TE AsylGH Beschluss 2011/10/27 S4 422020-1/2011

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Veröffentlicht am 27.10.2011
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Spruch

S4 422.020-1/2011/4Z

 

BESCHLUSS

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter Mag. Huber als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX, StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 10.10.2011, Zl. 11 10.025, beschlossen:

 

Der Beschwerde wird gemäß § 37 Absatz 1 und 2 AsylG 2005 idgF (AsylG) die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

Text

BEGRÜNDUNG:

 

I. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan und - laut eigener Angaben vor der Polizeiinspektion Kittsee - von dort etwa Anfang Juni 2011 über Pakistan, den Iran, die Türkei und Griechenland letztlich auf dem Landweg nach Österreich eingereist. Vor der Polizeiinspektion Nickelsdorf erklärte der Beschwerdeführer zudem, dass er die Grenze von Serbien nach Ungarn gemeinsam mit anderen Afghanen zu Fuß überschritten habe. Danach seien alle in einen gelben Kastenwagen eingestiegen und sei ihnen gesagt worden, dass sie von dort nach Wien gebracht werden würden. Der Beschwerdeführer wurde am 3.9.2011 im Zuge eines Massenaufgriffs illegaler Einwanderer in 2425 Nickelsdorf, A 4 Ostautobahn, Parkplatz Nickelsdorf angehalten und festgenommen. Am selben Tag stellte er einen Antrag auf internationalen Schutz.

 

Das Bundesasylamt hat mit Bescheid vom 10.10.2011, Zl.: 11 10.025, den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz im Bundesgebiet gem. §§ 5, 10 Abs. 1 Z 1 und Abs. 4 AsylG zurückgewiesen, und den Beschwerdeführer aus dem Bundesgebiet nach Ungarn ausgewiesen.

 

Konkret in Bezug auf Rückkehrer gem. der Dublin II VO hat das Bundesasylamt im angefochtenen Bescheid lediglich folgende - jeweils aus Anfragebeantwortungen aus dem Jahr 2006 datierende - Feststellungen getroffen:

 

"Dublin II Rückkehrer:

 

Asylwerber werden nach einer Rücküberstellung im Rahmen des Dublin Verfahrens gefragt, ob Interesse besteht, dass das Verfahren fortgesetzt wird. Sollte dies bejaht werden, wird das Vorbringen einer inhaltlichen Prüfung unterzogen. Eine Abschiebung des Asylwerbers ins Herkunftsland wird nur nach Abschluss des Verfahrens und nach eingehender "Non-Refoulement"-Prüfung der Asylbehörde vollzogen.

 

Sollte ein Asylwerber im Rahmen eines Dublin Verfahrens rück überstellt werden, ist es in jedem Fall für ihn möglich, ein faires Asylverfahren inklusive einer inhaltlichen Prüfung zu erhalten."

 

Zur ungarischen Rechtslage und Praxis in Bezug auf mögliche Verhängung der Schubhaft, ihrer Dauer und der Haftbedingungen, sowie der ungarischen Rechtslage und Praxis in Bezug auf rück überstellte Asylwerber, die vormals von Serbien nach Ungarn eingereist sind, wurden keine Feststellungen getroffen.

 

Gegen diesen Bescheid hat der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde erhoben.

 

Die Beschwerdevorlage an den Asylgerichtshof erfolgte am 20.10.2011 (einlangend).

 

Seit 19.10.2011 liegt dem Asylgerichtshof ein Schreiben des UNHCR vom 17.10.2011 zur "Situation von Asylsuchenden in Ungarn" mit folgendem Wortlaut vor:

 

"1) Gefahr der Inhaftierung in Ungarn nach Dublin-Überstellung

 

Wegen irregulärer Einreise oder irregulären Aufenthalts aufgegriffene Asylsuchende werden von der ungarischen Polizei unmittelbar in Haft genommen, auch wenn sie sofort einen Asylantrag stellen. Auch Asylsuchende, die aufgrund der Dublin-IIVerordnung nach Ungarn (rück-)überstellt werden, werden inhaftiert. Lediglich unbegleitete Minderjährige, deren Minderjährigkeit nicht angezweifelt wird, kommen nicht ins Gefängnis.

