TE OGH 2010/10/20 1Ob155/10s

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Veröffentlicht am 20.10.2010
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Hofrat Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte Dr. Fichtenau, Dr. Grohmann, Univ.-Prof. Dr. Kodek und Dr. E. Solé als weitere Richter in der Verlassenschaftssache nach dem am ***** verstorbenen Alfons H*****, über den Revisionsrekurs des Gerhard U*****, vertreten durch Mag. Roland Reisch, Rechtsanwalt in Kitzbühel, gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 28. Mai 2010, GZ 53 R 5/10i, 53 R 49/10k-110, mit dem dem Rekurs der minderjährigen Tochter des Erblassers Nathalie *****, vertreten durch MMag. Dr. Eduard Wallnöfer, Rechtsanwalt in Innsbruck, gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom 15. März 2007 (ON 79) Folge gegeben, der angefochtene Beschluss und das daran anschließende Verfahren als nichtig aufgehoben und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verlassenschaftsverfahrens aufgetragen und die Rekurswerberin mit dem Rekurs gegen den Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom 4. Juni 2009 (ON 93) auf diese Entscheidung verwiesen wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass er lautet:

„Dem Rekurs vom 16. 12. 2009 (ON 104) gegen den Beschluss vom 4. 6. 2009 (ON 93) wird nicht Folge gegeben.

Der Rekurs vom 14. 4. 2010 (ON 107) gegen den Beschluss vom 15. 3. 2007 (ON 79) wird zurückgewiesen.“

Die Parteien haben die Kosten des Revisionsrekursverfahrens jeweils selbst zu tragen.

Text

Begründung:

Der 1935 in Tirol geborene, 2004 in Thailand verstorbene Erblasser hinterließ drei erwachsene, in Deutschland bzw Australien lebende Kinder und die minderjährige, am 24. 5. 1996 geborene uneheliche Tochter Nathalie (auch *****: AS 247/I), die in Thailand bei ihrer Mutter lebt. Das österreichische Vermögen besteht aus zwei in Tirol gelegenen Liegenschaften.

In der als Kodizill bezeichneten letztwilligen Verfügung vom 6. 4. 1992 vermachte der Erblasser diese beiden Liegenschaften seinem Freund Gerhard U***** und führte im Anschluss Folgendes aus:

„Es war schon anlässlich des Ankaufs dieser beiden Liegenschaften 1973/1974 meine Vorstellung, dass ich gemeinsam mit meinem langjährigen Freund Gerhard U***** diese Grundstücke bebauen und durch unsere beiden Familien bewohnen lassen wollte. Leider erfolgte dann ohne Vorwarnung eine Umwidmung in Freiland, sodass diese Absicht vereitelt wurde. Ich gehe aber davon aus, dass vielleicht später einmal Gerhard U***** eine Verbauung durchsetzen kann; ich will jedenfalls, dass nach meinem Ableben diese Grundstücke ins Eigentum des Gerhard U***** übergehen.

Sollte Gerhard U***** diesen Legatsfall nicht erleben oder dieses Vermächtnis nicht annehmen oder annehmen können, treten an seine Stelle seine Kinder zu gleichen Teilen.“

Die drei älteren Kinder des Erblassers verzichteten für sich und etwaige Rechtsnachfolger auf Ansprüche an den Nachlass ihres Vaters und Pflichtteilsansprüche. Nach Bestellung eines Verlassenschaftskurators, Durchführung eines Ediktalverfahrens zur Einberufung unbekannter Verlassenschaftsgläubiger sowie unbekannter Erben wurde die Existenz der jüngsten, in Thailand lebenden Tochter bekannt. Die österreichische Botschaft in Thailand teilte am 13. 12. 2000 mit, dass nach dem Wunsch der Mutter der minderjährigen Nathalie der Gerichtskommissär für die Vertretung im Verlassenschaftsverfahren sorgen sollte (ON 40, Beil ./N).

Mit Beschluss vom 25. 7. 2006 bestellte das Erstgericht für die minderjährige Nathalie zur Wahrung ihrer Erb- und Pflichtteilsansprüche ihren nunmehrigen Rechtsvertreter gemäß § 77 Z 2 iVm § 131 AußStrG alt zum Abwesenheitskurator (ON 55).

