RS Vfgh 2012/12/13 G137/11

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 13.12.2012
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Index

25 STRAFPROZESS, STRAFVOLLZUG
25/01 Strafprozess

Norm

B-VG Art89 Abs1, Abs2
B-VG Art140 Abs1 / Allg
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
EMRK Art6 Abs3 litb
StPO §51 Abs1, §52 Abs1, §363a ff
VfGG §62 Abs1

Leitsatz

Verstoß einer Regelung der StPO über den Ausschluss des Rechts eines Beschuldigten bzw dessen Verteidigers auf Kopien von Ton- und Bildaufnahmen bei Akteneinsicht gegen den Grundsatz der Waffengleichheit; Verpflichtung des Obersten Gerichtshofes zur Einbringung eines Gesetzesprüfungsantrags im Fall von Bedenken; Widerspruch der Überbindung dieser Verpflichtung an ein Oberlandesgericht zum Konzept der Bundesverfassung

Rechtssatz

Aufhebung der Wortfolge "bezieht sich jedoch nicht auf Ton- oder Bildaufnahmen und" in §52 Abs1 StPO idF BGBl I 52/2009.

Der OGH wäre gemäß Art89 Abs2 B-VG auf Grund der bei ihm im Rahmen der Behandlung eines Erneuerungsantrages aufgetretenen Bedenken gegen Teile des §52 Abs1 letzter Satz StPO von Verfassungs wegen verpflichtet gewesen, selbst einen Antrag auf Prüfung der Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift beim VfGH einzubringen.

Das Vorgehen des OGH, diese Verpflichtung im Wege der Stattgabe des Erneuerungsantrages nach §363a ff StPO dem OLG Wien zu überbinden, ist weder durch die Bestimmungen des §363a bis §363c StPO vorgegeben noch entspricht es dem Konzept der Bundesverfassung, das in Art89 und Art140 B-VG die Anfechtungspflicht jenem Gericht auferlegt, bei dem Bedenken ob der Verfassungsmäßigkeit einer präjudiziellen Norm entstehen.

Art89 Abs1 B-VG verwehrt den Gerichten die "Prüfung" gehörig kundgemachter Gesetze, und Art140 Abs1 B-VG weist diese allein dem VfGH zu; Art89 Abs2 B-VG verpflichtet den OGH und zur Entscheidung in zweiter Instanz zuständige Gerichte dazu, schon bloße Bedenken gegen die Anwendung eines Gesetzes aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit an den VfGH heranzutragen. Damit bringt die Bundesverfassung zum Ausdruck, dass - vergleichbar der nach Art91 Abs1 B-VG dem OGH in Zivil- und Strafrechtssachen zukommenden "Leitfunktion", wie sie für den Bereich des Verwaltungsrechts Art130 B-VG dem VwGH zuweist - dem VfGH eine Leitfunktion für die einheitliche Auslegung und Anwendung des Verfassungsrechts zukommt. Auch unter diesem Blickwinkel darf der einfache Gesetzgeber den OGH nicht dazu ermächtigen, selbst eine Prüfung von Gesetzen am Maßstab der Verfassung vorzunehmen oder bei Bedenken gegen die Anwendung eines Gesetzes aus dem Grund der Verfassungswidrigkeit anders als durch Antragstellung nach Art89 Abs2 zweiter Satz iVm Art140 Abs1 B-VG vorzugehen.

Der Antrag des OLG Wien wird hinsichtlich eines bei ihm anhängigen Verfahrens auf Grund von selbst - wenn auch in Übernahme der Begründung eines Beschlusses des OGH in anderen Verfahren - gehegten Bedenken gestellt, sodass der Antrag insofern jedenfalls zulässig ist. Insofern treffen auch die Einwände der Bundesregierung, entgegen §62 Abs1 zweiter Satz VfGG seien die Bedenken vom OLG Wien nicht im Einzelnen dargelegt, nicht zu, weil das OLG Wien die Bedenken zusammengefasst wiedergibt und sich ihnen ausdrücklich anschließt.

