TE OGH 2011/1/20 Bsw9300/07

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Veröffentlicht am 20.01.2011
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Herrmann gegen Deutschland, Urteil vom 20.1.2011, Bsw. 9300/07.

Spruch

Art. 9, 11, 14 EMRK, Art. 1 1. Prot. EMRK - Jagdausübungsrechte auf fremden Grundstücken.

Zulässigkeit der Beschwerden unter Art. 1 1. Prot. EMRK alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK sowie unter Art. 9 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der übrigen Beschwerdepunkte (mehrheitlich).

Keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK (4:3 Stimmen).

Keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK in verbindung mit Art. 14 EMRK (4:3 Stimmen).

keine Verletzung von Art. 9 EMRK (6:1 Stimmen).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf., ein deutscher Staatsbürger, besitzt zwei Grundstücke in Rheinland-Pfalz, die jeweils kleiner als 75 Hektar sind. Nach dem deutschen Bundesjagdgesetz sind Eigentümer von Grundstücken, die kleiner als 75 Hektar sind, de jure Mitglieder einer Jagdgenossenschaft, während Eigentümer größerer Grundstücke ihr Revier selbst verwalten dürfen. Somit ist der Bf. automatisch Mitglied einer Jagdgenossenschaft, im vorliegenden Fall der Gemeinde Langsur.

Am 14.2.2003 reichte der Bf., der die Jagd aus ethischen Gründen ablehnt, einen Antrag bei der Jagdbehörde ein, um die Zugehörigkeit zur Jagdgenossenschaftzu beenden. Die Behörde lehnte seinen Antrag ab. Der Bf. erhob Klage beim Verwaltungsgericht Trier. Unter Berufung insbesondere auf das Urteil des EGMR im Fall Chassagnou u.a./F (GK) forderte er das Gericht auf festzustellen, dass er kein Mitglied der Jagdgenossenschaft der Gemeinde Langsur sei.

Am 14.1.2004 wies das Verwaltungsgericht Trier den Antrag des Bf. ab. Nach seiner Auffassung verletze das Bundesjagdgesetz die Rechte des Bf. nicht. Im Hinblick auf das Chassagnou-Urteil war das Verwaltungsgericht der Ansicht, dass sich die Situation in Deutschland von der in Frankreich unterscheide.

Am 13.7.2004 und 14.4.2005 wiesen das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz und das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Bf. aus den gleichen Gründen wie das Verwaltungsgericht zurück.

Am 13.12.2006 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die Verfassungsbeschwerde des Bf. zur Entscheidung zuzulassen. Es stellte zu Beginn fest, dass die Bestimmungen des Bundesjagdgesetzes das Recht des Bf. auf friedlichen Genuss seines Eigentums nicht verletzen, sondern die Ausübung dieses Rechts in angemessener Weise definieren und beschränken würden. Die maßgeblichen Bestimmungen, die ein legitimes Ziel verfolgten, seien notwendig und würden nicht zu einer übermäßigen Belastung der Grundstückeigentümer führen. Sie würden die im Allgemeininteresse gelegenen Ziele verfolgen, einen gesunden und vielfältigen Wildbestand zu sichern, Wildschäden zu vermeiden und die Beeinträchtigung einer ordnungsgemäßen land-, forst- und fischereiwirtschaftlichen Nutzung zu unterbinden.Die Auswirkungen auf die Eigentumsrechte seien nicht besonders erheblich und würden das Allgemeininteresse nicht überwiegen. Das Verfassungsgericht stellte weiters fest, dass die Beschwerde des Bf. zwar in den Bereich der Gewissensfreiheit falle, aber keine Verletzung dieses Rechts vorliege, da der Bf. nicht gezwungen worden sei, die Jagd selbst auszuüben, an der Jagd teilzunehmen oder sie zu unterstützen.

Bezüglich seines Rechts auf Gleichbehandlung wurde ebenfalls keine Verletzung festgestellt mit der Begründung, dass das Bundesjagdgesetz für alle Grundstückseigentümer in Deutschland bundesweit bindend sei und Grundstückseigentümer mit Ländereien größer als 75 Hektar die gleichen Verpflichtungen im Jagdwesen wie jene hätten, die einer Jagdgenossenschaft angehören.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. rügt Verletzungen von Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), von Art. 11 EMRK (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) alleine und in Verbindung mit Art. 14 EMRK sowie von Art. 9 EMRK (hier: Recht auf Gewissensfreiheit).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK

Der Bf. behauptet, die Zulassung der Jagdausübung auf seinem Grund und die obligatorische Mitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft würden eine Verletzung seines Rechts auf friedlichen Genuss seines Eigentums darstellen.

