TE Vfgh Erkenntnis 2013/10/3 U642/2012

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Veröffentlicht am 03.10.2013
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
EU-Grundrechte-Charta Art47 Abs2
AsylG 2005 §3, §8, §10, §41 Abs7

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander sowie im Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht durch Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz und Ausweisung der - aus Tschetschenien stammenden Beschwerdeführerin - in die Russische Föderation mangels nachvollziehbarer Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin sowie infolge Unterlassung der Durchführung einer mündlichen Verhandlung

Spruch

I.              Die Beschwerdeführerin ist durch die angefochtene Entscheidung in dem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973) sowie im Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht (Art47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) verletzt worden.

Die Entscheidung wird aufgehoben.

II.              Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit € 2.620,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Die Beschwerdeführerin ist Staatsbürgerin der Russischen Föderation und stammt aus Tschetschenien. Dem Bruder der Beschwerdeführerin mit dem Vornamen Ismail wurde mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates (UBAS) vom 11. September 2007 in Österreich Asyl gewährt. In der Begründung dieses Bescheides wird festgestellt, dass der Bruder Ende 2003 und Ende 2004 jeweils durch russische Sicherheitskräfte und Anhänger des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow wegen der ihm unterstellten Nähe zu Widerstandskämpfern verschleppt, festgehalten und dabei erheblich gefoltert worden sei. Daraus schloss der UBAS in der rechtlichen Begründung auf eine objektiv nachvollziehbare Verfolgungsgefahr. Da der Bruder bereits bekannt und konkret in das Blickfeld der Behörden gelangt sei, sei er besonders gefährdet, im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Säuberungsaktionen russischer und prorussischer Kräfte aufgegriffen zu werden.

2. Die Beschwerdeführerin reiste am 11. Dezember 2010 nach Österreich ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der sogleich durchgeführten Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes verwies die Beschwerdeführerin auf ihren seit 2005 in Österreich lebenden Bruder, der im zweiten Tschetschenienkrieg gegen die Regierung gekämpft habe und deshalb in Tschetschenien gesucht werde. Die Beschwerdeführerin sei wegen der Flucht des Bruders verfolgt und festgenommen worden. Nachdem vor kurzem in Zenteroi (dem Heimatort des tschetschenischen Präsidenten Kadyrow) ein Anschlag verübt wurde, suche die Regierung nach den Tätern und die Beschwerdeführerin sei abermals aufgesucht worden. Ihr sei mitgeteilt worden, dass sie festgenommen werden würde, falls ihr Bruder nicht zurückkehre. Daraufhin sei sie geflüchtet.

3. Am 27. Mai 2011 wurde die Beschwerdeführerin vom Bundesasylamt (BAA) zu ihren Fluchtgründen einvernommen. Dabei schilderte die Beschwerdeführerin detailliert einen ersten Vorfall, von dem sie laut Einvernahmeprotokoll zunächst angab, er habe sich im Februar 2006 ereignet. Dabei seien maskierte Personen in ihr Haus gekommen, die nach Ismail gesucht hätten. Nachdem sie diesen nicht fanden, hätten sie stattdessen den anderen Bruder Israil mitgenommen. Als die Beschwerdeführerin dies verhindern wollte, sei sie mit den Händen und einem Gewehrkolben geschlagen worden. Sie habe dabei ein blaues Auge davongetragen und aus dem linken Ohr geblutet. Sie sei daraufhin vierzehn Tage lang wegen einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus gelegen. Zum Beweis legte die Beschwerdeführerin den Entlassungsbericht des Krankenhauses sowie ein Foto vor, welches sie mit dem blauen Auge zeigt. Dieses sei von ihrer Schwester am 27. Juni 2006 angefertigt worden.

Drei Tage nach dem Vorfall sei Israil wieder aus der Haft entlassen worden, nachdem die Familie USD 1.500,– gesammelt hätte. Danach seien vier- bis fünfmal im Jahr Leute, zum Teil maskiert, zum Teil auch in zivil, ins Haus der Familie gekommen. Diese hätten ihr mitgeteilt, dass sie mitgenommen würde, wenn ihr Bruder nicht zurückkehre.

