RS Vfgh 2013/10/3 SV1/2013

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Veröffentlicht am 03.10.2013
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Index

59/04 EU - EWR

Norm

Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS) Art2, Art3, Art5, Art7, Art8
B-VG Art9 Abs2
B-VG Art13 Abs2
B-VG Art20 Abs1
B-VG Art23e Abs3
B-VG Art44
B-VG Art50 Abs1 Z1, Z2, Abs4
B-VG Art69 Abs1
B-VG Art140a
B-VG Art140 Abs1 / Prüfungsumfang
VfGG §15 Abs2
AEUV Art126 Abs6, Art238 Abs3 lita

Leitsatz

Teils Zurück-, teils Abweisung eines Drittelantrags von Nationalratsabgeordneten auf Feststellung der Rechtswidrigkeit von Bestimmungen des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion ("Fiskalpakt"); keine Änderung der vertraglichen Grundlagen der EU durch diesen völkerrechtlichen Vertrag außerhalb des Unionsrechts; staatsvertragliche Festlegung des Stimmverhaltens eines Bundesministers in einem internationalen Organ verfassungsrechtlich zulässig; keine verfassungswidrige Übertragung von Hoheitsrechten auf Organe der Europäischen Union; Zurückweisung des Antrags hinsichtlich der festgelegten Defizitgrenze als zu eng im Hinblick auf die geltend gemachten Bedenken der Beschränkung der Budgethoheit; Unzulässigkeit auch des unter einer Bedingung gestellten Eventualantrags auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des gesamten Vertrags

Rechtssatz

Zurückweisung des Antrags auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des Art3 Abs1 litb des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion (VSKS), BGBl III 17/2013, betr die Verpflichtung zu Einhaltung einer Defizitgrenze von max 0,5 % des Bruttoinlandsprodukts, als zu eng vor dem Hintergrund der geltend gemachten Bedenken (Verstoß gegen Art13 Abs2 B-VG wegen Einschränkung der Budgethoheit der Gebietskörperschaften).

Die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Art3 Abs1 litb VSKS hätte zur Folge, dass die zuständigen österreichischen Organe weiterhin Art3 Abs1 lita VSKS anzuwenden hätten, wonach der gesamtstaatliche Haushalt einer Vertragspartei ausgeglichen ist oder einen Überschuss aufweist.

Die Wortinterpretation des Wortes "ausgeglichen" und der Inhalt der übrigen Bestimmungen des Abs1 des Art3 VSKS sprechen dafür, dass unter einem "ausgeglichenen Haushalt" ein solcher ohne Defizit zu verstehen ist.

Entscheidender ist aber der Verweis des Einleitungssatzes des Abs1 auf die "sich aus dem Recht der Europäischen Union ergebenden Verpflichtungen". In Art2a der VO (EG) 1466/97 über den Ausbau der haushaltspolitischen Überwachung und der Überwachung und Koordinierung der Wirtschaftspolitiken idF VO (EU) 1175/2011, also in der durch das sog "six-pack" des Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts (SWP) geänderten Fassung, wird mit "ausgeglichen" ein Haushalt gemeint, der weder ein Defizit noch einen Überschuss aufweist.

Die verbleibende, von den vollziehenden Organen anzuwendende Rechtslage verstieße daher aus genau den gleichen Gründen gegen Art13 Abs2 B-VG; der Haushaltsspielraum der österreichischen Gebietskörperschaften wäre sogar noch geringer.

Auch der für den Fall, dass der VfGH zum Ergebnis gelangt, dass der VSKS unter analoger Anwendung von Art50 Abs1 Z2 iVm Abs4 B-VG genehmigt hätte werden müssen, gestellte Antrag, die Rechtswidrigkeit des gesamten VSKS festzustellen, wird zurückgewiesen.

Dabei handelt es sich nicht um einen - nach herrschender Auffassung an sich zulässigen - Eventualantrag, der an ein Hauptbegehren anknüpft, sondern um ein Begehren, das nur dann als erhoben gelten soll, wenn der VfGH zu einer der Bedingung entsprechenden Rechtsmeinung gelangen sollte. Ein bedingter Antrag dieser Art ist jedoch, weil ihm ein "bestimmtes Begehren" iSd §15 Abs2 VfGG fehlt, unzulässig.

