TE Vfgh Erkenntnis 2013/9/17 U520/2013

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Veröffentlicht am 17.09.2013
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Index

41/02 Staatsbürgerschaft, Pass- und Melderecht, Fremdenrecht, Asylrecht

Norm

BVG-Rassendiskriminierung ArtI Abs1
Dublin II-VO des Rates vom 18.02.03, EG 343/2003 Art16, Art20
AsylG 2005 §5, §10

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander durch Zurückweisung des Asylantrags und Ausweisung eines russischen Staatsbürgers nach Polen mangels Wahrnehmung des sich aus der Dublin II-VO ergebenden Zuständigkeitsübergangs auf Österreich infolge nicht fristgerechter Überstellung des Antragstellers nach Zustimmung der polnischen Behörden zur Übernahme

Spruch

I.              Der Beschwerdeführer ist durch die angefochtene Entscheidung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander verletzt worden (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973).

Die Entscheidung wird aufgehoben.

II.              Der Bund (Bundeskanzler) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.616,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Am 24. Dezember 2009 stellte der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger der Russischen Föderation, erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Davor hatte er bereit in Polen und Frankreich entsprechende Anträge gestellt. Nachdem sich Polen bereit erklärt hatte den Beschwerdeführer wieder aufzunehmen, wurde der Antrag des Beschwerdeführers mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 9. Februar 2010 als unzulässig zurückgewiesen und der Beschwerdeführer nach Polen ausgewiesen. Eine gegen diesen Bescheid eingebrachte Beschwerde beim Asylgerichtshof wurde mit Entscheidung vom 29. Juni 2010 abgewiesen. Bereits am 23. Juni 2010 erfolgte die Überstellung des Beschwerdeführers nach Polen.

2. Am 15. Dezember 2010 reiste der Beschwerdeführer erneut nach Österreich ein und stellt einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 3. Jänner 2011 erklärte sich Polen wiederum bereit den Beschwerdeführer aufzunehmen. In der Folge wurde der Antrag des Beschwerdeführers mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 20. Mai 2011 zurückgewiesen und der Beschwerdeführer nach Polen ausgewiesen. Einer dagegen eingebrachten Beschwerde verlieh der Asylgerichtshof mit Beschluss vom 15. Juni 2011 aufschiebende Wirkung. Mit seiner Entscheidung vom 30. Juli 2012 hob der Asylgerichtshof den Bescheid des Bundesasylamtes mit der Begründung auf, dass sich dieses unzureichend mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers auseinandergesetzt habe. Diese Entscheidung wurde dem Beschwerdeführer am 2. August 2012 zugestellt.

3. Im weiteren Verfahren vor dem Bundesasylamt wurde der Beschwerdeführer zweimal, am 28. August und am 8. November 2012, einvernommen. Am 9. November 2012 wurde der Sohn des Beschwerdeführers in Österreich geboren. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 6. Dezember 2012 wurde der Antrag des Beschwerdeführers erneut als unzulässig zurückgewiesen und der Beschwerdeführer nach Polen ausgewiesen. Die rechtzeitig gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde an den Asylgerichtshof wies dieser mit Entscheidung vom 20. Februar 2013 ab.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144a B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen beantragt wird. Insbesondere macht der Beschwerdeführer geltend, dass Österreich zur Prüfung seines Asylantrages zuständig gewesen wäre und dass er durch die Ausweisung nach Polen dauerhaft von seiner in Österreich lebenden Familie getrennt würde.

5. Der Asylgerichtshof legte die Verwaltungs- und Gerichtsakten vor, verzichtete aber auf eine Gegenschrift und verwies auf die Begründung der angefochtenen Entscheidung.