1. Zur Zulässigkeit

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist demnach für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. In der Sache

Es ist unstrittig, dass die Verpflichtung des Bf., die Jagdausübung auf seinem Grundstück zu erlauben, in sein Recht auf Achtung des Eigentums eingreift. Der GH erkennt jedoch, dass die Bestimmungen des Bundesjagdgesetzes die Verwaltung und die Aufrechterhaltung eines vielfältigen und gesunden Wildbestands zum Ziel haben und sie außerdem auf die Vermeidung von Schäden – verursacht durch Wildtiere – gerichtet sind. Diese Ziele liegen im Interesse der Allgemeinheit.

Im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs nimmt der GH zur Kenntnis, dass das entsprechende Gesetz die Erhaltung einer gesunden Fauna im Einklang mit den ökologischen und ökonomischen Gegebenheiten bezweckt. Auch wenn es der Wahrheit zu entsprechen scheint, dass die Jagd in erster Linie von Privatpersonen in ihrer Freizeit ausgeübt wird, darf der Zweck des Bundesjagdgesetzes nicht dahingehend eingeschränkt werden, lediglich bestimmten Personen zu ermöglichen, eine Freizeitbeschäftigung auszuüben.

Das Gericht nimmt das Argument der deutschen Regierung zur Kenntnis, dass es aufgrund der Situation in Deutschland als eines der dichtest besiedelten Gebiete in Mitteleuropa notwendig ist, eine ziemlich verbreitete Jagdausübung auf allen geeigneten Grundstücken zuzulassen. Das Bundesjagdgesetz ist in Deutschland bundesweit anwendbar, was sich von der Situation im Fall Chassagnou/F unterscheidet, wo nur 29 der 93 Departements von der Regelung bezüglich der obligatorischen Mitgliedschaft in Jagdverbänden betroffen waren. Die deutsche Rechtsordnung hat im Übrigen weder private noch öffentliche Eigentümer von der Verpflichtung befreit, die Jagdausübung auf ihren Grundstücken zu dulden.

In dieser Hinsicht ist die Lage von jener im Fall Schneider/L zu unterscheiden, in dem das Eigentum der Krone aus der Mitgliedschaft an Jagdgenossenschaften ausgeschlossen wurde. Auch wenn Grundstücke von mindestens 75 Hektar nicht zusammengefasst werden, befreit dies die Eigentümer dieser Grundstücke nicht davon, die Jagd selbst auszuüben oder sie auf ihrem Gelände zu tolerieren.

Die im Bundesjagdgesetz vorgesehenen Ausnahmen von der flächendeckenden Jagdausübung sind durch allgemeine und jagdspezifische Interessen ausreichend begründet und stellen das Prinzip der flächendeckenden Jagdausübung nicht in Frage.

Der GH stellt weiters fest, dass laut Bundesjagdgesetz der Bf. Anspruch auf einen Anteil des Gewinns aus dem Pachtverhältnis (Anm.: Laut § 10 Abs. 1 Bundesjagdgesetz nutzt die Jagdgenossenschaft die Jagd in der Regel durch Verpachtung. Sie kann die Verpachtung auf den Kreis der Jagdgenossen beschränken.) analog zur Größe seines Landbesitzes hat. Obwohl der Geldbetrag, den der Bf. in Anspruch nehmen könnte, nicht bedeutend erscheint, verhindern die einschlägigen Bestimmungen trotzdem, dass andere Personen einen finanziellen Gewinn aus der Verwendung seines Grundstückes ziehen können. Er hat ferner Anspruch auf Schadenersatz für Schäden, die durch die Jagdausübung auf seinem Grundstück verursacht werden könnten.

Gestützt auf den weiten Ermessensspielraum, der den Vertragsstaaten in diesem Bereich gewährt wird, sind die Erwägungen ausreichend, um festzustellen, dass die Regierung einen fairen Ausgleich zwischen den konkurrierenden Interessen geschaffen hat.

Aus diesen Gründen befindet der GH, dass keine Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK vorliegt (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richter Lorenzen und den Richterinnen Berro-Lefèvre und Kalaydjieva).

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 1 1. Prot. EMRK iVm. Art. 14 EMRK

Der Bf. macht geltend, dass die Bestimmungen des Bundesjagdgesetzes ihn in zweierlei Hinsicht diskriminieren, nämlich erstens in Bezug auf sein Eigentum und zweitens bezüglich seiner ethischen Überzeugungen. Er beruft sich auf Art. 1 1. Prot. EMRK iVm. Art. 14 EMRK.