Abweisung des - zulässigen - Antrags auf Feststellung der Rechtswidrigkeit von Art2 Abs2, Art5, Art7 und Art8 VSKS.

Die gegen Art7 VSKS (betr die Verpflichtung der Vertragsparteien zur Unterstützung der Vorschläge der Kommission im Defizitverfahren) im Hinblick auf Art20 Abs1 iVm Art69 Abs1 B-VG vorgebrachten Bedenken (Weisungsbefugnis der Kommission gegenüber einem österreichischen Minister) treffen nicht zu.

Art7 VSKS lässt zunächst das Verfahren nach Art126 Abs6 AEUV unverändert. Es bedarf nach wie vor eines Beschlusses des Rates auf Vorschlag der Kommission nach den in Art126 Abs13 UAbs2 iVm Art238 Abs3 lita AEUV geregelten Beschlussfassungserfordernissen. Die rechtliche Verpflichtung der Vertragsparteien des VSKS, deren Währung der Euro ist, in einem solchen Fall einen Beschluss iSd Vorschlags der Kommission nach Art126 Abs6 AEUV zu fassen, liegt in Art7 Satz 1 VSKS begründet und steht unter der Bedingung des Art7 Satz 2 VSKS. Die Verpflichtung dieser Vertragsparteien - genauer: ihres jeweiligen Vertreters im Rat - zu einem bestimmten Stimmverhalten in einem Verfahren nach Art126 Abs6 AEUV beruht auf der völkervertraglichen Vereinbarung des Art7 VSKS. Damit bindet Art7 VSKS "die politische Entscheidungsfreiheit der Vertragspartner im Rat und stärkt damit rechtlich und faktisch den Einfluss der Europäischen Kommission im Defizitverfahren". Faktisch stärkt Art7 VSKS die Kommission, weil ihr Vorschlag nunmehr mit qualifizierter Mehrheit abgelehnt werden muss, soll er nicht nach Art126 Abs6 AEUV unter Beachtung von Art7 Satz 1 VSKS zum Beschluss erhoben werden; rechtlich stärkt Art7 VSKS die Stellung der Kommission im Verfahren nach Art126 Abs6 AEUV, weil diese Bestimmung eine völkervertragliche Verpflichtung der Euro-Mitgliedstaaten begründet, ihr Stimmverhalten im Rat nach Art126 Abs6 AEUV nach den Regeln des Art7 VSKS auszuüben. Der Rechtsgrund dafür liegt aber in der völkervertraglichen (Selbst-)Bindung der Euro-Mitgliedstaaten in Art7 VSKS und nicht darin, dass diese Bestimmung eine wie immer geartete Weisungs- oder Anordnungsbefugnis der Kommission gegenüber den Vertretern der Euro-Mitgliedstaaten im Rat begründen würde. Dass es verfassungsrechtlich zulässig ist, das Stimmverhalten eines Bundesministers in einem internationalen Organ durch staatsvertragliche Regelung zu determinieren, ist - auch von den antragstellenden Abgeordneten - nicht bestritten.

Art7 VSKS verstößt auch nicht gegen Art23e Abs3 B-VG (bindende Stellungnahme des Nationalrates). Wenn der Nationalrat durch Genehmigung einer entsprechenden staatsvertraglichen Bestimmung das Stimmverhalten des zuständigen Bundesministers im Rat der Europäischen Union determiniert, begründet er eine völkerrechtliche Verpflichtung gegenüber den anderen Staatsvertragsparteien, lässt aber Art23e Abs3 B-VG unberührt.

Art2 Abs2 VSKS, demzufolge der VSKS nur insoweit "gilt", als er unionsrechtskonform ist, trägt der alle Mitgliedstaaten des VSKS treffenden Verpflichtung, das Recht der Europäischen Union einzuhalten, ausdrücklich Rechnung. Darin liegt keine neuartige Zuständigkeit, sondern eine sowohl im Völkervertragsrecht wie auch im innerstaatlichen Recht übliche Regelungstechnik, Konflikte zwischen Normen, insbesondere aus unterschiedlichen Rechtsordnungen, zu vermeiden.