Ende August 2010 sei es zu dem Anschlag in Zenteroi gekommen. Dieser Ort liege in der Nähe des Heimatortes der Beschwerdeführerin. Viele Personen, einige in ziviler Kleidung und einige uniformiert, seien Anfang September von Haus zu Haus gegangen. Ihr sei wieder mitgeteilt worden, dass man sie mitnehmen würde, wenn ihr Bruder nicht zurückkomme.

Am 2. September 2010 sei die Nachbarstochter mit ihrem kleinen Kind zu ihr gekommen und habe bei ihr übernachtet. Diese habe nicht in ihr Haus gehen können, weil sie mit einem Widerstandskämpfer verheiratet sei und von Kadyrow gesucht werde. Am nächsten Morgen sei diese über den Grenzfluss, an dem das Haus der Beschwerdeführerin liegt, nach Dagestan geflüchtet. Daraufhin sei die Beschwerdeführerin nach Astrachan zu ihrer Halbschwester gefahren und habe sich bis Dezember 2010 dort aufgehalten. Dann sei sie geflüchtet. Einmal sei sie vor der Flucht noch zu ihrem Haus zurückgekehrt und habe erfahren, dass sie zweimal gesucht worden sei.

Auf die Frage, was sie im Falle ihrer Rückkehr befürchte, gab die Beschwerdeführerin an, sie würde zumindest "mitgenommen" werden. Über Vorhalt, dass dies bisher noch nicht geschehen sei, gab sie an, sie sei im August 2007 in ihrem Heimatort in die Militärzone mitgenommen und über ihren Bruder befragt worden.

Am Ende der Einvernahme wurde die Niederschrift der Beschwerdeführerin rückübersetzt und ihr Gelegenheit gegeben, noch etwas richtig zu stellen oder hinzuzufügen. Davon machte die Beschwerdeführerin Gebrauch und gab an, dass im Februar 2006 zunächst nur Leute gekommen seien und nach dem Bruder gefragt hätten. Der Vorfall, bei dem sie geschlagen worden sei, habe sich erst im Juni ereignet.

4. Mit Bescheid des BAA vom 9. September 2011 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch der subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen und sie in die Russische Föderation ausgewiesen. Das BAA erachtete das Vorbringen der Beschwerdeführerin zu ihren Fluchtgründen als unglaubwürdig. Die Beschwerdeführerin habe sich hinsichtlich der Anzahl der Suchen nach ihrem Bruder, bei denen sie zu Hause gewesen sei, innerhalb der Befragung am 27. Mai 2011 selbst widersprochen, indem sie zunächst von zweimal und dann von dreimal gesprochen hätte. Widersprüchlich sei auch das Vorbringen zu ihrem blauen Auge, das ihr nach ihren Angaben im Jänner 2006 anlässlich der Festnahme des Bruders Israil zugefügt worden sei, das aber von ihrer Schwester erst am 27. Juni 2006 fotografiert worden sei. Schließlich sei auch die behauptete Übernachtung der Nachbarin unglaubwürdig, weil im Falle einer Fahndung nach dieser wohl auch Nachschau in den Nachbarhäusern gehalten worden wäre. Weiters sei es nicht plausibel, dass die Nachbarin ausgerechnet das Haus der Beschwerdeführerin ausgewählt bzw. letztere die Übernachtung zugelassen hätte, weil ja dort auch nach dem Bruder gesucht worden wäre. Soweit die Beschwerdeführerin von einer staatlichen Fahndung nach einem möglichen Täter eines Anschlages in Mitleidenschaft gezogen worden sei, sei diese nicht konkret gegen sie gerichtet gewesen. Weiters habe sie nicht eine solche Intensität glaubhaft machen können, dass damit ein weiterer Verbleib im Heimatland unzumutbar geworden wäre. Selbst wenn die Beschwerdeführerin die staatlichen Organe an der Mitnahme ihres Bruders gehindert hätte, so könne dies nicht als Verfolgung der Beschwerdeführerin gewertet werden, weil die Organe damit nur den Vollzug ihrer Amtshandlung sichern hätten wollen.

5. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde an den Asylgerichtshof, in welcher sie ihr Vorbringen nochmals wiederholte und die vom BAA in ihren Angaben verorteten Widersprüche zu entkräften versuchte. Sie erstattete auch ein ergänzendes Vorbringen. Der Beschwerde war insbesondere ein psychiatrischer Befund vom 12. Mai 2011 beigegeben, in dem bei der Beschwerdeführerin eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert wurde. Darin wird zur "Vorgeschichte" ausgeführt, die Beschwerdeführerin sei zu Hause verfolgt, bedroht und geschlagen worden. In Österreich fühle sie sich erleichtert und könne wieder frei atmen. Dennoch leide sie an Schlaflosigkeit und wache immer wieder in Panik auf und habe das Gefühl, sie sei gerade misshandelt worden.

6. Mit der angefochtenen Entscheidung wies der Asylgerichtshof die Beschwerde als unbegründet ab. In der Begründung der Entscheidung geht der Asylgerichtshof zunächst vom Feststehen der Identität der Beschwerdeführerin aus, die durch unbedenkliche Dokumente nachgewiesen worden sei. Er trifft weiters Länderfeststellungen zu Tschetschenien, in denen unter anderem Folgendes ausgeführt ist:

"[…]

1. Allgemeine Sicherheitssituation

Präsident Ramzan Kadyrow hat in Tschetschenien ein repressives, stark auf seine Person zugeschnittenes Regime etabliert, was die Betätigungsmöglichkeiten für die Zivilgesellschaft auf ein Minimum reduziert. […] Nach zwei Jahren mit deutlichen Fortschritten sowohl bei der Sicherheit als auch bei der Menschenrechtslage hatte sich die Situation in beiden Bereichen in den Jahren 2008 und 2009 insgesamt wieder verschlechtert. Berichtet wurde von verstärktem Zulauf zu den in der Republik aktiven Rebellengruppen und erhöhter Anschlagstätigkeit. Im gesamten Nordkaukasus soll es nach Angaben des FSB 600 bis 700 aktive Rebellen geben. Nach glaubhaften Angaben von Menschenrechts-NROs reagierten die Behörden in einigen Fällen mit dem Abbrennen der Wohnhäuser der Familien von Personen, die sich den Rebellen angeschlossen haben. Die Entführungszahlen stiegen wieder an: Memorial hat 74 Entführungsfälle für die erste Jahreshälfte 2009 registriert (im Gesamtjahr 2008 waren es im Vergleich 42). Die Entführungen wurden größtenteils den (vor allem republikinternen) Sicherheitskräften zugeschrieben. Weiterhin werden zahlreiche Fälle von Folter gemeldet. Unter Anwendung von Folter erlangte Geständnisse werden (nach Informationen von Memorial) – auch außerhalb Tschetscheniens – regelmäßig in Gerichtsverfahren als Grundlage von Verurteilungen genutzt.

(Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 04.04.2010, Seite 18)

[…]

Seit Jahresbeginn 2010 ist es in Tschetschenien jedoch zu einem spürbaren Rückgang von Rebellen-Aktivitäten gekommen. Diese werden durch Anti-Terror Operationen in den Gebirgsregionen massiv unter Druck gesetzt, was teilweise ein Ausweichen der Kämpfer in die Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien bewirkt. Die Macht von Ramzan Kadyrow ist in Tschetschenien unumstritten. […]

(Asylländerbericht Russland der Österreichischen Botschaft in Moskau, Stand 21.10.2010, Seite 15)

[…]