Die im Verlassenschaftsverfahren durchgeführte Schätzung der beiden Liegenschaften ergab einen Verkehrswert von insgesamt 41.000 EUR. Die durch ihren Abwesenheitskurator vertretene minderjährige Nathalie und Gerhard U***** schlossen aufgrund der - durch diesen (niedrigen) Wert der Liegenschaften bedingten - Überschuldung des Nachlasses eine Vereinbarung, mit der die minderjährige Tochter gegen Bezahlung von 18.500 EUR auf ihren Pflichtteilsanspruch verzichtete und der Überlassung des Nachlasses an Zahlungs statt an Gerhard U***** zustimmte. Nach Genehmigung dieser Vereinbarung durch das Bezirksgericht Innsbruck als Pflegschaftsgericht überließ das Erstgericht mit Beschluss vom 15. 3. 2007 (ON 79) den aus den beiden Liegenschaften bestehenden, mit (rechnerisch) 51.750,07 EUR überschuldeten Nachlass an Gerhard U***** an Zahlungs statt. Dieser Beschluss wurde unter anderem dem bestellten Abwesenheitskurator zugestellt und wurde nach der Aktenlage rechtskräftig.

Mit Schreiben vom 13. 2. 2009 (ON 88) teilte der frühere Abwesenheitskurator dem Gerichtskommissär mit, dass die an Zahlungs statt überlassenen Liegenschaften mittlerweile von Freiland in Bauland umgewidmet worden seien, die Aktiva der Verlassenschaft damit etwa hundert Mal höher seien und der Verdacht bestehe, dass die Verlassenschaft durch falsche Angaben der Gemeinde, des zuständigen Zivilingenieurs und Raumplaners und Gerhard U*****s zur künftigen Widmungsmöglichkeit gegenüber dem im Verlassenschaftsverfahren beigezogenen Sachverständigen geschädigt worden sei, was insbesondere zum Nachteil der einzig verbliebenen pflichtteilsberechtigten minderjährigen Tochter ausschlage.

Das Erstgericht bestellte daraufhin gestützt auf § 183 AußStrG neu zwecks Einleitung des Verlassenschaftsverfahrens (im Folgenden zur Vereinfachung auch als „Nachtragsabhandlung“ bezeichnet) den früheren Abwesenheitskurator zum Verlassenschaftskurator. In seinem Bericht vom 9. 4. 2009 verwies dieser darauf, dass die am 3. 4. 2008 vom zuständigen Gemeinderat beschlossene Umwidmung von der Aufsichtsbehörde am 8. 9. 2008 genehmigt worden sei, der Vermächtnisnehmer Gerhard U***** am 2. 7. 2008 ein Viertel einer der Liegenschaften dieser Gemeinde geschenkt habe, beide Liegenschaften am 3. 10. 2008 um insgesamt 3.187.500 EUR verkauft worden seien und von diesem Kaufpreis ein Betrag von 1.100.000 EUR an die Gemeinde geflossen sei.

Das Erstgericht erklärte mit Beschluss vom 4. 6. 2009 (ON 93) das Verlassenschaftsverfahren für beendet und begründete das damit, dass die beiden Liegenschaften bereits der Abhandlung unterzogen worden seien und daher nicht erst nach Beendigung des Verlassenschaftsverfahrens bekannt gewordene Vermögenswerte darstellten.

Die minderjährige Tochter beantragte die pflegschaftsbehördliche Genehmigung unter anderem des Anschlusses als Privatbeteiligte im anhängigen Strafverfahren gegen den Bürgermeister der zuständigen Gemeinde zur Geltendmachung allfälliger Schadenersatzansprüche, der Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegen die Gemeinde und das Land Tirol sowie von Schadenersatz- oder Pflichtteilsansprüchen gegen den ehemaligen Legatar Gerhard U*****.

Vertreten durch ihren früheren Abwesenheitskurator als Verfahrenshelfer erhob sie Rekurse gegen den Beschluss über die Überlassung an Zahlungs statt (ON 79), der ihrem bestellten Verfahrenshelfer neuerlich zugestellt worden war, sowie gegen die verfügte Einstellung des Verlassenschaftsverfahrens (der Nachtragsabhandlung) mit Beschluss vom 4. 6. 2009 (ON 93).

