Abschiebschutz und Erlassung einstweiliger Anordnungen nach dem Unionsrecht mit im Wesentlichen demselben Ziel noch nicht entschieden worden war.

21       Der auf § 12a Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 gestützte Antrag auf „Zuerkennung“ von faktischem Abschiebeschutz hätte zwar - geht man nur vom Wortlaut der genannten Bestimmung aus - nicht zum Erfolg führen können, weil dies vorausgesetzt hätte, dass schon damals festgestanden wäre, die im ersten Verfahren gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO angenommene Zuständigkeit Kroatiens zur Prüfung der von den Revisionswerbern gestellten Anträge auf internationalen Schutz bestehe nicht mehr weiter. Das hätte aber das Vorliegen eines Urteils des EuGH zu den in Rede stehenden Vorabentscheidungsersuchen vorausgesetzt, aus dem sich hätte ableiten lassen, dass die Einreise der Revisionswerber von Serbien nach Kroatien unter den damals herrschenden Umständen nicht „illegal“ iSd genannten Verordnungsbestimmung gewesen sei. Das war nicht der Fall.

22       Wäre ein solches - die Behörden und Gerichte der Mitgliedstaaten bindendes - Urteil des EuGH (später) ergangen, dann hätte allerdings im Rahmen der Verfahren über die Asylfolgeanträge der Revisionswerber nicht (mehr) von der Zuständigkeit Kroatiens zur Prüfung dieser Anträge nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO ausgegangen werden dürfen; vielmehr wären die Anträge von den österreichischen Behörden und Gerichten inhaltlich zu prüfen gewesen. Damit eine solche „Endentscheidung“ des EuGH im Verfahren über die Asylfolgeanträge der Revisionswerber volle Wirksamkeit hätte entfalten können, wäre nach der in Rn. 18 referierten Rechtsprechung einerseits der Ausgang der erwähnten Vorabentscheidungsverfahren abzuwarten gewesen und hätte andererseits sichergestellt werden müssen, dass während der Anhängigkeit der Vorabentscheidungsverfahren nicht bereits vollendete Tatsachen durch die Behörden der Mitgliedstaaten geschaffen werden, die zu nicht wieder gutzumachenden Schäden führen. In diesem Sinn wurde auch im Beschluss VwGH 20.12.2016, Fr 2016/21/0020, Rn. 10, unter Bezugnahme auf Rechtsprechung des EuGH zum Ausdruck gebracht, ein mit einem nach Unionsrecht zu beurteilenden Rechtsstreit befasstes nationales Gericht müsse in der Lage sein, vorläufige Maßnahmen zu erlassen, um die volle Wirksamkeit der späteren gerichtlichen Entscheidung über das Bestehen der aus dem Unionsrecht hergeleiteten Rechte sicherzustellen. Das gilt auch für eine Verwaltungsbehörde (siehe VwGH 23.10.2015, Fr 2015/21/0012, Punkt 3.1.).

23       Die Revisionswerber hatten - wie erwähnt - im Rahmen der Verfahren über ihre Asylfolgeanträge auf das Unionsrecht gegründete Anträge auf Erlassung einstweiliger Anordnungen mit dem Ziel der Aussetzung ihrer Überstellung nach Kroatien bis zum Abschluss des beim EuGH zu C-490/16 anhängigen Vorabentscheidungsverfahrens gestellt, die im Zeitpunkt der Abschiebung vom BFA noch unerledigt waren. Nach dem Gesagten hätte das BFA diesen Anträgen (allenfalls auch in unionsrechtlich gebotener weiter Auslegung des § 12a Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 durch Gewährung von faktischem Abschiebeschutz) stattgeben oder ihnen zumindest tatsächlich entsprechen müssen, um einem Urteil des EuGH, aus dem sich ergeben hätte, dass Kroatien für die Prüfung der Anträge der Revisionswerber auf internationalen Schutz nicht zuständig sei, volle Wirksamkeit zu verschaffen; andernfalls wäre nämlich die Umsetzung eines solchen Urteils des EuGH in Bezug auf die Revisionswerber nicht mehr möglich gewesen.

24       In diesem Zusammenhang tritt das BVwG im angefochtenen Erkenntnis zwar der Auffassung der Revisionswerber entgegen, ihre Abschiebung könne nicht wieder rückgängig gemacht werden und führe solcherart zu einem nicht wieder gutzumachenden Schaden. Dabei werde nämlich - so das BVwG - übersehen, dass gemäß Art. 29 Abs. 3 Dublin III-VO eine irrtümliche oder rechtswidrige Überstellung auch nach deren Vollzug dadurch wieder rückgängig gemacht werden könne, dass der Mitgliedstaat, der die Überstellung durchgeführt habe, die Person unverzüglich wieder aufnehme. Das greift aber insofern zu kurz, als es nicht (nur) darum geht, ob die Revisionswerber nach einem entsprechenden Urteil des EuGH in ihren Verfahren in Kroatien hätten geltend machen können, Österreich sei zur Prüfung ihrer Anträge auf internationalen Schutz zuständig, und ob sie dann nach der vom BVwG genannten Bestimmung rückzuüberstellen gewesen wären, was allerdings, worauf die Revisionswerber schon in der Beschwerde zutreffend hinwiesen, vorausgesetzt hätte, dass das Verfahren in Kroatien dann noch nicht endgültig beendet gewesen wäre. Maßgeblich ist vielmehr, dass die in die Rechte der Revisionswerber eingreifende, mit Zwangsmitteln vorgenommene Abschiebung von Österreich nach Kroatien und der anschließende, gegen ihren Willen erfolgte Aufenthalt nicht mehr hätten rückgängig gemacht werden können, selbst wenn sie nach einem die Zuständigkeit Österreichs ergebenden Urteil des EuGH dorthin wieder rücküberstellt hätten werden müssen.

25       Aus all dem folgt, dass das BVwG die am 6. März 2017 vorgenommenen Abschiebungen der Revisionswerber nach Kroatien als rechtswidrig zu qualifizieren gehabt hätte. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

26       Der Zuspruch von Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere unter Bedachtnahme auf § 53 Abs. 1 VwGG, in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 21. Dezember 2017

Schlagworte

Anzuwendendes Recht Maßgebende Rechtslage VwRallg2 Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht vorläufige Aussetzung der Vollziehung provisorischer Rechtsschutz EURallg6 Maßgebende Rechtslage maßgebender Sachverhalt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2017:RA2017210179.L00

Im RIS seit

20.08.2021

Zuletzt aktualisiert am

20.08.2021
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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