Wenngleich sich die Sicherheitslage im Sinne dessen, dass keine großflächigen Kampfhandlungen stattfinden und es zu keiner Vertreibung der Zivilbevölkerung kommt, stabilisiert hat, so zeigt sich also, dass dies nicht zuletzt auf die repressive Machtausübung Ramzan Kadyrows und seiner Sicherheitskräfte zurückzuführen ist. Das teilweise brutale und in einigen Fällen als menschenrechtswidrig zu bezeichnende Vorgehen der Sicherheitskräfte (für das diese kaum belangt werden) bringt zwar auch Resultate mit sich, da immer wieder auch führende Kämpfer „neutralisiert“, also getötet oder verhaftet werden. Dadurch konnte die Sicherheitslage in Tschetschenien weitgehend stabilisiert werden. […]

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 4-5)

2. Verfolgungsgefahr

[…]

2.2. Die Rebellen

[…]

Verfolgungshandlungen von Unterstützern der Kämpfer im zweiten Tschetschenienkrieg können eher vorkommen als bei Unterstützern der Kämpfer des ersten Krieges, wo eine Verfolgung heutzutage eher auszuschließen ist. Entscheidend für eine Verfolgung ist, wie aktiv ein Kämpfer tatsächlich involviert war oder gegebenenfalls immer noch ist. Sowohl bei den Unterstützern des Widerstands im ersten und zweiten Tschetschenienkrieg vor 2005 sind einzelne Verfolgungshandlungen jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen. Familienmitglieder und Unterstützer von derzeit aktiven Rebellen sind, sofern sie als solche bekannt sind, sicherlich einer Bedrohung durch staatliche Organe ausgesetzt. Fälle strafrechtlicher Verfolgung von Unterstützern von Rebellen sind bekannt. Die ergriffenen Maßnahmen wie etwa Hausniederbrennungen finden nicht offiziell statt, werden aber geduldet, wenn nicht sogar durch Aussagen hoher Regierungsbehörden bis hin zu Präsident Kadyrow informell gefördert.

(Analyse der Staatendokumentation, Tschetschenien – Gefährdungseinschätzung: Menschenrechtsaktivisten und Unterstützer (von ehemaligen) Widerstandskämpfern vom 09.09.2009, Seite 13 und 14)

Eine weitere Strategie, Rebellen zu bekämpfen, besteht darin, Angehörige vermeintlicher Rebellen unter Druck zu setzen, um diese zur Aufgabe zu bewegen. Nachdem dieses Vorgehen Menschenrechtsorganisationen zufolge in den letzten Jahren zurückgegangen war, wird seit 2008 wieder vermehrt über solche Repressalien berichtet. So etwa dokumentierte die NRO Human Rights Watch zwischen Juli 2008 und Juli 2009 über zwei Dutzend Fälle, bei denen tschetschenische Sicherheitskräfte Häuser von Familien angeblicher Untergrundkämpfer angezündet haben - als Strafe dafür, dass ein Sohn oder Enkel Widerstandskämpfer sei. Seit Sommer 2009 erhielt Human Rights Watch weitere Berichte über Haus-Niederbrennungen, zuletzt im März 2010 in Schali. Hochrangige lokale Politiker wie Ramzan Kadyrow oder der Bürgermeister von Grosny Muslim Chutschijew sprachen sich explizit für diese Art der kollektiven Bestrafung aus. […]

(Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation: Sicherheitslage in Tschetschenien vom 12.10.2010, Seite 12)

[…]"

