TE Vfgh Beschluss 2014/2/20 G101/2013

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Veröffentlicht am 20.02.2014
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Index

25/01 Strafprozess

Norm

B-VG Art140 Abs1 Z1 litc
StPO §126 Abs4

Leitsatz

Zurückweisung des Individualantrags auf Aufhebung einer Bestimmung der Strafprozessordnung betreffend die Geltendmachung der Befangenheit eines Sachverständigen infolge Zumutbarkeit der Anregung eines Gesetzesprüfungsantrags in einem anhängigen Strafverfahren

Spruch

Der Antrag wird zurückgewiesen.

Begründung

Begründung

I. Anlassverfahren, Antrag und Vorverfahren

1. Mit seinem auf Art140 B-VG gestützten Antrag begehrt der Antragsteller, die Wortfolge "Sachverständigen oder" in §126 Abs4 Strafprozeßordnung 1975 (StPO) in der Fassung BGBl I 111/2010 als verfassungswidrig aufzuheben.

1.1. Gegen den Antragsteller und vier weitere Personen ist (u.a. wegen des Verbrechens der Untreue nach §153 Abs1 und 2 zweiter Fall Strafgesetzbuch sowie des Vergehens nach §255 Abs1 Aktiengesetz) beim Landesgericht Klagenfurt ein im Stadium der Hauptverhandlung befindliches Strafverfahren anhängig. In dem der Anklageerhebung vorangegangenen Ermittlungsverfahren haben zwei von der Staatsanwaltschaft Klagenfurt bestellte Sachverständige (den Antragsteller belastende) Gutachten erstattet, die nach dem Antragsvorbringen der Anklageschrift zugrunde gelegt worden sind. Mit Beschluss vom 17. Oktober 2013 habe das Landesgericht Klagenfurt die Verfahrensparteien davon in Kenntnis gesetzt, dass es beabsichtige, die beiden im Ermittlungsverfahren tätig gewordenen Sachverständigen aus den Gründen des §126 Abs2 und 2c StPO – wonach bei der Wahl von Sachverständigen die Grundsätze der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit einzuhalten seien – (auch) für das Hauptverfahren zu bestellen; unter einem seien die Verfahrensparteien aufgefordert worden, allfällige begründete Einwände gegen die ausgewählten Experten binnen einer Woche zu erheben. Den vom Antragsteller fristgerecht vorgebrachten Einwänden gegen die beabsichtigte Bestellung habe das Landesgericht Klagenfurt keine Folge gegeben.

2. Zur Zulässigkeit des Individualantrages führt der Antragsteller im Wesentlichen aus, dass die bekämpfte Norm einen "direkten" und "unmittelbar aktuellen" Eingriff in seine Rechtssphäre – und nicht nur wirtschaftliche Reflexwirkungen – nach sich ziehe. Gemäß §126 Abs4 letzter Satz StPO könne die Befangenheit eines Sachverständigen (oder Dolmetschers) im Hauptverfahren nicht allein mit der Begründung geltend gemacht werden, dass dieser bereits im Ermittlungsverfahren tätig gewesen sei. Der Antragsteller sei zum Nachweis seiner Unschuld insoweit zur Beibringung von Privatgutachten gezwungen, deren Erstellung in komplexen Wirtschaftsstrafverfahren hohe Kosten verursache, was zu einer aktuellen Beeinträchtigung seiner rechtlich geschützten Interessen führe. Auf Grund der Vorgaben des §126 Abs2 und 2c StPO, wonach bei der Wahl von Sachverständigen nach den Grundsätzen der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit vorzugehen sei, verbleibe zudem kein Spielraum für eine gerichtliche Entscheidung, weshalb die angefochtene Bestimmung auch unmittelbar in seine Rechtssphäre eingreife.

2.1. Die Geltendmachung seiner verfassungsrechtlichen Bedenken erst im Rechtsmittelverfahren sei dem Antragsteller nicht zumutbar. Auf Grund der mit einem umfangreichen und schwierigen Strafverfahren – selbst im Falle eines späteren Freispruches – verbundenen wirtschaftlichen und psychischen Belastungen sowie des damit einhergehenden Reputationsverlustes könne der Antragsteller nicht mit dem Risiko belastet werden, das erstinstanzliche Urteil abzuwarten; es lägen daher im Sinne der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (VfSlg 15.786/2000 und 16.772/2002) außergewöhnliche Umstände vor, die den Individualantrag trotz anhängigen Strafverfahrens zulässig machen würden. Dies auch mit Blick darauf, dass die Provozierung eines Strafverfahrens zur Erlangung einer Verurteilung, welche die Anregung der Prüfung einer für verfassungswidrig erachteten Bestimmung durch das Rechtsmittelgericht ermögliche, nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes als unzumutbar beurteilt werde; dies müsse auch für das Abwarten des erstinstanzlichen Urteils in einem bereits anhängigen Strafverfahren gelten. Auch habe es der Verfassungsgerichtshof für nicht zumutbar erachtet, ein förmliches – kostspieliges – Bauverfahren in Angriff nehmen zu müssen, um die behauptete Rechtswidrigkeit eines Flächenwidmungsplanes geltend machen zu können; diese Konstellation sei mit der vorliegenden ebenfalls vergleichbar.

