TE OGH 2009/9/8 10ObS111/09k

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Veröffentlicht am 08.09.2009
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Dr. Schinko als Vorsitzenden, die Hofräte Dr. Fellinger und Hon.-Prof. Dr. Neumayr sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Christa Brezna (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Dr. Gerda Höhrhan-Weiguni (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei Mumin J*****, vertreten durch Dr. Bertram Grass und Mag. Christoph Dorner, Rechtsanwälte in Bregenz, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, Friedrich-Hillegeist-Straße 1, 1021 Wien, wegen Invaliditätspension, infolge außerordentlicher Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 21. April 2009, GZ 25 Rs 125/08f-30, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts Feldkirch als Arbeits- und Sozialgericht vom 21. Oktober 2008, GZ 55 Cgs 4/08i-24, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird aufgehoben. Die Sozialrechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der am 22. 8. 1951 geborene Kläger, der keinen Beruf erlernt hat, war vom 22. 7. 1971 bis 31. 3. 2004 in der Textilindustrie beschäftigt.

Im Zeitraum ab 1. 9. 1993 (bis 31. 3. 2004) arbeitete er durchgehend in der so genannten Farbküche und in der Druckpastenansatzstation. Seine Aufgaben lagen vor allem im Ansetzen von Druckpasten, dem Erstellen von Streifenabschlägen und der Reinigung der Farbkübel. Der Kläger hatte täglich bis zu 50 kg schwere Säcke mit Chemikalien auf einen Wagen aufzuladen und zur Mischmaschine zu transportieren. Dort öffnete er die Säcke, wog die Chemikalien ab und leerte sie entsprechend einer ihm vorgegebenen Rezeptur und Reihenfolge in die Mischmaschine, wo sie zu Druckpasten vermischt wurden. Dabei musste er die Rührzeiten einhalten. Anschließend pumpte er diese Druckpasten in Behälter, von wo sie wiederum automatisch abgepumpt und weiterverwendet wurden. Insgesamt hatte der Kläger bis zu zehnmal am Tag die Mischmaschine mit bis zu 1.000 kg Chemikalien zu füllen und zu entleeren. Wenn die Druckpaste fertig war, hatte er jeweils bei einem Streifen Stoff im Labormaßstab zur Kontrolle zu drucken, ob die Druckpaste stimmt. Wenn die Paste nicht stimmte, nahm der Stoff die Farbe nicht an. Nach einem bestimmten Farbmuster hatte der Kläger die Druckpaste nicht zu mischen.

Aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen ist der Kläger nicht mehr in der Lage, seinen bisherigen Tätigkeiten in der Farbküche und in der Druckpastenansatzstation eines Textilbetriebs nachzugehen, weil er den damit einhergehenden schweren körperlichen Belastungen im Heben der bis zu 50 kg schweren Säcke nicht mehr gewachsen ist.

Mit Bescheid vom 13. 12. 2007 lehnte die beklagte Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Invaliditätspension ab.

Das Erstgericht sprach dem Kläger die Invaliditätspension (bezeichnet als Berufsunfähigkeitspension) im gesetzlichen Ausmaß vom 1. 9. 2008 bis 31. 8. 2010 zu, trug der beklagten Partei eine vorläufige Zahlung von 600 EUR monatlich auf und wies das Mehrbegehren auf Leistung der Pension auch für den Zeitraum vom 1. 10. 2007 bis 31. 8. 2008 (insoweit rechtskräftig) ab.

Über den eingangs angeführten Sachverhalt hinaus traf es neben anderen folgende weitere Feststellungen:

Für den Kläger kommen als mögliche mit dem Leistungskalkül vereinbare Verweisungsberufe die Tätigkeiten eines Portiers (mit näheren Ausführungen zu den Berufsanforderungen und zum Einsatzfeld) oder eines Stanzers für Kleinteile in Betracht; den Anforderungen der Tätigkeit eines Webgutkontrollors ist der Kläger ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht gewachsen.