Bei der unkorrekten Wiedergabe der zur Aufhebung begehrten Regelung im Antrag (das Wort "und" nach der Wendung "Ton- oder Bildaufnahmen" wurde in Klammer gesetzt) handelt es sich erkennbar um ein bloßes Versehen bzw um einen offenkundigen Schreibfehler; derartige - als vernachlässigbar anzusehende - Mängel führen grundsätzlich nicht zur Unzulässigkeit des Antrags.

Das Prinzip der Waffengleichheit stellt nach ständiger Rechtsprechung des EGMR einen der Wesenszüge des fairen Verfahrens iSd Art6 EMRK dar, weshalb jeder Partei Gelegenheit eingeräumt werden muss, ihren Fall einschließlich aller ihrer Beweise unter solchen Bedingungen zu präsentieren, die keinen wesentlichen Nachteil gegenüber ihrem Gegner bedeuten (mit Judikaturhinweisen).

Der in Rede stehende Grundsatz fordert, dass dem Beschuldigten (Angeklagten - §48 Abs2 StPO) hinlänglicher Zugang zu allen Beweisen der Strafverfolgungsbehörde ermöglicht wird, was die Einräumung von ausreichend Zeit und das Bereithalten von Räumlichkeiten zur Vorbereitung der Verteidigung einschließt, um nicht in eine gegenüber der Anklagebehörde nachteilige Position zu geraten (vgl EGMR 09.10.08, Fall Moiseyev, Appl 62936/00, Z217 f).

Vor diesem Hintergrund geht der VfGH davon aus, dass dem Beschuldigten (Angeklagten) iSd Auffassung des antragstellenden Gerichts grundsätzlich auch das Recht zukommen muss, ohne wesentliche Privilegierung der Staatsanwaltschaft - also unter vergleichbaren Bedingungen - Zugang zu Bildaufnahmen zu erhalten.

Während der Strafverfolgungsbehörde im Verfahren sichergestellte Videobänder unbeschränkt zur Verfügung stehen, der Staatsanwalt also in die Lage versetzt wird, die Filmaufnahmen selbst, allenfalls davon hergestellte Kopien zu seinen Unterlagen zu nehmen und nach Gutdünken wiederholt sowie ohne jede zeitliche Beschränkung und in jeder Geschwindigkeit (Zeitlupenform eingeschlossen) zu besichtigen, Details auszuwerten, Einzelbilder ebenso wie Bildausschnitte anzufertigen und seine Anklage auf diese spezifischen Bearbeitungen zu stützen, wird der Beschuldigte (Angeklagte) von einer derartigen Möglichkeit ausgeschlossen und gemäß der das Recht auf Besichtigung von Beweisgegenständen regelnden Vorschrift des §51 Abs1 zweiter Satz StPO auf den (bei Nachteil für die Ermittlungen beschränkbaren sowie zeitlich auf die gerichtlichen Amtsstunden und die Maßgabe personeller Ressourcen eingeengten) Augenschein verwiesen.

Mit der in Rede stehenden gesetzlichen Regelung kann ein gegenüber der Position der Anklagebehörde nicht unerheblicher Nachteil für die Rechtsstellung des Beschuldigten vor allem dann verbunden sein, wenn es sich bei dem Videomaterial (wie im Anlassfall betr Ausschreitungen zwischen Anhängern rivalisierender Fußballvereine auf dem Gelände des Westbahnhofes, die Körperverletzungen einschreitender Polizeibeamter und schwere Sachbeschädigungen zur Folge hatten) um ein besonders bedeutsames, allenfalls sogar um das einzige (belastende) Beweismittel handelt.