2.2. Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmung des §126 Abs4 StPO erblickt der Antragsteller auf das Wesentliche zusammengefasst darin, dass (zunächst) von der Staatsanwaltschaft für das Ermittlungsverfahren und in der Folge (auch) vom Gericht für das Hauptverfahren bestellte Sachverständige als "Zeugen der Anklage" zu qualifizieren seien; dies stelle nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte einen Verstoß gegen den Grundsatz der Waffengleichheit und damit eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren im Sinne des Art6 Abs1 EMRK dar.

3. Die Bundesregierung erstattete eine Äußerung, in der sie im Kern unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes darlegt, dass dem Antragsteller mit dem gegen ihn anhängigen Strafverfahren sehr wohl ein zumutbarer Weg zur Abwehr des behaupteten Eingriffes zur Verfügung stehe; den vorgebrachten Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der angefochtenen Bestimmung tritt die Bundesregierung mit näherer Begründung entgegen.

II. Rechtslage

Die maßgebliche Bestimmung des §126 StPO, BGBl 631/1975 in der Fassung BGBl I 111/2010, lautet (die angefochtene Wortfolge ist hervorgehoben):

"Sachverständige und Dolmetscher

§126. (1) Sachverständige sind zu bestellen, wenn für Ermittlungen oder für Beweisaufnahmen besonderes Fachwissen erforderlich ist, über welches die Strafverfolgungsbehörden durch ihre Organe, besondere Einrichtungen oder bei ihnen dauernd angestellte Personen nicht verfügen. Dolmetscher sind im Rahmen der Übersetzungshilfe und dann zu bestellen, wenn eine Person vernommen wird, die der Verfahrenssprache nicht kundig ist (§56), oder für die Ermittlungen wesentliche Schriftstücke in die Verfahrenssprache zu übersetzen sind.

(2) Als Sachverständige sind vor allem Personen zu bestellen, die in die Gerichtssachverständigen- und Gerichtsdolmetscherliste (§2 Abs1 des Bundesgesetzes über die allgemein beeideten und gerichtlichen zertifizierten Sachverständigen und Dolmetscher – SDG, BGBl Nr 137/1975) eingetragen sind. Werden andere Personen bestellt, so sind sie zuvor über ihre wesentlichen Rechte und Pflichten zu informieren.

(2a) Als Dolmetscher ist von der Staatsanwaltschaft oder vom Gericht eine vom Bundesministerium für Justiz oder in dessen Auftrag von der Justizbetreuungsagentur zur Verfügung gestellte geeignete Person zu bestellen. Für diese gilt §127 Abs1 nicht.

(2b) Steht eine geeignete Person nach Abs2a nicht oder nicht rechtzeitig zur Verfügung oder besteht Grund zur Annahme, dass hinsichtlich aller nach Abs2a in Betracht kommenden Personen einer der Gründe des Abs4 vorliegt, so kann auch eine andere geeignete Person als Dolmetscher bestellt werden. Dabei ist vorrangig eine in die Gerichtssachverständigen- und Gerichtsdolmetscherliste (§2 Abs1 SDG) eingetragene Person zu bestellen, im Übrigen jedoch nach Abs2 letzter Satz vorzugehen.

(2c) Bei der Wahl von Sachverständigen oder Dolmetschern und der Bestimmung des Umfangs ihres Auftrags ist nach den Grundsätzen der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit vorzugehen.

(3) Sachverständige sind von der Staatsanwaltschaft, für gerichtliche Ermittlungen oder Beweisaufnahmen (§§104, 105) und für das Hauptverfahren (§210 Abs2) jedoch vom Gericht zu bestellen. Werden Angehörige des wissenschaftlichen Personals einer Universitätseinheit als Sachverständige bestellt, so ist eine Ausfertigung des Auftrags auch dem Leiter der Einheit zuzustellen. Der Beschuldigte hat das Recht, binnen einer angemessen festzusetzenden, eine Woche nicht übersteigenden Frist begründete Einwände gegen die ausgewählte Person zu erheben; darüber ist er zu informieren, wobei ihm eine Ausfertigung der Bestellung zuzustellen ist.

(4) Für Sachverständige und Dolmetscher gelten die Befangenheitsgründe des §47 Abs1 sinngemäß. Soweit sie befangen sind oder ihre Sachkunde in Zweifel steht, sind sie von der Staatsanwaltschaft, im Fall einer Bestellung durch das Gericht von diesem, von Amts wegen oder auf Grund von Einwänden (Abs3) ihres Amtes zu entheben, bei Vorliegen eines Befangenheitsgrundes gemäß §47 Abs1 Z1 und 2 bei sonstiger Nichtigkeit. Im Hauptverfahren kann die Befangenheit eines Sachverständigen oder Dolmetschers nicht bloß mit der Begründung geltend gemacht werden, dass er bereits im Ermittlungsverfahren tätig gewesen ist."

III. Erwägungen

Der Individualantrag ist unzulässig.

