RS Vfgh 2014/12/9 V54/2014

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Veröffentlicht am 09.12.2014
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Index

66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verordnung
B-VG Art7 Abs2
ASVG §338 Abs1, Abs2, §343 Abs1, Abs1a
Reihungskriterien-V, BGBl II 487/2002 idF BGBl II 239/2009 §2 Abs1 Z5, §3 Abs1
GleichbehandlungsG §1, §5, §8, §9
Richtlinie 2006/54/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.07.06 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen Art14 Abs2

Leitsatz

Keine Gesetzwidrigkeit von Bestimmungen der Reihungskriterien-Verordnung betreffend das Sonderfach Frauenheilkunde und Geburtshilfe; Bevorzugung von Frauen bei der Vergabe von Facharztstellen angesichts des bestehenden Mangels weiblicher Vertragsfachärzte für Frauenheilkunde sachlich gerechtfertigt; kein Verstoß der Regelungen gegen das Gleichbehandlungsgesetz

Rechtssatz

Abweisung des - zulässigen - Antrags des Landesgerichtes Salzburg auf Aufhebung von Wortfolgen in §2 Abs1 Z5 und §3 Abs1 5. Gedankenstrich der Reihungskriterien-Verordnung, BGBl II 487/2002 idF BGBl II 239/2009.

Die angegriffenen Bestimmungen dienen der Behebung eines entgegen dem gesetzlichen Versorgungsauftrag des §338 Abs2 erster Satz ASVG bestehenden Mangels der Gesundheitsversorgung sozialversicherter weiblicher Patienten auf dem Fachgebiet der Frauenheilkunde und sollen diesen weiblichen Patienten eine gleichwertige Wahlmöglichkeit zwischen weiblichen und männlichen Vertragsärzten eröffnen.

Der Verordnungsgeber berücksichtigt, dass es - abgesehen von der ärztlichen Befähigung - auf dem Fachgebiet der Frauenheilkunde dem Gegenstand des Faches gemäß für das Vertrauen eines Teils der weiblichen Patienten eine besondere Rolle spielt, dass der Arzt weiblichen Geschlechts ist. Vor diesem Hintergrund besteht aus objektiven Gründen ein - iSd Art7 Abs1 B-VG zu verstehendes - legitimes Bedürfnis nach einem entsprechenden Anteil weiblicher Vertragsärzte aus dem Fachgebiet der Frauenheilkunde.

Der Bundesminister für Gesundheit hat auch dargetan, dass ein Mangel an weiblichen Vertragsärzten für Frauenheilkunde besteht. Denn aus dem vorgelegten Datenmaterial geht hervor, dass auf dem Fachgebiet der Frauenheilkunde der Anteil der weiblichen Vertragsärzte im österreichischen Durchschnitt mit etwa 17,2% (2009) weit unter jenem Prozentsatz von über 60% liegt, in dem Frauen weibliche Wahlärzte nachfragen.

Das Ziel der angefochtenen Verordnungsbestimmungen, diesen tatsächlich bestehenden Mangel im Gesundheitswesen alsbald zu beheben, entspricht einem wichtigen öffentlichen Interesse.

Der verordnungserlassende Bundesminister konnte auch vertretbarerweise davon ausgehen, dass die Bevorzugung von Frauen bei der Vergabe von Facharztstellen ein geeignetes Mittel ist, diesem Mangel abzuhelfen, wie auch die seither gestiegenen Anteile an weiblichen Vertragsärzten für Frauenheilkunde in den einzelnen Bundesländern belegen.

Angesichts des nach wie vor nicht behobenen Mangels an weiblichen Vertragsfachärzten für Frauenheilkunde sind die Bestimmungen auch im Jahre 2014 nicht unsachlich geworden.

Die angefochtenen Vorschriften der Reihungskriterien-Verordnung können nur solange sachlich gerechtfertigt werden, als ein nennenswerter Mangel an weiblichen Fachärzten für Frauenheilkunde gemessen am Bedarf fortbesteht. Sie können durch Zeitablauf gesetzwidrig werden.

Die Tätigkeit eines Vertragsarztes der Sozialversicherung unterliegt als selbständige Tätigkeit dem Anwendungsbereich des GleichbehandlungsG (GlBG).

Eine Vorgangsweise, die sonst als unmittelbare Diskriminierung (iSd §5 GlBG) anzusehen wäre, kann nicht nur nach §8 GlBG zulässig sein, wonach Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung von Frauen und Männern iSd Art7 Abs2 B-VG nicht als Diskriminierungen im Sinne dieses Gesetzes gelten. Vielmehr liegt eine zulässige Differenzierung nach dem Geschlecht auch dann vor, wenn das Geschlecht eine "unverzichtbare Voraussetzung" für eine berufliche Tätigkeit ist (vgl §9 GlBG).

Der Begriff der "Unverzichtbarkeit" ist im Sinne der ihm zugrunde liegenden Richtlinienbestimmung des Art14 Abs2 der Richtlinie 2006/54/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Beschäftigungsfragen (Neufassung) auszulegen. Das Erfordernis des weiblichen Geschlechts des Arztes zur Sicherstellung einer angemessenen Versorgung sozialversicherter Patientinnen auf dem Fachgebiet der Frauenheilkunde ist im Rahmen des bestehenden Versorgungsbedarfs für die auf diesem Gebiet tätigen weiblichen Fachärzte eine objektiv vorliegende berufliche Anforderung im Sinne der Richtlinienbestimmung und daher "unverzichtbar" iSd GlBG.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Sozialversicherung, Ärzte, Gleichbehandlung, Gleichheit Frau - Mann, geschlechtsspezifische Differenzierungen, EU-Recht Richtlinie

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2014:V54.2014

Zuletzt aktualisiert am

17.03.2016
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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