Im Anschluss daran fasst der Asylgerichtshof das Vorbringen der Beschwerdeführerin vor dem BAA nochmals zusammen und lässt es zunächst offen, ob er die behauptete Verhaftung des Bruders Ismail, bei der die Beschwerdeführerin verletzt wurde, als erwiesen annimmt. Wie schon das BAA verweist der Asylgerichtshof vielmehr darauf, dass der Übergriff nach dem Vorbringen der Beschwerdeführerin gar nicht gegen diese gerichtet gewesen sei. Dies werde auch durch den Umstand untermauert, dass die Beschwerdeführerin noch Jahre in ihrem Herkunftsstaat verblieb und sich offenbar keiner so konkreten und dringlichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt fühlte, dass sie sich zur sofortigen Ausreise veranlasst gesehen hätte. In weiterer Folge geht der Asylgerichtshof von der Unglaubwürdigkeit des von der Beschwerdeführerin erst in ihrer Beschwerde erstatteten zusätzlichen Vorbringens (Verschleppung, Misshandlung und Vergewaltigung einer Nachbarin, die nach dem Bruder Israil gefragt worden sei, sowie Verfolgung auf Grund der Art, sich zu kleiden) aus. Auch hinsichtlich der Nachbarin, die die Beschwerdeführerin für eine Nacht bei sich beherbergt haben will, folgt der Asylgerichtshof dem BAA und erachtet dies als unglaubwürdig. Weiters weist er darauf hin, dass zwei Brüder und eine Schwester in Tschetschenien nach wie vor offenbar unbehelligt leben würden. Dies mache ein mit einer aktuellen Gefährdung verbundenes behördliches Interesse auf Grund der Widerstandstätigkeit des 2005 nach Österreich geflüchteten Bruders Ismail unwahrscheinlich. Schließlich weist der Asylgerichtshof ebenso wie das BAA auf den Widerspruch hinsichtlich des Aufnahmedatums des Fotos hin, das die Beschwerdeführerin mit dem blauen Auge zeigt.

In seiner rechtlichen Beurteilung sieht der Asylgerichtshof im Hinblick auf die fehlende Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl nicht als erfüllt an. In weiterer Folge geht er davon aus, dass selbst bei hypothetischer Zugrundelegung des Vorbringens diesem keine Asylrelevanz zukomme. Diesem sei nämlich keine mit dem Zeitpunkt der Ausreise der Beschwerdeführerin im Zusammenhang stehende, konkret und gezielt gegen ihre Person gerichtete Verfolgung maßgeblicher Intensität zu entnehmen. Die Beschwerdeführerin habe lediglich von einer Mitnahme in die Militärzone mit anschließender Befragung gesprochen, danach sei sie aber wieder frei gelassen worden. Ansonsten sei die Beschwerdeführerin niemals tatsächlich mitgenommen sondern ihr dies immer nur angedroht worden. Auch der Vorfall, bei dem die Beschwerdeführerin bei der Verhaftung des Bruders einen Schlag mit dem Gewehrkolben erhalten haben will, sei nach ihrem eigenen Vorbringen "einfach so geschehen" und nicht gegen sie gerichtet gewesen.

Auch die Abweisung des subsidiären Schutzes begründet der Asylgerichtshof – nach umfangreicher Wiedergabe von Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH) und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) – zunächst damit, dass die Beschwerdeführerin keine konkret drohende Verfolgung maßgeblicher Intensität glaubhaft zu machen vermochte. Weiters sei ihr im Hinblick auf ihre frühere Berufstätigkeit sowie nach wie vor in Tschetschenien bzw. Dagestan aufhältige Familienangehörige die notdürftigste Lebensgrundlage nicht entzogen. Die Krankheiten der Beschwerdeführerin seien nach den Länderfeststellungen auch in Tschetschenien behandelbar, sodass ihre Ausweisung dorthin jedenfalls nicht die Schwelle des Art3 EMRK überschreite.

Zur Ausweisung hält der Asylgerichtshof fest, dass die Beschwerdeführerin zwar mit ihrem als Flüchtling in Österreich anerkannten Bruder Ismail im gemeinsamen Haushalt lebe, dass jedoch kein über das übliche familiäre Ausmaß hinausgehendes Abhängigkeitsverhältnis zu diesem bestehe. Somit bestehe kein durch Art8 EMRK geschütztes Familienleben im Sinne der Rechtsprechung des EGMR bzw. des VwGH. Da sich die Beschwerdeführerin im Entscheidungszeitpunkt erst etwas mehr als ein Jahr in Österreich aufhalte, keine fortgeschrittene Integration aufweise (festgestellt wurde lediglich der Besuch eines Deutschkurses), in ihrer Heimat hingegen zahlreiche Verwandte leben würden und sie sich ihres unsicheren Aufenthaltes, der lediglich auf dem nunmehr abgewiesenen Antrag auf internationalen Schutz beruht hat, habe bewusst sein müssen, überwiege das öffentliche Interesse an ihrer Ausweisung auch ihr durch Art8 EMRK geschütztes Privateben.

