TE Vfgh Erkenntnis 2014/6/6 U1313/2013

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Veröffentlicht am 06.06.2014
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

EMRK Art8
AsylG 2005 §10

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Ausweisung der Beschwerdeführerin nach Nigeria infolge verfassungswidriger Interessensabwägung

Spruch

I.              1.              Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung, soweit mit ihr die Ausweisung ausgesprochen wird, in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

              Der Bescheid wird insoweit aufgehoben.

              2.              Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

II.              Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihrer Rechtsvertreterin die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin ist nigerianische Staatsangehörige. Sie reiste am 1. Oktober 2004 nach Österreich ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Als Grund für ihre Ausreise gab sie an, dass sie auf Grund von Stammeskämpfen in Nigeria kein Zuhause und keine Familienangehörigen mehr habe.

2. Mit Bescheiden vom 14. Oktober 2004 und 28. Mai 2009 wies das Bundesasylamt den Antrag der Beschwerdeführerin ab und verfügte die Ausweisung der Beschwerdeführerin nach Nigeria, wobei der Asylgerichtshof der gegen den ersten Bescheid des Bundesasylamtes erhobenen Beschwerde am 12. November 2008 stattgab und die Beschwerde gegen den zweiten Bescheid des Bundesasylamtes am 16. Mai 2013 abwies. Zur Entscheidung vom 16. Mai 2013, gegen die sich die vorliegende Beschwerde richtet, führte der Asylgerichtshof begründend aus, dass das Fluchtvorbringen nicht glaubhaft sei und auch bei Wahrunterstellung eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe. Bei der Abwägung hinsichtlich des Eingriffs in das Recht auf Privat- und Familienleben würden die öffentlichen Interessen an der Einhaltung der fremdenrechtlichen Bestimmungen und am Schutz der öffentlichen Ordnung trotz ihres langjährigen Aufenthalts in Österreich überwiegen, insbesondere da die Beschwerdeführerin praktisch nicht integriert und trotz ihrer Tätigkeit als Prostituierte nicht selbsterhaltungsfähig sei, da sie lediglich über einen Zeitraum von rund zwei Jahren keine Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch genommen habe.

II. Erwägungen

Die Beschwerde ist zulässig.

A. Soweit sie sich gegen die Ausweisung nach Nigeria richtet, ist sie auch begründet.

1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl. VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002). Für Entscheidungen des Asylgerichtshofes gelten sinngemäß dieselben verfassungsrechtlichen Schranken (vgl. VfSlg 19.612/2011).

2. Ein derartiger, in die Verfassungssphäre reichender Fehler ist dem Asylgerichtshof bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens der Beschwerdeführerin unterlaufen:

Der Asylgerichtshof geht davon aus, dass neben einer langen Verfahrensdauer keine weiteren Umstände erkennbar seien, die zu Gunsten der Beschwerdeführerin zu werten seien. Dadurch lässt er den Umstand zu Unrecht außer Acht, dass die Beschwerdeführerin seit ihrer Einreise einer legalen Erwerbstätigkeit nachgeht, auf Grund derer ihr die Selbsterhaltungsfähigkeit nicht von vornherein abgesprochen werden kann. Auch ist die Beschwerdeführerin anscheinend bereits über einen Zeitraum von rund zwei Jahren selbsterhaltungsfähig. Dadurch, dass der Asylgerichtshof diese Aspekte nicht bzw. nicht hinreichend in die Abwägung der Interessen der Beschwerdeführerin gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Ausweisung einbezogen hat, wurde die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt.

B. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

1. Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B-VG in der mit 1. Jänner 2014 in Kraft getretenen Fassung). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

2. Dem Asylgerichtshof ist bei Erlassung der angefochtenen Entscheidung keine Verletzung des Art3 EMRK unterlaufen, hat er sich doch in aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstandender Weise mit allen aus Art3 EMRK erfließenden Aspekten (vgl. zB VfSlg 18.610/2008) auseinandergesetzt.

Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde im Übrigen abzusehen.

III. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung, soweit mit ihr die Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgesprochen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden. Die angefochtene Entscheidung wird daher insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz bzw. §19 Abs3 Z1 iVm §31 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Ausweisung, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2014:U1313.2013

Zuletzt aktualisiert am

17.09.2014
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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