II. Rechtslage

1. Die Verordnung (EG) Nr 343/2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, Abl. 2003 L 50, 1 idF Abl. 2008 L 304, 83 regelt in Art20 Folgendes:

"Artikel 20

(1) Gemäß Artikel 4 Absatz 5 und Artikel 16 Absatz 1 Buchstaben c), d) und e) wird ein Asylbewerber nach folgenden Modalitäten wieder aufgenommen:

a) das Wiederaufnahmegesuch muss Hinweise enthalten, aus denen der ersuchte Mitgliedstaat entnehmen kann, dass er zuständig ist;

b) der Mitgliedstaat, der um Wiederaufnahme des Asylbewerbers ersucht wird, muss die erforderlichen Überprüfungen vornehmen und den Antrag so rasch wie möglich und unter keinen Umstände später als einen Monat, nachdem er damit befasst wurde, beantworten. Stützt sich der Antrag auf Angaben aus dem Eurodac-System, verkürzt sich diese Frist auf zwei Wochen;

c) erteilt der ersuchte Mitgliedstaat innerhalb der Frist von einem Monat bzw. der Frist von zwei Wochen gemäß Buchstabe b) keine Antwort, so wird davon ausgegangen, dass er die Wiederaufnahme des Asylbewerbers akzeptiert;

d) ein Mitgliedstaat, der die Wiederaufnahme akzeptiert, muss den Asylbewerber in seinem Hoheitsgebiet wieder aufnehmen. Die Überstellung erfolgt gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies materiell möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Antrags auf Wiederaufnahme durch einen anderen Mitgliedstaat oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat;

e) der ersuchende Mitgliedstaat teilt dem Asylbewerber die Entscheidung des zuständigen Mitgliedstaats über seine Wiederaufnahme mit. Diese Entscheidung ist zu begründen. Die Frist für die Durchführung der Überstellung ist anzugeben und gegebenenfalls der Ort und der Zeitpunkt zu nennen, an dem bzw. zu dem sich der Asylbewerber zu melden hat, wenn er sich auf eigene Initiative in den zuständigen Mitgliedstaat begibt. Gegen die Entscheidung kann ein Rechtsbehelf eingelegt werden. Ein gegen diese Entscheidung eingelegter Rechtsbehelf hat keine aufschiebende Wirkung für die Durchführung der Überstellung, es sei denn, die Gerichte oder zuständigen Stellen entscheiden im Einzelfall nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts anders, wenn es nach ihrem innerstaatlichen Recht zulässig ist.

Erforderlichenfalls stellt der ersuchende Mitgliedstaat dem Asylbewerber ein Laissez-passer nach dem Muster aus, das gemäß dem Verfahren nach Artikel 27 Absatz 2 festgelegt wird.

Der zuständige Mitgliedstaat teilt dem ersuchenden Mitgliedstaat gegebenenfalls mit, dass der Asylbewerber eingetroffen ist bzw. dass er sich nicht innerhalb der vorgegebenen Fristen gemeldet hat.

(2) Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, so geht die Zuständigkeit auf den Mitgliedstaat über, in dem der Asylantrag eingereicht wurde. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung oder die Prüfung des Antrags aufgrund der Inhaftierung des Asylbewerbers nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn der Asylbewerber fluechtig ist.

(3) Die Vorschriften über die Beweismittel und Indizien und deren Auslegung sowie die Modalitäten für das Stellen und Übermitteln von Gesuchen werden gemäß dem Verfahren nach Artikel 27 Absatz 2 erlassen.

(4) Die Kommission kann ergänzende Vorschriften zur Durchführung von Überstellungen erlassen. Diese Maßnahmen zur Änderung nicht wesentlicher Bestimmungen dieser Verordnung durch Ergänzung werden nach dem in Artikel 27 Absatz 3 genannten Regelungsverfahren mit Kontrolle erlassen."

III. Erwägungen

1. Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

2. Nach der mit VfSlg 13.836/1994 beginnenden, nunmehr ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (s. etwa VfSlg 14.650/1996 und die dort angeführte Vorjudikatur; weiters VfSlg 16.080/2001 und 17.026/2003) enthält ArtI Abs1 des Bundesverfassungsgesetzes zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, das allgemeine, sowohl an die Gesetzgebung als auch an die Vollziehung gerichtete Verbot, sachlich nicht begründbare Unterscheidungen zwischen Fremden vorzunehmen. Diese Verfassungsnorm enthält ein – auch das Sachlichkeitsgebot einschließendes – Gebot der Gleichbehandlung von Fremden untereinander; deren Ungleichbehandlung ist also nur dann und insoweit zulässig, als hiefür ein vernünftiger Grund erkennbar und die Ungleichbehandlung nicht unverhältnismäßig ist.

