TE OGH 2009/12/22 11Os197/09v

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Veröffentlicht am 22.12.2009
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Der Oberste Gerichtshof hat am 22. Dezember 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon.-Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Schwab, Mag. Lendl und Dr. Bachner-Foregger als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Kleibel als Schriftführer, in der Strafsache gegen Senad M***** wegen der Vergehen nach § 27 Abs 1 erster, zweiter und sechster Fall SMG (aF), AZ 161 Hv 81/05w des Landesgerichts für Strafsachen Wien, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 12. März 2009, GZ 066 Hv 118/08t-121, und die Unterlassung der durch § 494a Abs 3 StPO gebotenen Vorgangsweise erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Knibbe, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien, vom 12. März 2009, GZ 066 Hv 118/08t-121, verletzt das Gesetz

1./ in dem im 16. Hauptstück der StPO verankerten Grundsatz der Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen,

2./ in der Bestimmung des § 56 StGB sowie

3./ in § 494a Abs 3 StPO durch Unterbleiben der Einsichtnahme in die Akten AZ 161 Hv 81/05 des Landesgerichts für Strafsachen Wien.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Widerruf der im Verfahren AZ 161 Hv 81/05w des Landesgerichts für Strafsachen Wien gewährten bedingten Strafnachsicht abgewiesen.

Text

Gründe:

Senad M***** wurde mit (zufolge allseitigen Rechtsmittelverzichts sofort rechtskräftigem) Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 27. Juli 2005, GZ 161 Hv 81/05w-67, des Vergehens nach § 27 Abs 1 erster, zweiter und sechster Fall SMG sowie (richtig:) mehrerer Vergehen nach § 27 Abs 1 erster und zweiter Fall SMG (jeweils idF BGBl I 2002/134) schuldig erkannt und zu einer gemäß § 43 Abs 1 StGB unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt.

Innerhalb der Probezeit verbüßte M***** (bis 27. Jänner 2006) eine (mit Urteil des Bezirksgerichts Floridsdorf vom 19. Oktober 2004, AZ 19 U 199/03t, verhängte) Freiheitsstrafe von sechs Wochen (ON 100 der zuvor genannten Akten). Die Probezeit endete daher mit Ablauf des 7. September 2008 (§ 49 StGB).

Mit (unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem) Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 17. Februar 2009, GZ 161 Hv 81/05w-101, wurde die genannte Freiheitsstrafe (gemäß § 43 Abs 2 StGB) endgültig nachgesehen.

Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 12. März 2009, GZ 066 Hv 118/08t-121, wurde Senad M***** des (innerhalb der - damals noch offenen - zuvor bezeichneten Probezeit begangenen) Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs 1 fünfter Fall, Abs 2 Z 3, Abs 3 zweiter Fall SMG sowie mehrerer Vergehen des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs 2 SMG schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

Mit einem nach § 494a Abs 4 StPO gemeinsam mit dem Urteil verkündeten, gleichfalls unbekämpft in Rechtskraft erwachsenen Beschluss wurde gemäß § 494a Abs 1 Z 4 StPO, § 53 Abs 1 StGB die eingangs genannte bedingte Nachsicht widerrufen. Eine Einsicht in die entsprechenden Akten über die frühere Verurteilung - deren Beischaffung bloß verfügt (ON 107), nicht aber effektuiert worden war (vgl Aktenübersicht sowie den Amtsvermerk ON 181) - unterblieb ebenso wie auch nur in eine Abschrift des früheren Urteils.

Mit Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Vollzugsgericht vom 25. September 2009, GZ 184 BE 240/09y-8 (ON 110 der Bezugsakten), wurde M***** gemäß § 46 Abs 1 StGB ua aus dem Vollzug der vom Widerrufsbeschluss betroffenen Freiheitsstrafe (mit einem Strafrest von vier Monaten und 20 Tagen) bedingt entlassen.

Rechtliche Beurteilung

Der zuvor bezeichnete Widerrufsbeschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 12. März 2009 steht - wie die Generalprokuratur (§ 23 Abs 2 StPO) zutreffend ausführt - in mehrfacher Hinsicht mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Der - zeitlich vorangegangene (rechtskräftige) - Beschluss des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 17. Februar 2009, GZ 161 Hv 81/05w-101, auf endgültige Strafnachsicht bewirkte eine Entscheidungssperre, weshalb darüber nicht neuerlich abgesprochen werden durfte (RIS-Justiz RS0091864). Das Landesgericht für Strafsachen Wien hat durch seine Beschlussfassung gemäß § 494 a Abs 1 Z 4, Abs 4 StPO - schon aus diesem Grund - eine ihm nicht (mehr) zustehende Kompetenz in Anspruch genommen und solcherart den sich aus dem 16. Hauptstück der StPO ergebenden Grundsatz der Bindungswirkung gerichtlicher Entscheidungen verletzt.