Der VfGH vermag nicht zu erkennen, dass die Aufnahme einer solchen salvatorischen Klausel in einen völkerrechtlichen Vertrag einer speziellen verfassungsrechtlichen Ermächtigung bedürfte. Selbst wenn man in Art2 Abs2 VSKS mehr als eine systematische Interpretationsregel und eine (Wiederholung der) Anordnung der - schon aus dem Unionsrecht folgenden - Loyalitätspflichten der Mitgliedstaaten gegenüber der Europäischen Union erblicken und im Hinblick auf unionsrechtswidrige Bestimmungen des VSKS darin eine (wie immer geartete) "Derogationsregel" sehen wollte, unterscheidet sich Art2 Abs2 VSKS sowohl quantitativ wie qualitativ wesentlich von der im Wege des Beitritts zur Europäischen Union erfolgten Übernahme insbesondere auch des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts in die österreichische Rechtsordnung. Derartig und vergleichbar begrenzte salvatorische Klauseln, wie sie Art2 Abs2 VSKS enthält, sind innerstaatlich auf einfachgesetzlicher Stufe begründbar.

Art9 Abs2 B-VG, wonach durch einen gemäß Art50 Abs1 B-VG genehmigten Staatsvertrag einzelne Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen werden können, hat als Regelfall die Übertragung von Hoheitsrechten durch einen völkerrechtlichen Vertrag vor Augen. Art9 Abs2 B-VG bezieht sich insoweit also auf Staatsverträge iSd Art50 Abs1 Z1 B-VG. Dass Art9 Abs2 B-VG und seine Schranken für die Übertragung von Hoheitsrechten nicht auch für Staatsverträge gemäß Art50 Abs1 Z2 B-VG gelten, durch die die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union geändert werden, ergibt sich unstrittig aus der historischen Intention und aus Sinn und Zweck der Neuregelung des Art50 Abs1 Z2 iVm Abs4 B-VG durch die B-VG-Novelle BGBl I 2/2008, mit dem genannten Regelungssystem allgemein eine verfassungsrechtliche Grundlage für den Abschluss von Änderungen von vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union zu schaffen, die die Genehmigung solcher Verträge jedenfalls den für Verfassungsänderungen erforderlichen Beschlussquoren unterwirft.

Beim VSKS handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag außerhalb des Unionsrechts, und damit nicht um einen Vertrag, mit dem die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union geändert werden. Ein auch nach Auffassung der antragstellenden Abgeordneten wie der Bundesregierung "außerhalb des EU-Rechtsrahmens" stehender völkerrechtlicher Vertrag zwischen mehreren aber nicht allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist keine Änderung der "vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union" im formellen Sinn des Art50 Abs1 Z2 B-VG. Durch Bestimmungen des VSKS werden Organen der Europäischen Union auch keine unionsrechtlichen Befugnisse (mit allen Rechtswirkungen des Unionsrechts) übertragen, sondern aus dem VSKS abgeleitete völkervertragliche Hoheitsrechte (völkerrechtlich gesehen handelt es sich also um Fälle einer Organleihe).

Art50 Abs1 Z2 B-VG steht daher für die Genehmigung eines Staatsvertrags wie des VSKS nicht zur Verfügung.

Art50 Abs1 Z2 iVm Abs4 B-VG hat aber auch den Inhalt des Art9 Abs2 B-VG nicht dahingehend verändert, dass es nunmehr ausgeschlossen wäre, dass die Republik Österreich auf Basis des geltenden Bundesverfassungsrechts einen völkerrechtlichen Vertrag abschließt, mit dem einzelne Hoheitsrechte, deren Bedeutung sich (ausschließlich) aus dem zugrunde liegenden völkerrechtlichen Vertrag ergibt, auf Organe der Europäischen Union wie auf jede andere zwischenstaatliche Einrichtung übertragen werden.

