TE Vfgh Erkenntnis 2017/12/13 E739/2016

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Veröffentlicht am 13.12.2017
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Index

20/02 Familienrecht

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Anlassfall
EheG §44
VfGG §88

Leitsatz

Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses im Anlassfall; Abweisung der Beschwerde des minderjährigen Drittbeschwerdeführers

Spruch

I. Die Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin sind durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in ihren Rechten verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

II. Die Drittbeschwerdeführerin ist durch das angefochtene Erkenntnis weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in ihren Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird insoweit abgewiesen.

III. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den beschwerdeführenden Parteien zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 3.488,40 bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

1.       Die beschwerdeführenden Parteien sind österreichische Staatsangehörige; die Erst- und Zweitbeschwerdeführerin leben miteinander in eingetragener Partnerschaft und sind die Eltern der – in dieser Beziehung aufwachsenden – minderjährigen Drittbeschwerdeführerin. Gemeinsam beantragten sie am 9. Mai 2015 beim Standesamtsverband Braunau am Inn die Einleitung des Verfahrens zur Ermittlung der Ehefähigkeit, die Zulassung der Erst- und Zweitbeschwerdeführerin zur Begründung einer Ehe, die Beurkundung der Begründung dieser Ehe und die Ausstellung je einer Heiratsurkunde für die Erst- und Zweitbeschwerdeführerin sowie den bescheidmäßigen Abspruch über diese Anträge.

Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich wies die gegen den abschlägigen Bescheid vom 5. November 2015 erhobenen Beschwerden nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß §44 des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB), JGS 946/1811, ab (hinsichtlich der Drittbeschwerdeführerin mit der Abänderung, dass die Anträge zurückgewiesen werden).

Diese Entscheidung bekämpfen die beschwerdeführenden Parteien mit der vorliegenden, auf Art144 B-VG gestützten Beschwerde, in der sie die Verletzung in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf Schließung einer Ehe (Art12 EMRK) und auf Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung auf Grund des Geschlechtes und der sexuellen Orientierung (Art2 StGG; Art7 B-VG; Art8, 12 und 14 EMRK) wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes behaupten, die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragen und die Prüfung näher bezeichneter Wortfolgen in §44 ABGB, JGS 946/1811, durch den Verfassungsgerichtshof anregen.

Die Drittbeschwerdeführerin sieht neben den von der Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten insbesondere auch ihr verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf eine wirksame Beschwerde gemäß Art13 EMRK und auf den gesetzlichen Richter nach Art83 Abs2 B-VG verletzt. Als zwangsweise uneheliches Kind sei sie vom Eheverbot ihrer Eltern selbst betroffen, während ihr die zurückweisende Entscheidung des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich das Recht auf eine Beschwerde gegen ihre aus dem bekämpften Eheverbot folgende Stigmatisierung und Segregation genauso abspreche wie auf eine inhaltliche Begründung.

2.       Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:

2.1.    Der Verfassungsgerichtshof hat mit Erkenntnis vom 4. Dezember 2017, G258-259/2017, die Wortfolge "verschiedenen Geschlechtes" in §44 des Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB), JGS 946/1811, und im Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft (Eingetragene Partnerschaft-Gesetz – EPG), BGBl I 135/2009 idF BGBl I 25/2015, die Wortfolgen "gleichgeschlechtlicher Paare" in §1, "gleichen Geschlechts" in §2 sowie die Ziffer 1 des §5 Abs1 als verfassungswidrig aufgehoben.

2.2. Gemäß Art140 Abs7 B-VG wirkt die Aufhebung eines Gesetzes auf den Anlassfall zurück. Es ist daher hinsichtlich des Anlassfalles so vorzugehen, als ob die als verfassungswidrig erkannte Norm bereits zum Zeitpunkt der Verwirklichung des der angefochtenen Entscheidung des Verwaltungsgerichtes zugrunde gelegten Tatbestandes nicht mehr der Rechtsordnung angehört hätte.

