RS Vfgh 2014/12/10 B1187/2013

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Veröffentlicht am 10.12.2014
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Index

10/10 Grundrechte, Datenschutz, Auskunftspflicht

Norm

DSG 2000 §1 Abs1, Abs3, Abs4 Z6, §27
EMRK Art3, Art8, Art13
Datenschutz-Richtlinie 95/46/EG

Leitsatz

Keine Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte durch Versagung eines Löschungsbegehrens hinsichtlich der bei einem Finanzamt aufbewahrten Daten der Beschwerdeführerin, insbesondere zu ihrem Sexualleben; Recht auf Löschung eingeschränkt auf automationsunterstützt verarbeitete Daten; subjektives Recht auf Beendigung einer unverhältnismäßigen, das Recht auf Privatleben verletzenden, weiteren Verwendung der in Papierakten enthaltenen Daten auf Grund des Rechts auf Geheimhaltung

Rechtssatz

Der Datenschutzkommission kann im Hinblick auf ihre Entscheidung, dass die beim Finanzamt Hollabrunn Korneuburg Tulln automationsunterstützt verarbeiteten Daten der Beschwerdeführerin nicht zu löschen seien, aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht entgegengetreten werden.

Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Datenschutzkommission den angewendeten Rechtsvorschriften fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere dem §1 Abs3 Z2 iVm §1 Abs2 und Abs4 DSG 2000 zuwiderlaufenden Inhalt unterstellt hat. Insbesondere ist der belangten Behörde aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht entgegenzutreten, wenn sie in ihrer Abwägungsentscheidung davon ausgeht, dass die Aufbewahrung der automationsunterstützt gespeicherten Daten, die keine Daten betreffend das Sexualleben der Beschwerdeführerin enthalten, noch erforderlich ist.

Im Hinblick auf in Papierakten aufbewahrte Daten geht der VfGH (ebenso wie der VwGH) in seiner Rechtsprechung davon aus, dass Kopienakten (Papierakten) zufolge ihres Aufbaues und ihrer Struktur nicht als Datei iSd §4 Z6 DSG 2000 zu qualifizieren sind, weshalb insoweit kein Löschungsanspruch besteht (vgl zB VfSlg 17745/2005, 18092/2007, 18963/2009; VwSlg 16477 A/2004; VwGH 25.11.2008, 2005/06/0301).

Durch die in den beim Finanzamt Hollabrunn Korneuburg Tulln elektronisch gespeicherten Daten enthaltenen Hinweise auf den "Prüfbericht" bzw die Niederschrift und die nicht näher spezifizierten Verweise auf die "Feststellungen der abgabenbehördlichen Prüfung" sowie die Aktenzahl werden die im Papierakt befindlichen Daten der Beschwerdeführerin nicht strukturiert zugänglich. Daraus folgt, dass es sich bei dem beim Finanzamt Hollabrunn Korneuburg Tulln aufbewahrten Papierakt nicht um eine Datei iSd §4 Z6 DSG 2000 handelt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR fällt die Aufbewahrung von das Privatleben einer Person betreffenden Daten in den Anwendungsbereich des Art8 Abs1 EMRK (vgl zB EGMR 18.10.2011, Fall Kheleli, Appl 16188/07, newsletter 2011, 305; betr die Bezeichnung "Prostituierte" als Beruf der Beschwerdeführerin); eine Einschränkung auf solche Daten, die in besonders strukturierter Weise aufgeschlossen sind, kann der Judikatur des EGMR nicht entnommen werden.

Das Finanzamt Hollabrunn Korneuburg Tulln hat im vorliegenden Fall durch die Aufbewahrung bzw durch die nicht erfolgte Löschung der das Privatleben betreffenden Daten der Beschwerdeführerin im Papierakt in ihr durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht auf Privatleben eingegriffen.

Da das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Löschung gemäß §1 Abs3 DSG 2000 sowie - in verfassungskonformer Auslegung - das Recht auf Löschung gemäß §27 Abs1 DSG 2000 auf "Dateien" iSd §4 Z6 DSG 2000 eingeschränkt ist, ist jedoch der Auffassung der Datenschutzkommission aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht entgegenzutreten, dass sie das Vorbringen der Beschwerdeführerin, wonach ihr ein auf Art8 EMRK gestütztes Recht auf Löschung zukomme, nur insoweit zu prüfen habe, als dieses Recht auch in §1 Abs3 Z2 DSG 2000 Deckung finde.

Eine Löschungsverpflichtung auf Grund einer Übermittlung gemäß §27 Abs8 DSG 2000 setzt das Vorliegen einer "Datei" iSd §4 Z6 DSG 2000 voraus. Dies ist aber im vorliegenden Fall zu verneinen.

Die vom Finanzamt Hollabrunn Korneuburg Tulln anwendbaren Rechtsvorschriften, insbesondere die Bestimmungen der BAO, enthalten keine ausdrücklichen Regelungen über einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die fortgesetzte Aufbewahrung der Daten der Beschwerdeführerin bzw über eine wirksame Durchsetzung des Löschungsbegehrens der Beschwerdeführerin hinsichtlich der im Papierakt des Finanzamts Hollabrunn Korneuburg Tulln enthaltenen Daten. Vor dem Hintergrund des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes gemäß Art8 iVm Art13 EMRK, aber auch gemäß §1 Abs1 DSG 2000, hat die Beschwerdeführerin dennoch das Recht, ihren Anspruch auf Entscheidung durch das zuständige Finanzamt über die Rechtmäßigkeit der weiteren Aufbewahrung hinsichtlich (rechtmäßig oder rechtswidrig) ermittelter Daten geltend zu machen. Das gegenüber allen Behörden (und auch Privaten) geltende Recht auf Geheimhaltung gemäß §1 Abs1 DSG 2000 gewährleistet auch ein subjektives Recht darauf, dass eine unverhältnismäßige weitere Verwendung von Daten beendet wird. Dieses Recht ist - anders als das bei der Datenschutzkommission bzw nunmehr bei der Datenschutzbehörde durchsetzbare Recht auf Löschung gemäß §1 Abs3 DSG 2000 - nicht auf automationsunterstützt verarbeitete Daten oder manuelle Dateien eingeschränkt. Werden demnach Papierakten aufbewahrt, deren weitere Verwendung gegen Art8 EMRK verstößt, ergibt sich aus dem Recht auf Geheimhaltung ein Recht auf physische Vernichtung der Papierakten durch die Behörde. Das Finanzamt Hollabrunn Korneuburg Tulln hat die entsprechenden Daten daher entweder zu vernichten oder einen Bescheid zu erlassen, mit dem das Begehren der Beschwerdeführerin abgewiesen wird, wobei im zweiten Fall die Abwägungsentscheidung zwischen dem grundrechtlich geschützten Privatleben der Beschwerdeführerin und den öffentlichen Interessen an der weiteren Aufbewahrung der Daten zu begründen ist. Gegen einen abweisenden Bescheid stünde der Beschwerdeführerin der Rechtsweg an das Bundesfinanzgericht und in der Folge allenfalls an die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts offen.

Durch die fortgesetzte Aufbewahrung der Daten beim Finanzamt Hollabrunn Korneuburg Tulln konnte die Beschwerdeführerin nicht in ihrem Recht auf Unterbleiben einer erniedrigenden Behandlung gemäß Art3 EMRK verletzt werden.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Datenschutz, Privat- und Familienleben, Auslegung verfassungskonforme, Rechte subjektive öffentliche, EU-Recht Richtlinie

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2014:B1187.2013

Zuletzt aktualisiert am

17.03.2016
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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