 

Die generelle Inhaftierung von Asylsuchenden wird bereits seit April 2010 verstärkt praktiziert. Gemäß der Gesetzesänderungen vom Dezember 2010 kann Haft auch nach Ende des Vorverfahrens (Feststellung der Dublin-Zuständigkeit oder Prüfung der Einreise aus einem sicheren Drittstaat) und während der inhaltlichen Prüfung eines Asylantrags verhängt werden und bis zu zwölf Monate dauern. Familien mit Kindern können nur in Ausnahmefällen, und dies für höchstens 30 Tage, angehalten werden. Ob entsprechend der gesetzlichen Bestimmungen bei Familien Haft nur ausnahmsweise eingesetzt wird, bedarf weiterer Prüfung. Laut UNHCR Erkenntnissen wurde in den ersten viereinhalb Monaten seit Inkrafttreten der Regelung nur in einem Fall keine Haft angeordnet.

 

Entscheidungen der Behörden über Inhaftierungen müssen gerichtlich bestätigt werden. Diese gerichtliche Untersuchung ist nach Einschätzung von UNHCR allerdings eine bloße Formalität und führt zu keiner inhaltlichen Überprüfung der Haftgründe.

 

Unbegleitete Minderjährige sollen gar nicht in Haft genommen sondern in einer speziellen Einrichtung für unbegleitete Minderjährige in Bicske untergebracht werden. Allerdings werden unbegleitete Minderjährige, bei denen die Altersangabe angezweifelt wird, durchaus inhaftiert, wie Recherchen von UNHCR in den Hafteinrichtungen gezeigt haben. Dabei erfolgt die Altersfeststellung in Ungarn in der Regel lediglich anhand einer Inaugenscheinnahme des Antragstellers ohne jede weitere Untersuchung. Die Feststellung des Alters anhand des Augenscheins erfolgt auch dann, wenn in einem anderen EU-Mitgliedstaat - etwa im Zusammenhang mit dem Dublin-Verfahren - eine methodisch fundierte Alterseinschätzung stattgefunden hat.

 

2) Haftbedingungen

 

Die im vergangenen Jahr häufig für die längerfristige Inhaftierung von Asylsuchenden benutzten provisorischen Hafteinrichtungen, die nur für einen Aufenthalt von bis zu 72 Stunden im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungen ausgelegt und somit für eine längerfristige Unterbringung ungeeignet sind, werden seit Beginn dieses Jahres nicht mehr für die Inhaftierung von Asylsuchenden verwendet. Die nunmehr eingesetzten Hafteinrichtungen unterliegen zum Teil einem strengen Gefängnisregime (etwa im Hinblick auf fixiertes Mobiliar, Vergitterung, Besuchsregelungen). Dabei gibt es allerdings je nach Einrichtung auch Lockerungen im Vollzug, wie die auf die Nacht begrenzte Einschließung in Zellen sowie Verbesserungen im Hinblick auf den Zugang zu Aktivitäten im Freien und zu den Sanitäreinrichtungen sowie die Nutzung von Gemeinschaftsräumen. Auch wurden Sozialarbeiter für die betreffenden Einrichtungen eingestellt und Internetzugang zur Verfügung gestellt.

 