Dem in Art140 Abs7 B-VG genannten Anlassfall (im engeren Sinn), anlässlich dessen das Gesetzesprüfungsverfahren tatsächlich eingeleitet worden ist, sind all jene Beschwerdefälle gleichzuhalten, die zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im Gesetzesprüfungsverfahren (bei Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung) beim Verfassungsgerichtshof bereits anhängig waren (VfSlg 10.616/1985, 11.711/1988). Im – hier allerdings nicht gegebenen – Fall einer Beschwerde gegen eine Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes, der ein auf Antrag eingeleitetes Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist, muss dieser verfahrenseinleitende Antrag überdies vor Bekanntmachung des dem unter Pkt. 2.1. genannten Erkenntnis zugrunde liegenden Prüfungsbeschlusses des Verfassungsgerichtshofes eingebracht worden sein (VfSlg 17.687/2005).

2.3. Die nichtöffentliche Beratung im Gesetzesprüfungsverfahren begann am 4. Dezember 2017. Die vorliegende Beschwerde ist beim Verfassungsgerichtshof am 23. April 2016 eingelangt, war also zu Beginn der nichtöffentlichen Beratung schon anhängig; der ihr zugrunde liegende Fall ist somit einem Anlassfall gleichzuhalten.

3. Die Beschwerde ist hinsichtlich der Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin begründet.

Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich hat eine verfassungswidrige Gesetzesbestimmung angewendet. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung der Erst- und der Zweitbeschwerdeführerin nachteilig war.

Die Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin wurden also durch das angefochtene Erkenntnis wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in ihren Rechten verletzt (zB VfSlg 10.404/1985).

Das Erkenntnis ist daher insoweit aufzuheben.

4. Hinsichtlich der Drittbeschwerdeführerin ist die Beschwerde nicht begründet:

Ob Kindern Parteistellung in Verfahren zur Ermittlung der Ehefähigkeit ihrer Eltern, zu deren Eheschließung und zur Beurkundung der Ehe zukommt, stellt grundsätzlich eine im Zuständigkeitsbereich des Verwaltungsgerichtshofs gelegene Frage dar (vgl. dazu im Zusammenhang mit der vorliegenden Konstellation VwGH 24.5.2016, Ra 2016/01/0060; 24.5.2016, Ra 2016/01/0063). Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist dem Landesverwaltungsgericht Oberösterreich nicht entgegenzutreten, wenn es davon ausgeht, dass es sich bei der Erklärung, eine Ehe eingehen zu wollen, um die Ausübung eines höchstpersönlichen Rechts handelt. Auch wenn die Frage, ob seine Eltern verheiratet sind, für das gemeinsame Kind wesentliche Bedeutung hat, die gleichheitsrechtlich von Relevanz ist, führt dies nicht dazu, dass der Gesetzgeber dem Kind im Verfahren über den Antrag seiner Eltern, eine Ehe eingehen zu wollen, ein subjektives Recht auf Durchsetzung eines derartigen Antrags und damit Parteistellung zuerkennen muss. Der Gesetzgeber kann vielmehr die Durchsetzung dieses höchstpersönlichen Rechts grundsätzlich in der Rechtsmacht der Rechtsträger belassen (und das Kind damit zur Bekämpfung allfälliger Rechtsnachteile auf andere Wege verweisen). Das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich hat daher den von ihm angewendeten Rechtsvorschriften in Bezug auf die Drittbeschwerdeführerin auch keinen gleichheitswidrigen Inhalt unterstellt.

Anhaltspunkte für ein sonst in die Verfassungssphäre reichendes Fehlverhalten des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich werden in der Beschwerde nicht vorgebracht und sind im Verfahren auch nicht hervorgekommen.

Die Drittbeschwerdeführerin ist daher durch das angefochtene Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich weder in den von ihr geltend gemachten noch in anderen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten oder in ihren Rechten wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm verletzt worden.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG (vgl. VfGH 4.12.2017, E230-231/2016).

Schlagworte

VfGH / Kosten, Rechte höchstpersönliche, Ehe und Verwandtschaft, Parteistellung, Eherecht, Zivilrecht, VfGH / Anlassfall

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2017:E739.2016

Zuletzt aktualisiert am

03.01.2018
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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