Ein Stanzer für Kleinteile produziert an einer Exzenterpresse Kleinteile mit Schnitt- oder Prägwerkzeugen. Die Kleinteile werden aus Stangenmaterial hergestellt, die bereits vorgeformt sind. Es können Löcher gestanzt oder Erhebungen/Vertiefungen geprägt werden. Die Teile können einzeln aus Behältern entnommen werden und werden unmittelbar am Arbeitsplatz wiederum in Behältern abgelegt. Streckhaltung oder Bücken bis zum Boden ist nicht erforderlich. Die Presse (Stanze) wird entweder beidhändig oder über Fußpedal ausgelöst. Stanzer für Kleinteile können sitzend oder stehend nach freier Wahl arbeiten. Es handelt sich um eine körperlich leichte Arbeit, die in wenigen Stunden erlernbar ist. An das Sehvermögen werden nur geringe Ansprüche gestellt. Im Gewerbe sind diese Arbeiten frei von überdurchschnittlichem Zeitdruck und Nachtschichtbedingungen; sie erfordern jedoch Tätigkeiten im 2-Schicht-System.

Österreichweit existieren mehr als 100 Arbeitsplätze für Stanzer für Kleinteile.

In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Erstgericht aus, dass die Invalidität des Klägers zum Stichtag 1. 9. 2008 nach § 255 Abs 4 ASVG zu prüfen sei. Ausgehend von der bisherigen Tätigkeit des Klägers wäre mit der Tätigkeit eines Portiers oder eines Stanzers für Kleinteile eine wesentliche Änderung des bisherigen beruflichen Umfelds verbunden. Neben den Kundenkontakten müsste er neue Tätigkeiten wie etwa Maschinenstückarbeit erlernen. Auch das technische Umfeld und die räumliche Situation würden sich ändern, weshalb eine Verweisung ausgeschlossen sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der beklagten Partei gegen den klagsstattgebenden Teil des Ersturteils Folge und änderte das angefochtene Urteil im gänzlich klagsabweisenden Sinn ab. Es sah in der Unterlassung des Erstgerichts, von Amts wegen die nervenfachärztlichen Einschränkungen (im Hinblick auf eine allfällige Verweisung auf die Tätigkeit eines Webgutkontrollors) eingehender zu erheben, einen Verfahrensmangel. Dieser führe allerdings nicht zur Aufhebung des Ersturteils, weil sich schon aufgrund des festgestellten Sachverhalts ergebe, dass der Anspruch des Klägers nicht zu Recht bestehe.

Der Kläger habe im 15-jährigen Beobachtungszeitraum vor dem für die Gewährung einer Invaliditätspension nach § 255 Abs 4 ASVG maßgeblichen Stichtag (1. 9. 2008) mindestens 120 Kalendermonate hindurch „eine" Tätigkeit im Sinne dieser Gesetzesstelle, nämlich jene eines Farbmachers und Verdichtungskochs in der Textilindustrie ausgeübt. Einerseits habe er in der Farbküche und Druckpastenansatzstation mehrere Behälter mit Chemikalien (Druckpasten) zu füllen und den Rührer zu aktivieren sowie in der Kübelwaschanlage die Kübelwaschmaschinen zu bedienen gehabt. Insgesamt sei der Kläger daher als Maschinenbediener (Bediener einer Industrieproduktionsanlage) in der Textilindustrie tätig gewesen. Er sei zwar nicht mehr in der Lage, den an seinen konkreten Arbeitsplatz gestellten Anforderungen als Textilarbeiter zu genügen, doch sei er nicht außerstande, einer (ungelernten) Tätigkeit in der industriellen Produktion schlechthin nachzugehen. Eine solche ungelernte Tätigkeit stelle die Tätigkeit eines Stanzers für Kleinteile in der Metallindustrie zweifelsohne dar. Auch wenn der Arbeitsbereich dieser Verweisungstätigkeit räumlich begrenzter als jener eines Bedieners einer Industrieproduktionsanlage sei, seien daraus keine markanten Unterschiede im arbeitskulturellen Umfeld abzuleiten, da die zu vergleichenden Tätigkeiten jeweils in der Bedienung von Maschinen bestünden und in Industriebetrieben verrichtet würden. Der Umstand, dass mit der Ausübung der Tätigkeit eines Bedieners einer Industrieproduktionsanlage, wie sie vom Erstgericht beschrieben worden sei, eine mittelschwere bis schwere körperliche Belastung, mit der Verrichtung der genannten Verweisungstätigkeit jedoch nur eine leichte körperliche Belastung verbunden sei, lasse nicht die Schlussfolgerung auf ein auffällig höheres soziales Ansehen zu, das mit der Ausübung der erstangeführten Tätigkeit verbunden wäre. Die Tätigkeit eines Stanzers in der Metallindustrie stelle somit eine zumutbare Änderung der Tätigkeit eines Maschinenbedieners (Bedieners einer Industrieproduktionsanlage) in der Textilindustrie dar. Da mit der Ausübung dieser Verweisungstätigkeit keine das Leistungskalkül des Klägers überschreitenden Tätigkeiten verbunden seien, lägen die Voraussetzungen des § 255 Abs 4 ASVG nicht vor.