Das Hauptproblem, das bei Befragungen von Inhaftierten durch UNHCR im September 2011 festgestellt wurde, betraf Misshandlungen durch Polizeikräfte in den Hafteinrichtungen. Demnach hat es den Anschein, dass Misshandlungen und Belästigungen durch die Polizisten alltäglich vorkommen. Ein syrischer Antragsteller war am Tag eines UNHCR-Recherchebesuchs zusammengeschlagen worden, ein anderer nur ein paar Tage zuvor. Alle interviewten Asylantragsteller beschwerten sich über die Brutalität der Polizei. Demnach gingen zwar nicht alle Polizisten brutal vor, aber einige Beamte provozierten zunächst die Inhaftierten, um sie dann zusammenzuschlagen und verbal zu belästigen. Inhaftierte Asylsuchende haben auch berichtet, dass ihnen systematisch Medikamente oder Beruhigungsmittel verabreicht wurden, was zum Teil zur Abhängigkeit geführt hat. Diese Information wurde von Mitarbeitern der Aufnahmeeinrichtungen bestätigt, wo Asylsuchende nach Ende einer Inhaftierung hinkamen. Zudem müssen inhaftierte Asylsuchende Behördengänge in Handschellen absolvieren, obwohl sie nur wegen irregulärer Einreise oder irregulären Aufenthalts im Gefängnis sind.

 

3) Gefahr der Rückführung nach Serbien und Griechenland

 

Die ungarische Asylbehörde sieht Serbien entgegen der Auffassung von UNHCR nach wie vor als sicheren Drittstaat für Asylsuchende an und schickt jene, die über Serbien eingereist sind, ohne vorherige Prüfung ihres Asylantrags in der Sache nach Serbien zurück. Dies gilt auch für Verfahren, in denen der Antragsteller zuvor aufgrund des Dublin-Systems nach Ungarn rücküberstellt wurde. In nur rund 20% aller Asylverfahren wird eine inhaltliche Prüfung der Fluchtgründe durchgeführt.

 

Die Entscheidungspraxis der ungarischen Gerichte bei eingelegten Rechtsmitteln ist höchst unterschiedlich: Während das Gericht in Budapest in mehreren Fällen in Übereinstimmung mit der UNHCR-Position die Asylbehörde zu einer inhaltlichen Prüfung des Asylantrags verpflichtet hat, werden die Entscheidungen der Behörde vom Gericht in Szeged, das für die meisten Fälle der über Serbien eingereisten Personen zuständig ist, ohne eingehende Prüfung bestätigt.

 

Nach den UNHCR vorliegenden Informationen finden derzeit keine Rückführungen von Ungarn nach Griechenland statt.

 

4) Prüfung des Asylantrags nach der Dublin-Überstellung

 

Ungarn betrachtet gemäß der Dublin-II-Verordnung rückübernommene Asylsuchende als Folgeantragsteller. Dies führt dazu, dass Rechtsmitteln gegen negative Entscheidungen keine automatische aufschiebende Wirkung zuerkannt wird und Leistungen betreffend die Aufnahme im Vergleich zu Erstantragstellern deutlich eingeschränkt sind."

 

Zudem ergibt sich aus dem Bericht "Report based on the Hungarian Helsinki Committee's field mission to Serbia (8-10 June 2011)" vom September 2011 auszugsweise Folgendes im Hinblick auf Asylverfahren in Serbien:

 

"When Hungary (or any other country) sends an asylum seeker back to Serbia, without having his claim examined on the merits, there is a risk of chain refoulement, in the following two cases:

 

o the asylum seeker comes from a country of origin or a third country that Serbia considers as safe; and/or

 

o the asylum seeker asked for asylum in another country before entering Serbia.

 

¿ Serbia has a list of safe third countries that encompasses all neighbouring states, as well as Greece and Turkey, thus asylum seekers entering Serbia from any of these countries are to be automatically returned there without having their claim ever examined on the merits. In light of the grave deficiencies of some of the neighbouring countries' asylum systems (reference could be made for example to the 2011 M.S.S. judgment of the European Court of Human Rights), this practice gives rise to a serious risk of chain refoulement.

 

¿ Based on a provision of the Serbian Asylum Act, if an asylum seeker has already asked for asylum in any other state party to the 1951 Refugee Convention, his/her asylum claim will be automatically rejected in Serbia.

 

Conclusions:

 

The information gathered by the Hungarian Helsinki Committee from a variety of reliable sources demonstrate that the current Serbian asylum system is not sufficiently functional and is neither able to ensure the proper determination of international protection needs for an increasing number of asylum seekers, nor does it provide effective protection for those qualifying for refugee status. In light of this, Hungarian asylum authorities wrongly consider Serbia as a safe third country in their daily practice and wrongly exclude asylum seekers arriving in Hungary through Serbia from an in-merit determination of their protection needs."