Das Rekursgericht hob den Beschluss ON 79 und das darin anschließende Verfahren als nichtig auf, trug dem Erstgericht die Fortsetzung des Verlassenschaftsverfahrens auf und verwies die Rekurswerberin mit ihrem Rekurs gegen den Beschluss vom 4. 6. 2009 (ON 93) auf diese Entscheidung. Es bewertete den Entscheidungsgegenstand mit über 30.000 EUR und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu. Auf das Verlassenschaftsverfahren seien nach § 205 AußStrG neu noch die Bestimmungen des alten AußStrG 1854 anzuwenden. § 77 Z 2 AußStrG alt verpflichte das Verlassenschaftsgericht von Amts wegen Kuratoren für vermutliche Erben oder Miterben, deren Aufenthaltsort unbekannt oder soweit entfernt sei, dass sie in gehöriger Zeit ihre Rechte selbst zu vertreten nicht im Stande seien, zu bestellen. Ein Abwesenheitskurator sei aber nach § 131 AußStrG alt nur dann zu bestellen, wenn dem Gericht die Person eines Erben zwar bekannt, dessen Aufenthalt aber unbekannt sei. Der Aufenthalt der minderjährigen Tochter des Erblassers sei keinesfalls unbekannt gewesen, weshalb die Bestellung des Abwesenheitskurators unzulässig und offenbar gesetzwidrig erfolgt sei. Die mit dem Vermächtnisnehmer bzw Nachlassgläubiger geschlossene Vereinbarung der Minderjährigen sei daher mangels ihrer gesetzmäßigen Vertretung unwirksam. Die Unwirksamkeit ergebe sich außerdem aus der fehlenden pflegschaftsgerichtlichen Genehmigung dieser Vereinbarung durch das nach § 109 Abs 2 JN zuständige Bezirksgericht Innere Stadt Wien. Die angeordnete Überlassung an Zahlungs statt sei daher nichtig und überdies deshalb nicht zulässig gewesen, weil die wesentliche Voraussetzung eines unbedeutenden Nachlasses bei der Existenz von Liegenschaften als Nachlassvermögen gefehlt hätte.

Rechtliche Beurteilung

Der gegen diese Entscheidung erhobene Revisionsrekurs Gerhard U*****s ist zulässig und auch berechtigt.

Aufgrund der Einleitung des Verlassenschaftsverfahrens vor dem 1. 1. 2005 waren nach § 205 AußStrG neu auf das Verfahren erster Instanz (einschließlich der mit Beschluss vom 27. 2. 2009 eingeleiteten Nachtragsabhandlung) die Bestimmungen des alten Außerstreitgesetzes anzuwenden. Für die Nachtragsabhandlung ist dies von untergeordneter Bedeutung, weil die Bestimmungen des § 183 AußStrG neu über die Änderungen der Abhandlungsgrundlagen ohnehin jenen des § 179 AußStrG alt über Nachtragsabhandlungen entsprechen. Nach der Übergangsregelung des § 203 Abs 7 AußStrG neu gelten aber die neuen Bestimmungen über den Rekurs und den Revisionsrekurs (§§ 45 bis 51 und 53 bis 71), weil die beiden angefochtenen erstinstanzlichen Beschlüsse jeweils nach dem 31. 12. 2004 gefasst wurden. Dasselbe gilt nach § 203 Abs 8 AußStrG neu für die Bestimmungen über das Abänderungsverfahren (§§ 72 bis 77).

Der Beschluss des Rekursgerichts zieht eindeutig eine Beeinträchtigung der Rechtsposition des Legatars und Verlassenschaftsgläubigers nach sich, dem der gesamte Nachlass an Zahlungs statt überlassen worden ist und der deshalb auch Eigentum an den beiden Liegenschaften erworben hat. Wieso ihm in dieser Situation keine Rechtsmittellegitimation zuzuerkennen wäre (so die Auffassung der minderjährigen Tochter in der Revisionsrekursbeantwortung), ist nicht ersichtlich.