Diesem einem Fremden durch ArtI Abs1 leg.cit. gewährleisteten subjektiven Recht widerstreitet eine Entscheidung, wenn sie auf einem gegen diese Bestimmung verstoßenden Gesetz beruht (vgl. zB VfSlg 16.214/2001), wenn der Asylgerichtshof dem angewendeten einfachen Gesetz fälschlicherweise einen Inhalt unterstellt hat, der – hätte ihn das Gesetz – dieses als in Widerspruch zum Bundesverfassungsgesetz zur Durchführung des Internationalen Übereinkommens über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung, BGBl 390/1973, stehend erscheinen ließe (s. etwa VfSlg 14.393/1995, 16.314/2001) oder wenn er bei Fällung der Entscheidung Willkür geübt hat (zB VfSlg 15.451/1999, 16.297/2001, 16.354/2001 sowie 18.614/2008).

Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt unter anderem in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg 15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001).

3. Ein solcher Fehler ist dem Asylgerichtshof unterlaufen:

3.1. Gemäß Art20 Abs1 litd Dublin-II-VO erfolgt die Überstellung eines Antragstellers, der gemäß Art16 leg.cit. von einem Mitgliedsstaat wieder aufgenommen wird, gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies materiell möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Antrags auf Wiederaufnahme durch einen anderen Mitgliedstaat oder der Entscheidung über den Rechtsbehelf, wenn dieser aufschiebende Wirkung hat. Wird die Überstellung innerhalb dieser Frist nicht durchgeführt, geht die Zuständigkeit zur Prüfung des Asylantrages gemäß Art20 Abs2 Dublin-II-VO ex lege auf den Mitgliedsstaat über in dem der Asylantrag (zuletzt) eingereicht wurde.

3.2. Im vorliegen Fall begann die Frist zur Durchführung der Überstellung mit der Zustimmung der polnischen Behörden zur Übernahme des Antragstellers am 3. Jänner 2011 zu laufen. Da der Asylgerichtshof der Beschwerde gegen den Zurückweisungsbescheid des Bundesasylamtes mit Beschluss vom 15. Juni 2011 die aufschiebende Wirkung zuerkannte, wurde die Frist allerdings unterbrochen. Erst mit der endgültigen Entscheidung des Asylgerichtshofes über die Beschwerde begann die Frist wieder neu zu laufen (vgl. das Erkenntnis des Verwaltungsgerichthofes vom 16. April 2009, 2007/19/0730, wonach auch eine der Beschwerde stattgebende Entscheidung gemäß §41 Abs3 AsylG 2005 eine Entscheidung über den Rechtsbehelf im Sinne des Art20 Abs1 litd Dublin-Verordnung darstellt). Laut Gerichtsakt wurde diese Entscheidung vom 30. Juli 2012 am 2. August 2012 zugestellt. Die Sechsmonatsfrist lief daher am 2. Februar 2012 ab und die Zuständigkeit zur Prüfung des Antrages des Beschwerdeführers ging zu diesem Zeitpunkt auf Österreich über. Der Asylgerichtshof hat diesen – sich unmittelbar aus der Dublin-II-VO ergebenden – Zuständigkeitsübergang unter völliger Außerachtlassung des Sachverhaltes nicht von Amts wegen wahrgenommen und damit Willkür geübt.

IV. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch die angefochtene Entscheidung in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit von Fremden untereinander verletzt worden.

2. Die angefochtene Entscheidung ist daher aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 iVm §88a VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von je € 436,– enthalten.

Schlagworte

Asylrecht, Ausweisung, Zuständigkeit, Fristen, Wirkung aufschiebende, EU-Recht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2013:U520.2013

Zuletzt aktualisiert am

08.11.2013
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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