RS Vfgh 2017/10/10 E2446/2015 ua

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Veröffentlicht am 10.10.2017
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Index

L6500 Jagd, Wild

Norm

Nö JagdG 1974 §12, §17, §80 ff
EMRK 1. ZP Art1
StGG Art5

Leitsatz

Keine Verfassungswidrigkeit der im Niederösterreichischen Jagdgesetz 1974 vorgesehenen grundsätzlichen Verpflichtung der Grundeigentümer zur Duldung der flächendeckenden Bejagung; kein unverhältnismäßiger Eigentumseingriff angesichts der öffentlichen Interessen der Biodiversität, des Artenreichtums, der Vermeidung von Wildschäden und der Weidgerechtigkeit sowie im Hinblick auf die Möglichkeit der Verfügung des Ruhens der Jagd unter der Voraussetzung einer schalenwilddichten Umfriedung des Grundstücks; Abweisung der Beschwerden von Grundeigentümern gegen die Versagung der Jagdfreistellung ihrer Grundstücke

Rechtssatz

Bei den die Verpflichtung zur Duldung der Ausübung der Jagd festlegenden Bestimmungen des Nö JagdG 1974 (§4 Abs2 Z2, §10 Abs1 und §18 Abs1) handelt es sich um Eigentumsbeschränkungen, die einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in den von Art1 Abs1 1. ZPEMRK erfassten Schutzbereich darstellen: Alle im Bereich einer Gemeinde gelegenen Grundstücke, die nicht als Eigenjagdgebiet anerkannt sind, bilden das Genossenschaftsjagdgebiet. Die Jagdberechtigung in Genossenschaftsjagdgebieten steht der Jagdgenossenschaft, einer juristischen Person, der alle Eigentümer der betreffenden Grundstücke angehören, zu. Ein Eigentümer von Grundstücken im Genossenschaftsjagdgebiet ist somit grundsätzlich gezwungen, die Jagdausübung auf seinen Grundstücken durch dritte Personen zu dulden.

Diese Eigentumsbeschränkungen erweisen sich als gerechtfertigt (vgl G7/2016, E v 15.10.2016, zum Krnt JagdG 2000).

Wenn der niederösterreichische Landesgesetzgeber die - unzweifelhaft im öffentlichen Interesse gelegenen - Ziele der Biodiversität, des Artenreichtums und der Vermeidung von Wildschäden durch eine flächendeckende Jagdbewirtschaftung zu erreichen sucht, kann der VfGH dem nicht entgegentreten. Durch das Nö JagdG 1974 wird ein System der Wildbewirtschaftung geschaffen, um einen artenreichen, ausgewogenen und gesunden Wildbestand unter Rücksichtnahme auf land- und forstwirtschaftliche Interessen zu erreichen. Die jagdgebietsbezogene Organisation der Jagdbewirtschaftung bezweckt, eine auf Grund der Bindung des Jagdrechtes an das Grundeigentum mögliche unkontrollierte Jagd jedes Grundeigentümers auf seinen Grundstücken zu vermeiden und eine systematische Jagdausübung unter Berücksichtigung der Größe der Wildtierlebensräume sicherzustellen. Dies setzt eine flächendeckende Jagdbewirtschaftung in großflächigen Planungsräumen voraus. Durch eine Herausnahme einzelner Grundflächen würde das System der Wildbewirtschaftung in seiner praktischen Effektivität gefährdet, wie dies die vom VfGH zur mündlichen Verhandlung geladenen Auskunftspersonen für das Gebiet der Wildbiologie und für das Gebiet der Forstwirtschaft und des Wildeinflusses deutlich gemacht haben.

Die flächendeckende Jagdbewirtschaftung soll außerdem gewährleisten, dass angeschossenes und krankes Wild zuverlässig durch den dazu berufenen und ausgebildeten Jagdausübungsberechtigten erlegt wird, was den öffentlichen Interessen der Weidgerechtigkeit (dem "jagdlichen Tierschutz") sowie der Seuchenvermeidung und Seuchenprävention dient. Schließlich soll das Wild mit Lenkungseffekten durch Bejagung und Fütterung von wildschadensanfälligen Kulturen (zB Schutzwäldern) und Verkehrsflächen ferngehalten werden, um Wildschäden und Unfälle auf Grund von Wildwechsel hintanzuhalten.

Das System der Jagdbewirtschaftung nach dem Nö JagdG 1974 ist grundsätzlich geeignet, auf den Wildbestand einzuwirken und zur Artenvielfalt beizutragen (flächendeckende Bejagung im gesamten Landesgebiet; Abschussplanung auf Grund einer - der wildökologischen Raumplanung vergleichbaren - großflächigen Planung). Das Regelungssystem dient nicht dazu, Freizeitaktivitäten der Jäger zu schützen oder Personen die Möglichkeit zur Teilnahme an gemeinsamer Jagd zu bieten, sondern verfolgt ausschließlich Ziele des Allgemeininteresses.

Die Gefährdung des Waldes und der landwirtschaftlichen Kulturen durch Wildschäden kann nur durch eine Reduzierung der Wildbestände hintangehalten werden. Eine lebensraumangemessene Reduzierung der Wildbestände kann nicht flächendeckend durch die Wiederansiedlung großer Beutegreifer (Wolf, Luchs, Bär) sichergestellt werden.

In Niederösterreich kommt es - wie in ganz Österreich - zu einem starken Wildeinfluss auf land- und forstwirtschaftliche Kulturen. Dabei sind alle Landesteile Niederösterreichs gleichermaßen betroffen, auch die nördlichen, nicht in einer alpinen biogeographischen Region gelegenen und daher nicht unmittelbar mit Kärnten vergleichbaren Flächen des Wald- und Weinviertels.

Dem Nö JagdG 1974 liegt der Grundsatz einer flächendeckenden Jagdbewirtschaftung im gesamten niederösterreichischen Landesgebiet zugrunde.

Bei einer Abwägung der gesamten öffentlichen Interessen und der Schwere der Eigentumsbeschränkungen erweist es sich als nicht unverhältnismäßig, wenn der Gesetzgeber eine Ausnahme vom Grundsatz der flächendeckenden Bejagung lediglich auf Grundflächen vorsieht, auf denen die Jagd ruht und hiefür - von gesetzlich ausdrücklich festgelegten Fällen abgesehen (Friedhöhe, Häuser samt Hausgärten, öffentliche Anlage) - deren Umzäunung iSd §17 Abs2 Nö JagdG 1974 verlangt. Diese Regelung kann auch von jemandem, der die Jagd aus ethischen Gründen ablehnt, in Anspruch genommen werden. Der Eingriff in das Eigentumsrecht ist daher verhältnismäßig.

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Abweisung der Beschwerden gegen die Zurückweisung der Anträge von Grundeigentümern auf Jagdfreistellung ihrer Grundstücke und Feststellung der Beendigung der Mitgliedschaft in der jeweiligen Jagdgenossenschaft.

Entscheidungstexte

  • E2446/2015 ua
    Entscheidungstext VfGH Erkenntnis 10.10.2017 E2446/2015 ua

Schlagworte

Jagdrecht, Eigentumseingriff, Wildschaden

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2017:E2446.2015

Zuletzt aktualisiert am

20.03.2019
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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