Die Tochter berief sich in ihren Rekursen auf eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs (§ 58 Abs 1 Z 1 AußStrG). Der Revisionsrekurswerber sieht eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs darin, dass ihm keine Gleichschriften der Rekurse der Minderjährigen zugestellt worden sind.

Im Gegensatz zum Zivilprozess führt aber der genannte, dem § 477 Abs 1 Z 4 ZPO entsprechende, Anfechtungsgrund nicht zwingend zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung (einschließlich des vorangegangenen Verfahrens) (Fucik/Kloiber, AußStrG 212 f). Vielmehr hat der Rechtsmittelwerber die Relevanz des geltend gemachten Anfechtungsgrundes darzulegen (RIS-Justiz RS0120213 [T9]).

Der Revisionsrekurswerber führt in seinem Rechtsmittel überhaupt nicht aus, welches für seinen Standpunkt günstige und relevante Vorbringen er in einer möglichen Rekursbeantwortung erstattet hätte. Deshalb ist die unterlassene Zustellung der Rekurse der Minderjährigen weder als Nichtigkeit noch als - ebenfalls gerügte - Mangelhaftigkeit des Rekursverfahrens aufzugreifen.

In ihrem zuerst erhobenen Rekurs gegen die Einstellung des Verlassenschaftsverfahrens behauptete die Tochter eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs, weil ihr die überraschende Einstellung des Verlassenschaftsverfahrens die Möglichkeit genommen hätte, entsprechendes Vorbringen bzw Anträge zur Verfolgung ihrer rechtlichen Interessen zu erstatten (ON 104 S 4 f). Welches Vorbringen zu einer für sie günstigeren Entscheidung geführt hätte, bleibt dabei völlig offen, weshalb die notwendige Relevanz nicht dargelegt wird.

Das Gleiche gilt für ihre Ausführungen, die von einem unzuständigen Gericht erteilte und damit unwirksame pflegschaftsbehördliche Genehmigung der Vereinbarung begründe die Nichtigkeit der Vereinbarung und damit der Überlassung des Nachlasses an Zahlungs statt. Das Problem liegt hier nämlich darin, dass sich nachträglich (nach dem Verzicht auf Pflichtteilsansprüche und der Beendigung des Verlassenschaftsverfahrens durch die nach der Aktenlage rechtskräftige Überlassung an Zahlungs statt) der Wert der Verlassenschaft durch die am 1. 9. 2008 rechtswirksam gewordene Umwidmung nahezu verhundertfacht haben soll. Dadurch sieht sich die minderjährige Tochter ja beschwert.

Die behauptete nachträgliche Änderung des Werts verwirklicht allerdings die Voraussetzungen für die Einleitung einer Nachtragsabhandlung nach § 179 Abs 1 AußStrG alt nicht. Es handelt sich schon deshalb nicht um unbekanntes, nachträglich neu hervorgekommenes Vermögen, weil die beiden Liegenschaften der Abhandlung unterzogen worden sind (2 Ob 342/98b mwN). Die Argumentation der Tochter bedeutet inhaltlich die Geltendmachung eines Irrtums bei Abschluss der Vereinbarung, in der sie auf Pflichtteilsansprüche verzichtete. Der Senat verkennt keinesfalls den auffälligen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Überlassung an Zahlungs statt und der - behauptetermaßen bereits im April 2008 erfolgten - Umwidmung durch den Gemeinderat sowie die mögliche Bedeutung des (behaupteten) Zahlungsflusses an die Gemeinde. Um diese Vorgänge zu klären, stehen aber das offenbar bereits eingeleitete Strafverfahren sowie allenfalls Zivilprozesse zur Verfügung, in denen die minderjährige Tochter (ebenso wie ihre erwachsenen Halbgeschwister) im Verlassenschaftsverfahren abgegebene Erklärungen anfechten und Pflichtteilsansprüche auf Basis der seit dem Tod des Erblassers eingetretenen Wertsteigerung (Apathy in KBB² § 786 Rz 1) oder Schadenersatzansprüche geltend machen können.