Als weitere zumutbare Änderungen der vom Kläger bisher ausgeübten Tätigkeit kämen im Übrigen die Tätigkeiten eines Bohristen für Kleinteile sowie eines Montierers in der Beschlägefabrik in Frage. Es sei offenkundig (§ 269 ZPO), dass auch bei diesen in der industriellen Produktion angesiedelten ungelernten Tätigkeiten das Leistungskalkül „leicht" nicht überschritten werde, wobei ebenfalls nur eine geringfügige Einschulung erforderlich sei.

Ob der Kläger die - in der Textilindustrie bzw im Textilgewerbe angesiedelte - Tätigkeit eines Verpackers in der Strickstrumpferzeugung ausüben könnte, sei vom Erstgericht ungeachtet eines entsprechenden Prozessvorbringens der beklagten Partei ungeprüft geblieben.

Anlass für die Zulassung der Revision bestehe nicht, weil die Frage, ob eine Übereinstimmung der wesentlichen Tätigkeitsmerkmale der verrichteten Tätigkeiten im Kernbereich vorliege, nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls geprüft werden könne. Im Übrigen habe sich das Berufungsgericht an einer gesicherten höchstgerichtlichen Rechtsprechung orientiert.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinn einer Wiederherstelluntg des Ersturteils abzuändern.

Die beklagte Partei hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht bei der Beurteilung der Verweisbarkeit nach § 255 Abs 4 ASVG von der höchstgerichtlichen Rechtsprechung zum Vergleich der Arbeitsanforderungen im bisherigen Beruf und im möglichen Verweisungsberuf abgewichen ist, was zur Wahrung der Rechtssicherheit aufzugreifen ist. Das Rechtsmittel des Klägers ist im Sinne der beschlossenen Aufhebung auch berechtigt.

Der Kläger macht in seinen Revisionsausführungen im Wesentlichen geltend, dass mit einer Verweisung von der bisherigen Tätigkeit als Maschinenbediener in der Textilindustrie auf die Tätigkeit eines Stanzers in der Metallindustrie eine wesentliche Änderung des beruflichen (arbeitskulturellen) Umfelds verbunden wäre. Eine Tätigkeit wie die eines Stanzers von Kleinteilen sei von ihm in seiner bisherigen beruflichen Laufbahn nie ausgeübt worden.

Dazu wurde erwogen:

Nach § 255 Abs 4 ASVG gilt auch ein Versicherter, der das 57. Lebensjahr vollendet hat, als invalid, wenn er infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande ist, einer Tätigkeit, die er in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Kalendermonate hindurch ausgeübt hat, nachzugehen. Dabei sind zumutbare Änderungen dieser Tätigkeit zu berücksichtigen.

Der Oberste Gerichtshof hat schon in zahlreichen Entscheidungen zu den Anspruchsvoraussetzungen des § 255 Abs 4 ASVG Stellung genommen. Die Bestimmung schafft für Versicherte ab Vollendung des 57. Lebensjahres einen erleichterten Zugang zur Invaliditätspension bzw Berufsunfähigkeitspension (10 ObS 56/03p = SSV-NF 17/56 mwN). Nicht zuletzt deshalb hat der Oberste Gerichtshof zu dem von Schrammel (Der Invaliditäts-, Berufsunfähigkeits- und Erwerbsunfähigkeitsbegriff nach dem SVÄG 2000, ecolex 2000, 886 ff [888]) als „kryptisch" bezeichneten Satz über die Berücksichtigung zumutbarer Änderungen der Tätigkeit die Meinung vertreten, dass die zumutbaren Änderungen offenkundig eng zu interpretieren sind (RIS-Justiz RS0100022 [T3]).