Vielmehr ist erstens auf die aus Art50 Abs1 Z1 B-VG folgenden Schranken abzustellen, dass durch den Staatsvertrag, mit dem Hoheitsrechte übertragen werden, nicht gegen bundesverfassungsrechtliche Bestimmungen verstoßen werden darf, und zweitens auf jene, die sich aus Art9 Abs2 B-VG für das in quantitativer wie qualitativer Hinsicht zulässige Maß der Übertragung von Hoheitsrechten durch völkerrechtlichen Vertrag ergeben. Art9 Abs2 B-VG stellt dabei auf die auf seiner Grundlage übertragenen Hoheitsrechte ab, sodass für die Beurteilung der aus dieser Verfassungsbestimmung folgenden Schranken für die Übertragung von Hoheitsrechten jene außer Betracht bleiben, die auf besonderer verfassungsrechtlicher Grundlage durch Unionsvertragsrecht auf die Europäische Union übertragen sind.

Aus Sicht des Art9 Abs2 B-VG bestehen gegen die in Art8 Abs1 und Abs2 VSKS dem Gerichtshof der Europäischen Union übertragenen Zuständigkeiten keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

Keine verfassungsrechtlich unzulässige Übertragung von Hoheitsrechten auf die Kommission durch Art5 oder Art8 Abs1 VSKS.

Selbst wenn man in dem Umstand, dass eine Feststellung in einem Bericht der Kommission nach Art8 Abs1 VSKS (dass eine Vertragspartei ihrer Verpflichtung aus Art3 Abs2 VSKS nicht nachgekommen sei) die Verpflichtung der Vertragsparteien auslöst, ein entsprechendes Verfahren beim Gerichtshof der Europäischen Union in Gang zu setzen, die Übertragung eines Hoheitsrechts sieht, handelt es sich dabei um die Übertragung eines solchen, die durch Art9 Abs2 B-VG gedeckt ist.

Auch wenn Art5 VSKS eine eigenständige Rechtsgrundlage dafür enthält, dass die Kommission die von den Mitgliedstaaten aufzulegenden Haushalts- und Wirtschaftspartnerschaftsprogramme genehmigt, handelt es sich dabei um die völkerrechtliche Übertragung von Hoheitsrechten durch Art5 VSKS auf die Kommission, die grundsätzlich auf Art9 Abs2 B-VG gestützt werden kann. Bedenken ob eines Überschreitens inhaltlicher Schranken des Art9 Abs2 B-VG in qualitativer oder quantitativer Hinsicht bringen die antragstellenden Abgeordneten nicht vor.

Die der Kommission durch Art5 VSKS übertragenen Befugnisse verstoßen auch nicht gegen Art13 Abs2 B-VG. Diese Verfassungsbestimmung lässt den für die Haushaltsführung zuständigen Organen von Bund, Ländern und Gemeinden breiten Raum, wie diese im Rahmen ihrer Zuständigkeiten und Verantwortung den Zielvorgaben, die Sicherstellung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts und nachhaltig geordnete Haushalte anzustreben, Rechnung tragen. Insbesondere steht es den Organen von Bund, Ländern und Gemeinden dabei auch offen, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten rechtlich verbindliche Regelungen zu treffen, die (auch) die Zielvorgaben des Art13 Abs2 B-VG näher konkretisieren. Art13 Abs2 B-VG ist nicht zu entnehmen, dass eine Konkretisierung, wie die zuständigen Organe den Zielvorgaben dieser Verfassungsbestimmung Rechnung tragen sollen, nur durch Bundesverfassungsrecht (oder Unionsrecht), nicht aber durch einfaches Gesetz oder durch völkerrechtlichen Vertrag möglich sein soll. Dass damit dem "einfachen Gesetzgeber" die Befugnis zukommt, oft auch weitreichende Festlegungen im Hinblick auf die in Art13 Abs2 B-VG vorgegebenen Ziele zu treffen, ist im demokratisch-parlamentarischen System des B-VG seine politische Gestaltungsaufgabe und nicht allein einer "Verfassungsmehrheit" vorbehalten.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Staatsverträge, EU-Recht, Völkerrecht, VfGH / Staatsvertragsprüfung, VfGH / Prüfungsumfang, VfGH / Formerfordernisse, Eventualantrag

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2013:SV1.2013

Zuletzt aktualisiert am

29.12.2014
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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