Das von der Minderjährigen angestrebte Ergebnis, eine nachträglich eingetretene Wertsteigerung bereits der Abhandlung unterzogenen Vermögens rechtfertige eine Nachtragsabhandlung, muss auch nicht in jedem Fall sachgerecht sein. Es sind durchaus Fälle denkbar, in denen die Wertvermehrung auf Ursachen zurückzuführen ist, die in der Ingerenz keiner der Beteiligten liegt (marktbedingte „Preisexplosion“ oder Ähnliches). Es entspricht auch der herrschenden Judikatur, dass in eine Nachtragsabhandlung jenes Nachlassvermögen nicht einbezogen werden darf, dass einen Nachlassgläubiger an Zahlungs statt überlassen worden war (RIS-Justiz RS0007672).

Zur Verlassenschaft zählt nach der Definition des § 531 ABGB das im Todeszeitpunkt vorhandene Vermögen. Dessen Wert ist im Verlassenschaftsverfahren zum Todeszeitpunkt hin zu ermitteln (nunmehr § 166 Abs 1 AußStrG neu). Soweit die minderjährige Tochter geltend machte, bei Kenntnis einer möglichen Umwidmung wäre der Wert der Liegenschaften zum Todeszeitpunkt mit 655.900 EUR bis 1.011.960 EUR anzusetzen gewesen, behauptete sie ebenfalls kein neu hervorgekommenes Vermögen, sondern nur eine zu niedrige Schätzung des der Abhandlung zu Grunde gelegten Vermögens.

Der Beschluss des Erstgerichts, das Verlassenschaftsverfahren nicht fortzusetzen, erweist sich daher als zutreffend, weshalb dem gegen diesen Beschluss gerichteten Rekurs nicht Folge zu geben ist.

Ist das Verlassenschaftsverfahren daher nicht fortzusetzen, bleibt die Überprüfung des ebenfalls angefochtenen Beschlusses über die Überlassung an Zahlungs statt. Die Minderjährige berief sich in ihrem Rekurs insbesondere auf eine gesetzwidrige Bestellung des Abwesenheitskurators und deshalb auf eine Nichtigkeit des Verlassenschaftsverfahrens, weil der Rekurswerberin, deren Anschrift bekannt gewesen wäre, nicht die Möglichkeit gegeben worden wäre, selbst über ihre gesetzliche Vertreterin oder über einen gewillkürten Rechtsvertreter vor Gericht zu verhandeln. Als Anfechtungsgrund wurde daher die fehlende gesetzliche Vertretung (§ 58 Abs 1 Z 2 AußStrG neu) geltend gemacht. Der angefochtene Beschluss wurde aber dem bestellten Abwesenheitskurator bereits im Jahr 2007 zugestellt und ist nach der Aktenlage in Rechtskraft erwachsen.

Damit stellt sich das Problem der „Scheinrechtskraft“ und der ausschließlichen Zulässigkeit eines Abänderungsantrags nach § 73 AußStrG neu, den § 180 Abs 2 AußStrG neu ausdrücklich nur bei einer - hier nicht gegebenen - (rechtskräftigen) Einantwortung ausschließt.

Das AußStrG 1854 enthielt keine Regelungen über eine Nichtigerklärung oder Wiederaufnahme entsprechend §§ 529 ff ZPO. Die ständige höchstgerichtliche Judikatur schloss eine analoge Anwendung dieser Bestimmungen in Verfahren nach dem AußStrG 1854 aus (RIS-Justiz RS0007194; 6 Ob 82/07p). Diese Situation hat sich durch die Regeln des neuen AußStrG über den Abänderungsantrag (§§ 72 ff), die den §§ 529 ff ZPO nachgebildet sind, grundlegend geändert. Nach § 73 Abs 1 AußStrG setzt ein Abänderungsantrag eine rechtskräftige Entscheidung über die Sache voraus.

In den beiden zuerst genannten Fällen des § 73 Abs 1 AußStrG kann die Abänderung eines rechtskräftigen Beschlusses dann beantragt werden, wenn die Partei in dem vorangegangenen Verfahren nicht vertreten war (Z 1) oder die Partei eines gesetzlichen Vertreters bedarf und nicht durch einen solchen vertreten war und die Verfahrensführung nicht nachträglich genehmigt wurde (Z 2). Nur in diesen beiden Fällen ist nach § 74 Abs 5 AußStrG ein Abänderungsantrag noch nach Ablauf einer 10-jährigen Frist ab Rechtskraft der Entscheidung zulässig.

