TE Vfgh Erkenntnis 2014/2/27 U771/2013

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Veröffentlicht am 27.02.2014
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Index

10/07 Verfassungsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof, Asylgerichtshof

Norm

B-VG Art144 Abs1 / Anlassfall

Leitsatz

Aufhebung des angefochtenen Bescheides im Anlassfall

Spruch

I.              Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung wegen Anwendung eines verfassungswidrigen Gesetzes in seinen Rechten verletzt worden.              

Die Entscheidung wird aufgehoben.

II.              Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerdevorbringen und amtswegiges Gesetzes-prüfungsverfahren

1.1. Der Beschwerdeführer, ein irakischer Staatsangehöriger, stellte am 31. Mai 2003 nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet einen Asylantrag. Im Rahmen seiner Einvernahmen vor dem Bundesasylamt brachte er zunächst vor, sein Vater, ein Soldat in der irakischen Armee, gelte seit dem Jahr 1986 als vermisst. Dafür sei ein hoher Offizier verantwortlich gewesen, der den Vater des Beschwerdeführers wegen dessen kurdischer Volksgruppenzugehörigkeit mehrfach versetzt und schließlich an die Front geschickt habe. Zu Beginn des Irak-Krieges 2003 habe der Beschwerdeführer auf diesen Offizier geschossen, woraufhin sich dessen Angehörige am Beschwerdeführer hätten rächen wollen. Auf Vorhalt, dass seine Angaben unplausibel seien, räumte der Beschwerdeführer ein, nicht auf den Offizier geschossen, sondern den Irak auf Grund der dortigen "allgemein schlechten Situation" verlassen zu haben. Im Falle seiner Rückkehr drohten ihm keine asylrelevanten Probleme.

1.2. Das Asylverfahren des Beschwerdeführers wurde am 8. Juli 2003 eingestellt, weil die Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes für das Asylverfahren auf Grund der Ortsabwesenheit des Beschwerdeführers nicht möglich gewesen sei.

1.3. Am 25. Oktober 2005 wurde der Beschwerdeführer aus Großbritannien, wo er ebenfalls einen Asylantrag gestellt hatte, nach Österreich rücküberstellt. In Großbritannien hatte er angegeben, sein Vater und sein Onkel seien in einen heftigen Streit um das Erbe seines Großvaters geraten. Diese familiären Auseinandersetzungen seien auch nach dem Tod des Vaters im Jahr 1988 weitergegangen. Als der Cousin des Beschwerdeführers im April 2004 getötet worden sei, habe der Onkel den Beschwerdeführer dafür verantwortlich gemacht und gegen ihn einen Haftbefehl erwirkt, weshalb er aus dem Irak geflohen sei. Nach der Rücküberstellung nach Österreich hielt der Beschwerdeführer dieses Vorbringen vor dem Bundesasylamt im Wesentlichen aufrecht.

1.4. Das Bundesasylamt wies den Asylantrag mit Bescheid vom 29. Jänner 2007 gemäß §7 Asylgesetz 1997, BGBl I 76/1997 idF BGBl I 101/2003, ab, erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in den Irak gemäß §8 Abs1 leg.cit. für zulässig und wies ihn gemäß §8 Abs2 leg.cit. aus dem österreichischen Bundesgebiet in den Irak aus.

1.5. Gegen diese Entscheidung erhob der Beschwerdeführer am 9. Februar 2007 Berufung an den Unabhängigen Bundesasylsenat, welche im Sinne des §23 Abs1 Asylgerichtshofgesetz, BGBl I 4/2008 (im Folgenden: AsylGHG), nunmehr als Beschwerde an den Asylgerichtshof zu behandeln war. Am 6. Dezember 2011 führten der vorsitzende Richter sowie die beisitzende Richterin der Gerichtsabteilung E/8 eine öffentliche mündliche Verhandlung in der Rechtssache des Beschwerdeführers durch. Da der Erledigungsentwurf des vorsitzenden Richters nicht die Zustimmung der beisitzenden Richterin fand, wurde die Rechtssache gemäß §11 Abs4 iVm §9 Abs3 AsylGHG zur Entscheidung an einen um drei Richter verstärkten Kammersenat herangetragen. Davon wurde der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 9. November 2012 in Kenntnis gesetzt; zugleich übermittelte der Asylgerichtshof auch Länderdokumentationsmaterial zur Lage im Irak und gab dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Abgabe einer Stellungnahme innerhalb von zwei Wochen.

1.6. In seinen Stellungnahmen vom 5. Dezember 2012 und vom 1. März 2013 verwies der Beschwerdeführer im Wesentlichen auf seinen ununterbrochenen, sieben Jahre währenden Aufenthalt im Bundesgebiet, seine Integration in Österreich und seine Unbescholtenheit. Zudem brachte er vor, am 20. November 2012 seine österreichische Lebensgefährtin nach muslimischem Ritus geheiratet zu haben und mit ihr ein harmonisches Familienleben zu führen. Die Sicherheitslage im Irak stelle sich nach wie vor als äußerst prekär dar; eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Nordirak komme für den Beschwerdeführer auf Grund der Konflikte mit der Familie seines Onkels nicht in Frage. Darüber hinaus verwies der Beschwerdeführer auf einen Bericht des Schweizer Bundesamts für Migration, demzufolge es nach wie vor zahlreiche Ehrenmorde in den Kurdengebieten des Irak gebe. Einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Kammersenat stellte der Beschwerdeführer nicht.