Der (im Anlassverfahren angebotene) Augenschein iSd §51 Abs1 zweiter Satz StPO mag zwar in Einzelfällen - vor allem, wenn nur wenige Bildaufnahmen betroffen sind - geeignet sein, dem Grundsatz der Waffengleichheit Genüge zu tun. Der generelle Ausschluss des Beschuldigten von der Möglichkeit der Erlangung von Kopien, wie ihn §52 Abs1 StPO schlechthin normiert, womit auch Fälle erfasst werden, in denen Bildmaterial großen Umfangs von nachhaltiger Relevanz als Beweismittel betroffen sind, steht diesem Prinzip jedoch entgegen. Dies zeigt gerade der zugrunde liegende Fall, in dem die Staatsanwaltschaft ihre Anklage schwergewichtig auf das für sie (im Unterschied zu den Angeklagten) jederzeit verfügbare, äußerst umfangreiche und (jedenfalls nach Dafürhalten der Staatsanwaltschaft) aussagekräftige Videomaterial stützt.

Dem antragstellenden Gericht ist daher beizupflichten, dass die den Beschuldigten einseitig belastende Anordnung des ausnahmslosen Ausschlusses, Kopien von Bild- und Tonaufnahmen zu erhalten, dem Grundsatz der Waffengleichheit des Art6 EMRK widerspricht.

An dieser Beurteilung vermag auch der (im Anlassverfahren ebenfalls beschrittene) Weg der technischen Umwandlung der Videofilme in Papierbilder (die zum Akt genommen wurden und solcherart der Akteneinsicht samt dem Recht auf Erlangung von Ablichtungen unterliegen) nichts zu ändern. Abgesehen davon, dass diese Art der Transformation im Gesetz keine Stütze findet (sondern eine Maßnahme des Vollzuges darstellt), könnte selbst die Annahme der Möglichkeit einer verfassungskonformen Interpretation der angefochtenen Bestimmung in Richtung eines Anspruchs auf Übertragung von Filmaufnahmen in einzelne Papierausdrucke die dargelegte Verfassungswidrigkeit nicht beseitigen: Dem digitalen Ausdruck von Videofilmen auf Papier fehlt von vornherein die Eignung, Kopien von (bewegten) Bildaufnahmen zu ersetzen. Abgesehen von der unterschiedlichen Wirkung, die (mit besonderer Suggestivkraft ausgestatteten) Laufbildern einerseits und (bloßen) Standbildern andererseits zukommt, sind vor allem bewegte Filmdokumente angesichts des (nur) auf diesen spezifisch nachvollziehbaren konkreten (mittels statischer Ausdrucke idR nicht reproduzierbaren) Bewegungsablaufs grundsätzlich keiner Substitution durch Papierausdruck zugänglich, mag auch im Einzelfall einem bestimmten Standbild besondere Aussagekraft zukommen.

Auch das (gegebenenfalls durchsetzbare) Abspielen der Filmdokumente im Rahmen der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung ist nicht geeignet, die durch Art6 EMRK garantierte angemessene Vorbereitung der Verteidigung zur möglichen Verdachtsentkräftung - ohne Nachteil gegenüber der Strafverfolgungsbehörde - zu gewährleisten.

Dem Umstand, dass mit der Ausfolgung von kopiertem Bildmaterial allenfalls strafbares Verhalten begünstigt oder Rechte Dritter gefährdet würden, kann - wie es §54 StPO in Bezug auf Aktenkopien vorsieht - durch entsprechende legistische Vorkehrungen mit Blick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung getragen werden.

Schließlich ist der Aufwand hinsichtlich der Herstellung einer DVD im Vergleich zur Anfertigung von Aktenkopien keineswegs unverhältnismäßig.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Strafrecht, Strafprozessrecht, Verteidigung, Akteneinsicht, fair trial, VfGH / Antrag, VfGH / Bedenken, VfGH / Formerfordernisse

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2012:G137.2011

Zuletzt aktualisiert am

21.02.2013
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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