Ein verstärkter Senat des Obersten Gerichtshofs hat in seiner Entscheidung 1 Ob 6/01s = SZ 74/200 = RIS-Justiz RS0116036 für das streitige Verfahren folgenden Rechtssatz formuliert:

„Unter Rechtskraft im Sinn des § 529 Abs 1 Z 2 und Abs 2 und des § 534 Abs 2 Z 2 und Abs 3 ZPO ist die formelle Rechtskraft, die auch dann eintritt, wenn die Prozessunfähigkeit der Partei nicht erkannt wurde. Die Partei, die ihre Prozessunfähigkeit behauptet, kann mit dem ihr zu Gebote stehenden ordentlichen Rechtsmittel den Nichtigkeitsgrund geltend machen. Ist die Rechtsmittelfrist verstrichen, daher die formelle Rechtskraft eingetreten, kann sie spätestens vier Wochen nach der - jedoch keine Zulässigkeitsvoraussetzung bildenden - Zustellung an ihren gesetzlichen Vertreter die Nichtigkeitsklage aus dem Grund des § 529 Abs 1 Z 2 ZPO erheben.“

In der Entscheidungsbegründung führte der verstärkte Senat aus, dass die Anordnungen des § 534 ZPO nur dann aufeinander abgestimmt werden könnten, wenn der Eintritt der Rechtskraft, der dort den Lauf der Klagefrist auslöst, an den Ablauf der Rechtsmittelfrist nach Zustellung an die prozessunfähige Partei geknüpft werde. Unter dem in § 534 Abs 3 ZPO gebrauchten Begriff der „Rechtskraft“ sei die formelle Rechtskraft zu verstehen, weil sich andernfalls die in dieser Regelung für Fälle der gesetzlichen Vertretung vorgesehene Ausnahme von der ab dem Eintritt der Rechtskraft der Entscheidung zu rechnenden 10-Jahresfrist als inhaltsleer erweise oder sich gerade in ihr Gegenteil verkehre. Es stehe dieser Partei, gleichviel wann sie bzw ihr gesetzlicher Vertreter vom Nichtigkeitsgrund erfahren habe, jederzeit offen, die Nichtigkeitsklage zu erheben. Dieses Verständnis der Rechtskraft erstrecke sich auch auf § 529 ZPO, weshalb die Zustellung an den gesetzlichen Vertreter keine Voraussetzung für die Nichtigkeitsklage sei.

An dieser Auffassung zur ausschließlichen Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage nach Eintritt der formellen Rechtskraft hat der Oberste Gerichtshof in den vergleichbaren Fällen der (im Verfahren nicht erkannten) mangelnden gesetzlichen Vertretung prozessunfähiger Parteien in der Folge ungeachtet der von einem Teil der Lehre geäußerten Kritik (Jelinek in Fasching/Konecny² IV/1 § 529 ZPO Rz 89 - 101; Dokalik/Trauner, Die Nichtigkeitsklage - vom Mauerblümchen zum Masseverfahren? RZ 2005, 206: „Sand in das bislang recht rund laufende Getriebe der Praxis“) festgehalten (zuletzt 1 Ob 71/10p).