1. Voraussetzung der Antragslegitimation gemäß Art140 Abs1 Z1 litc B-VG ist einerseits, dass der Antragsteller behauptet, unmittelbar durch das angefochtene Gesetz – im Hinblick auf dessen Verfassungswidrigkeit – in seinen Rechten verletzt worden zu sein, dann aber auch, dass das Gesetz für den Antragsteller tatsächlich, und zwar ohne Fällung einer gerichtlichen Entscheidung oder ohne Erlassung eines Bescheides, wirksam geworden ist. Grundlegende Voraussetzung der Antragslegitimation ist, dass das Gesetz in die Rechtssphäre des Antragstellers nachteilig eingreift und diese – im Falle seiner Verfassungswidrigkeit – verletzt.

Nicht jedem Normadressaten aber kommt die Anfechtungsbefugnis zu. Es ist darüber hinaus erforderlich, dass das Gesetz selbst tatsächlich in die Rechtssphäre des Antragstellers unmittelbar eingreift. Ein derartiger Eingriff ist jedenfalls nur dann anzunehmen, wenn dieser nach Art und Ausmaß durch das Gesetz selbst eindeutig bestimmt ist, wenn er die (rechtlich geschützten) Interessen des Antragstellers nicht bloß potentiell, sondern aktuell beeinträchtigt und wenn dem Antragsteller kein anderer zumutbarer Weg zur Abwehr des – behaupteterweise – rechtswidrigen Eingriffes zur Verfügung steht (VfSlg 11.868/1988, 15.632/1999, 16.616/2002, 16.891/2003).

Ein solcher zumutbarer Weg ist nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes u.a. dann eröffnet, wenn bereits ein gerichtliches Verfahren anhängig ist, das dem Betroffenen Gelegenheit bietet, eine amtswegige Antragstellung an den Verfassungsgerichtshof anzuregen (zB VfSlg 13.871/1994 mwN, 15.786/2000, 17.110/2004, 17.276/2004, 18.370/2008). Ein Individualantrag gemäß Art140 Abs1 letzter Satz B-VG wäre in solchen Fällen nur bei Vorliegen besonderer, außergewöhnlicher Umstände zulässig (zB VfSlg 13.659/1993, 14.672/1996, 15.786/2000).

2. Wie die Bundesregierung zutreffend darlegt, steht dem Antragsteller im konkreten Fall ein solcher zumutbarer Weg zur Geltendmachung seiner Bedenken offen:

2.1. Der Antragsteller hat nämlich die Möglichkeit, im Falle seiner Verurteilung in dem gegen ihn anhängigen Strafverfahren im Rechtsmittelverfahren eine amtswegige Antragstellung anzuregen; es steht ihm sohin frei, seine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Wortfolge "Sachverständigen oder" in §126 Abs4 StPO im Rahmen der Anfechtung des Urteils mittels Nichtigkeitsbeschwerde beim antragslegitimierten (Art140 Abs1 Z1 lita iVm Art89 Abs2 B-VG) Obersten Gerichtshof vorzutragen, der für den Fall, dass er die Bedenken teilt, zur Einbringung eines Antrags auf Gesetzesprüfung beim Verfassungsgerichtshof verpflichtet wäre. Nach ständiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, von der abzugehen der vorliegende Fall keinen Anlass bietet, stellt eine solche Möglichkeit der Rechtsverfolgung vor Gerichten einen zumutbaren Weg im Sinne des Art140 Abs1 Z1 litc B-VG dar (vgl. zB VfSlg 15.418/1999).

2.2. Entgegen der Ansicht des Antragstellers sind im vorliegenden Fall [VfSlg 15.786/2000] oder zum Fall der mit besonderer Härte verbundenen Erhebung eines unzulässigen Rechtsmittels im Auslieferungsverfahren [VfSlg 16.772/2002]) außergewöhnliche Umstände, deren Vorliegen die Einbringung eines Individualantrages zufolge Unzumutbarkeit des Beschreitens eines anderen Weges ausnahmsweise zulässig machen würden, nicht gegeben. An dieser Beurteilung vermag nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes auch der Umstand nichts zu ändern, dass dem Antragsteller im Falle einer Verurteilung der Vollzug einer Freiheitsstrafe droht (vgl. VfSlg 15.861/2000 und 18.370/2008). Die vom Antragsteller ins Treffen geführten, als unzumutbar eingestuften Fälle der Provozierung eines Strafverfahrens oder eines Bauverfahrens bloß zur Erreichung der Möglichkeit der Anregung eines Gesetzes- oder Verordnungsprüfungsverfahrens in Bezug auf eine für verfassungsrechtlich bedenklich erachtete Norm durch die Rechtsmittelbehörde oder den Verfassungsgerichtshof unterscheiden sich signifikant vom Fall eines bereits anhängigen gerichtlichen Strafverfahrens.

2.3. Der vorliegende Individualantrag ist daher schon aus den dargelegten Gründen mangels Legitimation als unzulässig zurückzuweisen.

3. Dies konnte gemäß §19 Abs3 Z2 lite VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Strafprozessrecht, Sachverständige, Befangenheit, VfGH / Individualantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2014:G101.2013

Zuletzt aktualisiert am

24.03.2014
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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