Abschließend führt der Asylgerichtshof aus, dass sich aus der an ihn gerichteten Beschwerde kein neues bzw. ausreichend konkretes Tatsachenvorbringen hinsichtlich allfälliger sonstiger Fluchtgründe ergeben habe. Der Beweiswürdigung durch das BAA sei die Beschwerdeführerin nicht in hinreichend konkreter Weise entgegengetreten. Daher sei der Sachverhalt auf Grund der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen gewesen, sodass eine mündliche Verhandlung nach §41 Abs7 AsylG 2005 iVm §67d AVG habe unterbleiben können.

7. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144a B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, insbesondere im Recht auf Gleichheit von Fremden untereinander sowie im Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden, behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beantragt wird.

8. Der Asylgerichtshof legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift, in der er die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Rechtslage

1. Die §§3, 10 und 41 des Asylgesetzes 2005, BGBl I 100 idF BGBl 38/2011 lauten auszugsweise:

"Status des Asylberechtigten

§3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art1 Abschnitt A Z2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§2 Z23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

[…]

Verbindung mit der Ausweisung

§10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Ausweisung zu verbinden, wenn

[….]

2. der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird;

[…]

(2) Ausweisungen nach Abs1 sind unzulässig, wenn

[…]

2. diese eine Verletzung von Art8 EMRK darstellen würden. Dabei sind insbesondere zu berücksichtigen:

a) die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war;

b) das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens;

c) die Schutzwürdigkeit des Privatlebens;

d) der Grad der Integration;

e) die Bindungen zum Herkunftsstaat des Fremden;

f) die strafgerichtliche Unbescholtenheit;

g) Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts;

h) die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren;

i) die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

[…]

Verfahren vor dem Asylgerichtshof

§41. […]

(7) Eine mündliche Verhandlung kann unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt §67d AVG.

[…]"

2. Nach Art1 Abschnitt A Z2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), BGBl 55/1955 in der Fassung des Protokolls BGBl 78/1974, ist Flüchtling im Sinne dieses Abkommens, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

III. Erwägungen

1. Die Beschwerde ist zulässig.

2. Ein willkürliches Verhalten des Asylgerichtshofes, das eine Verletzung in dem durch ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, gewährleisteten subjektiven Recht auf Gleichheit von Fremden untereinander bedeutet, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Der Asylgerichtshof vermengt in der angefochtenen Entscheidung hinsichtlich der Frage der Intensität einer allfälligen Verfolgung der Beschwerdeführerin die Beurteilung ihrer Glaubwürdigkeit (also die Beweiswürdigung) mit der rechtlichen Beurteilung. Aus der angefochtenen Entscheidung wird somit nicht deutlich, ob der Asylgerichtshof die Angaben der Beschwerdeführerin gänzlich für unglaubwürdig erachtet oder aber die gegen die Beschwerdeführerin gerichteten Handlungen als nicht ausreichend intensiv im Sinne des §3 Abs1 AsylG 2005 iVm Art1 Abschnitt A Z2 GFK ansieht.