Lediglich im Fall der fehlenden Verfügungsbefugnis des Gemeinschuldners (jetzt: Schuldners) im Fall der Eröffnung des Konkursverfahrens (jetzt: Insolvenzverfahrens) hat der Oberste Gerichtshof in der Entscheidung 2 Ob 37/08t die ausschließliche Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage nach Eintritt der „Scheinrechtskraft“ (Ablauf der Frist zur Erhebung ordentlicher Rechtsmittel ab Zustellung der Entscheidung an den Gemeinschuldner) verneint. Dabei wurde dieser Fall mit dem vom verstärkten Senat beurteilten deshalb als nicht vergleichbar angesehen, weil das Faktum der Konkurseröffnung und somit der fehlenden Verfügungsunfähigkeit des Gemeinschuldners aus der Insolvenzdatei sofort eindeutig eruierbar sei und daher keiner Prüfung in einem kontradiktorischen Verfahren bedürfe. Anders als bei einer wegen Behinderung iSd § 268 ABGB geschäftsunfähigen Person gehe es im Konkurs nicht primär um den Schutz des Gemeinschuldners, sondern der Konkursmasse und somit der Konkursgläubiger. Auch das in den §§ 6, 7 KO ausdrücklich verankerte Prozessführungsmonopol des Masseverwalters für konkursverfangene Ansprüche spreche für eine unterschiedliche Behandlung und eine großzügig anzunehmende Möglichkeit der Wahrnehmung der Nichtigkeit von Zivilprozessen.

Eine Abgrenzung zur Entscheidung des verstärkten Senats nimmt die höchstgerichtliche Judikatur - abgesehen von der vereinzelt gebliebenen Entscheidung 6 Ob 127/03z - im Fall einer wegen Ortsabwesenheit formell unwirksamen Zustellung vor. Diese Verletzung der Zustellvorschriften ist mit einem Antrag nach § 7 Abs 3 EO geltend zu machen, nicht aber mit einer Nichtigkeitsklage (5 Ob 261/05a; 7 Ob 5/06w; 4 Ob 182/06b).

Da die Bestimmungen über den Abänderungsantrag nach den §§ 72 ff AußStrG neu jenen der ZPO nachgebildet sind, gilt der vom verstärkten Senat geprägte Grundsatz, dass ein in „Scheinrechtskraft“ erwachsener Beschluss (in den Fällen der nicht erkannten Prozessunfähigkeit) nicht mehr mit einem ordentlichen Rechtsmittel, sondern nur mehr mit einem Abänderungsantrag bekämpfbar ist, auch für das neue Außerstreitverfahren (Klicka in Rechberger, AußStrG § 73 Rz 1; 6 Ob 228/09m). Ein anderes Verständnis ließe § 73 Abs 1 Z 2 AußStrG neu keinen Anwendungsraum, welche Absicht dem Gesetzgeber insbesondere bei Kenntnis der Entscheidung des verstärkten Senats nicht unterstellt werden kann.

Die Minderjährige beruft sich hier auf eine fehlende gesetzliche Vertretung als Folge einer behaupteten gesetzwidrigen Bestellung des Abwesenheitskurators. Diese Fallkonstellation ist jener, die der Beurteilung des verstärkten Senats unterlag, durchaus vergleichbar. Der Minderjährigen steht damit nur die Möglichkeit zu, den rechtskräftigen Beschluss mit einem Abänderungsantrag zu bekämpfen, während der Rekurs ausgeschlossen ist. Bei diesem Ergebnis ist es nicht erforderlich, die Fragen zu beantworten, ob die Bestellung des Abwesenheitskurators tatsächlich gesetzwidrig war oder die Verfahrensführung insbesondere durch die Zuwendung des Vergleichsbetrags nachträglich genehmigt wurde.

Anzumerken ist noch, dass das Rekursgericht zwar sowohl die Bestellung des Abwesenheitskurators als auch die mit der Minderjährigen abgeschlossene Vereinbarung als nichtig gewertet hat, dennoch aber das Verlassenschaftsverfahren - von der Minderjährigen unbekämpft - nicht ab dem Bestellvorgang als nichtig aufgehoben hat, sondern nur den Beschluss über die Überlassung des Nachlasses an Zahlungs statt (ON 79) und das daran anschließende Verfahren.

Die Argumente der Minderjährigen, bei Kenntnis einer Umwidmungsmöglichkeit hätte der Wert der Liegenschaften berechnet auf den Todeszeitpunkt 70 % des Baulandwerts betragen, könnten nur als Abänderungsgrund iSd § 73 Abs 1 Z 6 AußStrG neu (Kenntnis von neuen Tatsachen) geltend gemacht werden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 185 AußStrG neu.

Textnummer

E95572

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2010:0010OB00155.10S.1020.000

Im RIS seit

29.11.2010

Zuletzt aktualisiert am

22.02.2013
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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