In der Entscheidung 10 ObS 185/02g (SSV-NF 16/100; siehe dazu Heckenast, DRdA 2003, 296) wurde eine Verweisung jedenfalls dann als zumutbar angesehen, wenn die Verweisungstätigkeit bereits bisher als eine Teiltätigkeit ausgeübt wurde und das Arbeitsumfeld dem bisherigen ähnlich ist (ebenso Schrammel aaO, ecolex 2000, 889). Als Kriterien wurden dabei neben dem kulturellen Arbeitsumfeld unter anderem auch die Kontakte mit Mitarbeitern sowie die räumliche Situation angeführt (vgl Röhrenbacher, Gedanken und Überlegungen zum neuen Invaliditätsbegriff, SozSi 2001, 846 ff [852]). Der Branche wurde keine allein ausschlaggebende Bedeutung zuerkannt; es wurde aber ausgesprochen, dass sie bei der Konkretisierung des Umfelds eine Rolle spielen kann (RIS-Justiz RS0100022).

Im vorliegenden Fall hat der Kläger im 15-jährigen Beobachtungszeitraum vor dem Stichtag „eine" Tätigkeit in der Farbküche und Druckpastenansatzstation eines Textilindustriebetriebs ausgeübt. Er hatte bis zu 50 kg schwere Säcke zu heben und zu transportieren und den Inhalt (Chemikalien) in einer Mischmaschine zu vermischen, deren Inhalt schließlich wieder zu entleeren und Kontrolldrucke vorzunehmen. Weiters waren Reinigungstätigkeiten erforderlich. Vergleicht man diese Tätigkeit mit der sehr mechanisch geprägten, nur geringe körperliche Anforderungen stellenden möglichen Verweisungstätigkeit eines Stanzers von Kleinteilen in der Metallindustrie, liegt die vom Berufungsgericht herausgearbeitete Gemeinsamkeit nur in einem weit gesehenen Bedienen von Maschinen in einem Industriebetrieb. Der Tätigkeitsablauf, die räumliche Situation und die geforderten körperlichen Belastungen weisen so große Unterschiede auf, dass eine entsprechende Änderung nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs unzumutbar ist (dies unter der Prämisse, dass überhaupt „eine" Tätigkeit vorliegt). Andernfalls könnte die vom Gesetzgeber - im Verhältnis zu § 255 Abs 3 ASVG - beabsichtigte Einschränkung des Verweisungsfelds nicht gewährleistet werden.

Ausgehend von seiner vom Obersten Gerichtshof nicht geteilten Rechtsansicht waren die Ausführungen des Berufungsgerichts zur Mangelhaftigkeit des erstinstanzlichen Verfahrens nicht entscheidungsrelevant, weshalb es nun einer neuerlichen Entscheidung der zweiten Instanz zu dieser Frage bedarf (der Oberste Gerichtshof übersieht nicht, dass das Berufungsgericht nach der Begründung seiner Entscheidung das erstinstanzliche Verfahren als mangelhaft betrachtet).

Zu den weiters in der Berufungsentscheidung genannten Verweisungsberufen (Bohrist für Kleinteile, Montierer in einer Beschlägefabrik) ist festzuhalten, dass die Anforderungen in diesen Berufen nicht so unzweifelhaft sind, dass sie der Entscheidung ohne Erörterung mit den Parteien zugrunde gelegt werden könnten (RIS-Justiz RS0040219 [T7]).

In diesem Sinn ist die angefochtene Entscheidung aufzuheben und dem Berufungsgericht eine neuerliche Entscheidung aufzutragen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Textnummer

E91932

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:010OBS00111.09K.0908.000

Im RIS seit

08.10.2009

Zuletzt aktualisiert am

21.03.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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