Dem Schöffengericht blieb die endgültige Strafnachsicht jedenfalls deshalb verborgen, weil es vor Beschlussfassung nicht in die Akten über die frühere Verurteilung Einsicht genommen hatte. Diese Unterlassung widerspricht der klaren Bestimmung des § 494a Abs 3 StPO, welche eine solche Vorgangsweise jedenfalls dann verlangt, wenn die vom Gesetz hilfsweise anheim gestellte bloße Einsicht in eine Urteilsabschrift (die vorliegendenfalls allerdings, wie erwähnt, gleichfalls nicht vorgenommen wurde) als Entscheidungsgrundlage nicht ausreicht, etwa deshalb, weil - wie hier - wegen des (aus der Strafregisterauskunft unschwer ersichtlichen) länger zurückliegenden rechnerischen Ablaufs der Probezeit (hier: 7. September 2008) die naheliegende Möglichkeit einer zwischenzeitig beschlossenen endgültigen Strafnachsicht besteht (RIS-Justiz RS0101953).

Die Fassung des in Rede stehenden Widerrufsbeschlusses war dem Schöffengericht auch ungeachtet dieser Gesetzesverletzungen schon deshalb versagt, weil gemäß § 56 StGB das Gericht die in §§ 53 bis 55 StGB vorgesehenen Verfügungen wegen einer während der Probezeit begangenen strafbaren Handlung zwar auch nach Ende der Probezeit, jedoch nur innerhalb von sechs Monaten nach deren Ablauf oder nach Beendigung eines bei deren Ablauf gegen den Rechtsbrecher anhängigen Strafverfahrens treffen darf.

Die Probezeit endete - wie erwähnt - mit Ablauf des 7. September 2008.

Der Widerrufsbeschluss vom 12. März 2009 wurde demgemäß nicht innerhalb der sechsmonatigen Frist nach Ablauf der Probezeit gefasst.

Der (früher auf die Gerichtshängigkeit abstellende - Leukauf/Steininger Komm³ § 56 RN 4) Begriff des „anhängigen Strafverfahrens" in § 56 StGB ist mangels legistischer Definition nach der neuen gesetzlichen Systematik und Zuständigkeitsverteilung im Ermittlungsverfahren zu interpretieren: Ein Strafverfahren beginnt und ist demnach „anhängig", sobald Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zur Aufklärung des Verdachts einer Straftat gegen eine bekannte oder unbekannte Person ermitteln oder Zwang gegen eine verdächtige Person ausüben (§ 1 Abs 2 Satz 1 StPO; Jerabek in WK² § 56 Rz 4). Daraus folgt vorliegend, dass im Hinblick auf den demnach maßgeblichen Zeitpunkt der Festnahme des Beschuldigten M***** am 26. September 2008 (ON 2 S 47, 329) als zeitlich erster Verfolgungshandlung das gegen ihn zu AZ 066 Hv 118/08t des Landesgerichts für Strafsachen Wien geführte Strafverfahren bei Ablauf der Probezeit noch nicht anhängig war.

Der demnach aus mehreren Gründen nicht (mehr) zulässig gewesene Widerrufsbeschluss wirkte sich zum Nachteil des Verurteilten aus (§ 292 letzter Satz StPO). Der Oberste Gerichtshof sah sich daher zu dessen Kassation veranlasst; der auf Widerruf zielende Antrag der Staatsanwaltschaft (ON 119 S 23) war abzuweisen. Einer (auf den Gegenstand der von diesem Widerrufsbeschluss betroffenen Freiheitsstrafe bezogenen) teilweisen förmlichen Aufhebung des die bedingte Entlassung des Verurteilten anordnenden Beschlusses des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Vollzugsgericht vom 25. September 2009, GZ 184 BE 240/09y-8, als von dem zu kassierenden Widerrufsbeschluss rechtslogisch abhängiger weiterer Verfügung bedarf es nicht (RIS-Justiz RS0100444; <it>Ratz, WK-StPO § 292 Rz 28). Das Landesgericht für Strafsachen Wien als Vollzugsgericht wird der Kassation des Widerrufsbeschlusses durch eine (beschlussmäßige) Anpassung der Entscheidungsteile, die als Folgewirkung betroffen sind, Rechnung zu tragen haben (vgl 11 Os 42/09z, 43/09x).

Anzumerken bleibt, dass eine Mitteilung an das Strafregisteramt, „den Widerruf als hinfällig zu betrachten" (ON 104 in den Akten 161 Hv 81/05w), keine rechtlich korrekte Abhilfe hinsichtlich des gesetzwidrigen Zustands bieten konnte.

Textnummer

E92772

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2009:0110OS00197.09V.1222.000

Im RIS seit

21.01.2010

Zuletzt aktualisiert am

12.08.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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