Der Asylgerichtshof hat dabei jedenfalls dem außer Streit stehenden Umstand, dass einem Bruder der Beschwerdeführerin wegen seiner – zumindest von den russischen Behörden angenommenen – Nähe zu tschetschenischen Widerstandskämpfern in Österreich 2007 Asyl gewährt wurde, im Zusammenhalt mit den Länderfeststellungen, in denen von Maßnahmen kollektiver Bestrafung der Angehörigen von (mutmaßlichen) Widerstandskämpfern die Rede ist, die von Regierungsseite geduldet werden, nicht hinreichend Beachtung geschenkt: Im Hinblick darauf scheint es nicht nachvollziehbar, wenn der Asylgerichtshof das Vorliegen einer wohlbegründeten Furcht vor Verfolgung als Fluchtmotiv der Beschwerdeführerin mit der Begründung verneint, es hätte noch kein "Übergriff" (gemeint wohl im Sinne einer Verschleppung) gegen die Beschwerdeführerin stattgefunden (vgl. VfGH 21.2.2013, U2669/2012). Ebenso ist es irrelevant, ob sonstige Geschwister der Beschwerdeführerin in Tschetschenien unbehelligt leben, was die Beschwerdeführerin im Übrigen vor dem BAA nicht vorgebracht hat. Thema der Einvernahme dort war nur die private bzw. berufliche Situation dieser Geschwister. Soweit der Asylgerichtshof die Unglaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin damit begründet, ihre Angaben, wonach der Schlag mit dem Gewehrkolben bereits im Februar 2006 erfolgt sei, das Foto, welches sie mit dem blauen Auge zeigt, jedoch erst im Juni 2006 aufgenommen worden sei, lässt er gänzlich außer Acht, dass die Beschwerdeführerin bereits im Zuge der Einvernahme bei der Rückübersetzung diesen Widerspruch erklärt und angegeben hat, im Februar 2006 habe bloß eine Suche nach dem Bruder, nicht jedoch die Auseinandersetzung mit den maskierten Personen stattgefunden, diese habe sich erst im Juni ereignet.

Somit liegt ein in mehrfacher Hinsicht willkürliches Verhalten des Asylgerichtshofes im Sinne der oben (Pkt. 2.) erörterten Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes vor.

4. Der Asylgerichtshof hat die Glaubwürdigkeit der Beschwerdeführerin großteils nur auf Grund ihres Vorbringens in erster Instanz beurteilt. Im Hinblick darauf, dass in der Beschwerde an den Asylgerichtshof wesentliches Tatsachenvorbringen erstattet wurde, welches die in erster Instanz durchgeführte Beweiswürdigung und die darauf gegründeten Tatsachenfeststellungen begründet in Frage stellt, lagen die in §41 Abs7 AsylG 2005 niedergelegten Voraussetzungen für das Absehen von einer mündlichen Verhandlung offenkundig nicht vor. Indem der Asylgerichtshof dennoch keine mündliche Verhandlung durchgeführt hat, hat er die Beschwerdeführerin außerdem im Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht nach Art47 Abs2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verletzt (vgl. VfGH 26.6.2013, U1257/2012 mwN).

5. Anzumerken ist darüber hinaus, dass die gemäß §10 Abs2 Z2 AsylG 2005 vorzunehmende Prüfung, ob eine Ausweisung eine Verletzung des Art8 EMRK darstellen würde, ausschließlich formelhaft erfolgt ist. Wenn der Asylgerichtshof davon ausgeht, dass die Beschwerdeführerin mit ihrem Bruder im gemeinsamen Haushalt lebt und daher ein Familienleben besteht, hätte er von Amts wegen zu ermitteln, wie dieses Familienleben konkret ausgestaltet ist und kann nicht nur deshalb annehmen, dieses gehe nicht über das übliche familiäre Ausmaß hinaus, weil die Beschwerdeführerin dazu nichts vorgebracht hat.

IV. Ergebnis

1. Die Beschwerdeführerin ist somit durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit von Fremden untereinander sowie im Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht verletzt worden.

2. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88a iVm §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 400,– sowie der Ersatz der Eingabengebühr in Höhe von € 220,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Ausweisung, Bescheidbegründung, Ermittlungsverfahren, EU-Recht, Verhandlung mündliche

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2013:U642.2012

Zuletzt aktualisiert am

07.11.2013
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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