 

II. Der Asylgerichtshof hat erwogen:

 

§ 37 Abs. 1 AsylG lautet:

 

Wird gegen eine mit einer zurückweisenden Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz verbundene Ausweisung Beschwerde ergriffen, hat der Asylgerichtshof dieser binnen einer Woche ab Vorlage der Beschwerde durch Beschluss die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen, wenn anzunehmen ist, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Fremden in den Staat, in den die Ausweisung lautet, eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten würde oder für ihn als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde.

 

§ 37 Abs. 2 AsylG lautet:

 

Bei einer Entscheidung, ob einer Beschwerde gegen eine Ausweisung, die mit einer Entscheidung nach § 5 verbunden ist, die aufschiebende Wirkung zuerkannt wird, ist auch auf die gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze der Art. 19 Abs. 2 und 20 Abs. 1 lit e der Dublin-Verordnung und die Notwendigkeit der effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts Bedacht zu nehmen.

 

Der UNHCR-Bericht vom 17.10.2011 (der zuständigen Gerichtsabteilung des AsylGH seit 19.10.2011 vorliegend) spricht von einer "generellen Inhaftierung von Asylsuchenden", wobei eine gerichtliche Überprüfung der Inhaftierung "allerdings eine bloße Formalität" sei. Zudem kommt, dass in dem zitierten Bericht als "Hauptproblem Misshandlungen durch die Polizeikräfte in den Hafteinrichtungen" genannt wird. "Es habe den Anschein, dass Misshandlungen und Belästigungen alltäglich" vorkommen".

 

Als weiteren Problemkreis spricht UNHCR an, dass Ungarn im Rahmen der Dublin II VO rück übernommene Asylwerber als "Folgeantragsteller" ansieht, wodurch Rechtsmittel gegen sie betreffende negative Entscheidungen keine aufschiebende Wirkung ex lege haben, und Ungarn jene Asylwerber, die über Serbien nach Ungarn eingereist sind (wie nach menschlichem Ermessen auch in casu der Beschwerdeführer) nach "Serbien als sicheren Drittstaat" zurückschicken. Vor dem Hintergrund des Berichtes des ungarischen Helsinki Komitees vom September 2011 kann nicht gesagt werden, dass dem von UNHCR angesprochenen Kritikpunkt, dass Serbien seitens Ungarn als sicherer Drittstaat angesehen werde, von vornherein keine Relevanz zukäme.

 

Diese inhaltlich schwerwiegenden Bedenken des UNHCR legen somit einerseits den Schluss nahe, dass polizeiliche Übergriffe an Asylwerbern nicht bloß Einzelfälle darstellen, und andererseits, dass entgegen den erstinstanzlichen Feststellungen nicht gewährleistet erscheint, dass der Beschwerdeführer in Ungarn "ein faires Asylverfahren inklusive einer inhaltlichen Prüfung" erhalten würde.

 

Ohne einer näheren Auseinandersetzung mit dem Bericht des UNHCR, dem als namhafte Organisation bei der Lagebeurteilung jedenfalls Gewicht zukommt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Ungarn keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten würde.

 

§ 37 Abs. 2 AsylG steht der Gewährung der aufschiebenden Wirkung nicht entgegen, da diese zum einen im Sinne der Art. 19 Abs. 2 und 20 Abs. 1 lit e, jeweils letzter Satz, Dublin II VO durch ein Gericht im Einzelfall nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts erfolgt, und zum anderen die Bedachtnahme auf die Notwendigkeit der effektiven Umsetzung des Unionsrechts dort ihre Grenze findet, wo eine Verletzung der EMRK droht.

 

Somit war spruchgemäß zu beschließen.

Schlagworte
aufschiebende Wirkung
Zuletzt aktualisiert am
08.11.2011
Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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