2. Mit der angefochtenen – durch den nach §11 Abs4 AsylGHG zusammengetretenen Kammersenat getroffenen – Entscheidung wies der Asylgerichtshof die Beschwerde "hinsichtlich Spruchpunkt I und II gemäß §§7, 8 Abs1 AsylG 1997 idgF sowie hinsichtlich Spruchpunkt III gemäß §10 Abs1 Z2 AsylG 2005 idgF als unbegründet" ab. Der Asylgerichtshof ging dabei von der Unglaubwürdigkeit der Ausführungen des Beschwerdeführers aus, weil seine Angaben in seinem Asylverfahren vollkommen widersprüchlich seien. Auch seien keine außergewöhnlichen Umstände ersichtlich, die einer Rückverbringung des Beschwerdeführers in den Irak im Lichte des Art3 EMRK entgegenstünden. Als jungem und arbeitsfähigem Mann sei es ihm möglich und zumutbar, sich durch eine Erwerbstätigkeit seinen Unterhalt zu sichern; im Übrigen verfüge er im Irak auch über ein Netz familiärer Angehöriger. Im Rahmen der Begründung der Ausweisung hielt der Asylgerichtshof hinsichtlich der Verehelichung des Beschwerdeführers nach muslimischem Ritus fest, dass er noch im November 2011 angegeben habe, in keiner Beziehung zu leben. Der Beschwerdeführer habe zuletzt zwar vorgebracht, mit seiner Lebensgefährtin zusammen zu leben, doch habe sich aus einer Abfrage im Zentralen Melderegister kein gemeinsamer Wohnsitz der beiden ergeben. Außerdem habe sich der Beschwerdeführer bei Eingehen seiner Beziehung seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein müssen. Zwar beherrsche der Beschwerdeführer die deutsche Sprache auf sehr gutem Niveau und pflege auch Freundschaften zu österreichischen Staatsbürgern, er habe jedoch nach wie vor Bindungen zu seinem Herkunftsstaat, wo er den Großteil seines Lebens verbracht habe. Überdies gehe er in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nach. Die im Sinne des Art8 Abs2 EMRK vorzunehmende Interessenabwägung falle somit zu Ungunsten des Beschwerdeführers aus.

3. In der gegen diese – ohne (weitere) mündliche Verhandlung vor dem Kammersenat ergangene – Entscheidung "gemäß Art144 B-VG" erhobenen Beschwerde wird die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte nach Art2, 3 und 8 EMRK, Art2, 3, 4, 7, 18, 19, 20 und 47 GRC sowie auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt. Unter einem macht der Beschwerdeführer die Verfassungswidrigkeit des §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG geltend, weil der Umstand, dass dem Kammersenat die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nur auf Antrag des Beschwerdeführers möglich sei, dem Unmittelbarkeitsgrundsatz nach Art6 EMRK bzw. Art47 GRC widerspreche. Es sei auch unsachlich, dass der Asylgerichtshof nicht einmal amtswegig eine mündliche Verhandlung wiederholen könne, wenn er dies für geboten erachte. Gerade in Fällen, in denen die beiden Richter eines Senates trotz der in einer mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrücke zu keiner einhelligen Entscheidung gefunden haben, erscheine die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Kammersenat geboten. Insoweit regte der Beschwerdeführer die Einleitung eines Gesetzesprüfungsverfahrens und Aufhebung des §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG wegen Verfassungswidrigkeit an.

4. Aus Anlass dieser Beschwerde leitete der Verfassungsgerichtshof am 24. September 2013 gemäß Art140 Abs1 B-VG von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG, BGBl I 4/2008, ein. Mit Erkenntnis vom 27. Februar 2014, G86/2013, wurde festgestellt, dass die genannte Bestimmung, welche mit 1. Jänner 2014 außer Kraft trat, verfassungswidrig war.

II. Erwägungen

1. Die Beschwerde ist begründet.

Der Asylgerichtshof hat die als verfassungswidrig erkannte Gesetzesbestimmung des §11 Abs4 letzter Satz AsylGHG, BGBl I 4/2008, angewendet. Es ist nach Lage des Falles nicht ausgeschlossen, dass ihre Anwendung für die Rechtsstellung des Beschwerdeführers nachteilig war.

2. Der Beschwerdeführer wurde somit durch die angefochtene Entscheidung wegen Anwendung einer verfassungswidrigen Gesetzesbestimmung in seinen Rechten verletzt (ständige Rechtsprechung beginnend mit VfSlg 10.404/1985).

III. Ergebnis und damit zusammenhängende Ausführungen

1. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen war.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von € 436,– enthalten.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 Z3 VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

VfGH / Anlassfall

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2014:U771.2013

Zuletzt aktualisiert am

19.03.2014
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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