1. Zur Zulässigkeit

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie ist demnach für zulässig zu erklären (einstimmig).

2. In der Sache

Es besteht zwar eine Ungleichbehandlung zwischen den Eigentümern kleiner Grundstücke und denen von größeren, indem die letzteren sich frei entscheiden können, in welcher Weise sie ihre Verpflichtung aus dem Jagdrecht erfüllen. Allerdings stimmt der GH der deutschen Regierung zu, dass diese unterschiedliche Behandlung speziell durch die Notwendigkeit gerechtfertigt war, kleinere Grundstücke zu vereinigen, um eine breite Jagdausübung zu ermöglichen und somit eine effiziente Verwaltung des Wildbestandes zu gewährleisten. Hinsichtlich der Tatsache, dass der Bf. anders behandelt wurde als Eigentümer von Grundstücken, die nicht einem Jagdgebiet angehören, ist der GH der Auffassung, dass deren Befreiung von der allgemeinen Regelung der Mitgliedschaft in Jagdgenossenschaften aufgrund der spezifischen Gegebenheiten der jeweiligen Grundstücke erfolgte, was die unterschiedliche Behandlung rechtfertigt.

Demnach ist keine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK festzustellen (4:3 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richter Lorenzen und den Richterinnen Berro-Lefèvre und Kalaydjieva).

III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 11 EMRK

Der Bf. rügt, die obligatorische Mitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft verletze sein Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit nach Art. 11 EMRK.

Der GH stellt fest, dass die Jagdgenossenschaften im Land Rheinland-Pfalz in Form von öffentlich-rechtlichen Vereinigungen gegründet wurden. Sie unterstehen der Kontrolle der Jagdbehörden und ihre internen Satzungen benötigen die Zustimmung dieser Behörden. Jagdgenossenschaften dürfen weiterhin Kostenaufträge über Verwaltungsakte erlassen, die vom Finanzministerium zu vollstrecken sind. Sie sind somit staatlicher Aufsicht unterworfen, welche die übliche Beaufsichtigung von privaten Vereinigungen deutlich überschreitet. Der GH hält sie daher für ausreichend integriert in die staatlichen Strukturen, um sie somit als öffentlich-rechtliche Institutionen zu qualifizieren. Daraus folgt, dass sie nicht als »Vereinigungen« iSv. Art. 11 EMRK zu klassifizieren sind. Art. 11 EMRK ist folglich nicht anwendbar. Demnach ist die Beschwerde für unzulässig zu erklären (mehrheitlich; Sondervotum von Richterin Kalaydyieva).

IV. Zur behaupteten Verletzung von Art. 11 iVm. Art. 14 EMRK

Der Bf. rügt weiters eine Diskriminierung bezüglich der obligatorischen Mitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft.

Der GH wiederholt, dass Art. 14 EMRK die anderen materiellrechtlichen Bestimmungen der EMRK und ihrer Protokolle ergänzt. Er hat keine unabhängige Existenz, da er nur in Zusammenhang mit der Ausübung der Rechte und Freiheiten, die durch diese Bestimmungen geschützt sind, wirkt.

Der GH hat bereits befunden, dass Art. 11 EMRK im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Es wird festgestellt, dass Art. 14 EMRK nicht geltend gemacht werden kann und somit ist die Beschwerde wegen Unzulässigkeit ratione materiae zurückzuweisen (mehrheitlich).

V. Zur behaupteten Verletzung von Art. 9 EMRK

Die Beschwerde ist zwar zulässig (einstimmig), der GH hält es jedoch nicht für notwendig zu prüfen, ob die Beschwerde des Bf. unter den Anwendungsbereich von Art. 9 EMRK fällt.

Es liegt daher keine Verletzung von Art. 9 EMRK vor (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richterin Kalaydyieva).

Vom GH zitierte Judikatur:

Le Compte, Van Leuven und De Meyere/B v. 23.6.1981, EuGRZ 1981, 551.

Chassagnou u.a./F v. 29.4.1999 (GK), NL 1999, 94; ÖJZ 2000, 113.

Haas/NL v. 13.1.2004.

Schneider/L v. 10.7.2007.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.1.2011, Bsw. 9300/07, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 23) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_1/Herrmann.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Textnummer

EGM01057

Im RIS seit

13.05.2011

Zuletzt aktualisiert am

07.03.2017
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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