TE OGH 2011/3/10 Bsw2700/10

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Veröffentlicht am 10.03.2011
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Kiyutin gg. Russland, Urteil vom 10.3.2011, Bsw. 2700/10.

Spruch

Art. 8 EMRK, Art. 14 EMRK - Keine Aufenthaltserlaubnis für HIV-Infizierte.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis (einstimmig).

Unzulässigkeit der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 15.000,– für immateriellen Schaden; € 350,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. wurde 1971 in der UdSSR geboren und erhielt später die usbekische Staatsbürgerschaft. 2003 zog er nach Russland und heiratete eine russische Staatsangehörige. Ihr gemeinsames Kind kam 2004 zur Welt.

Im August 2003 suchte der Bf. um eine Aufenthaltserlaubnis an. Er wurde aufgefordert, sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen, bei der er positiv auf HIV getestet wurde. Sein Antrag auf Aufenthaltserlaubnis wurde aufgrund dessen abgewiesen und diese Entscheidung letztinstanzlich bestätigt.

Im April 2009 suchte der Bf. erneut um eine befristete Aufenthaltserlaubnis an. Diese wurde am 26.6.2009 unter Bezugnahme auf § 7 Abs. 1 lit. 13 des Fremdengesetzes zurückgewiesen, der eine Aufenthaltserlaubnis für Fremde, die nicht nachweisen konnten, HIV-negativ zu sein, ausschließt. Der Bf. wurde angewiesen, Russland innerhalb von drei Tagen zu verlassen. Er focht diese Entscheidung vor dem Bezirksgericht Severniy von Oryol an, das die Beschwerde jedoch am 13.8.2009 zurückwies. Eine Berufung an das Landesgericht Oryol wurde am 26.9.2009 summarisch zurückgewiesen.

Am 25.11.2009 verweigerte das Landesgericht Oryol die Durchführung eines Überprüfungsverfahrens und bestätigte die früheren Urteile. Das Argument des Bf., die Gerichte hätten seine familiäre Situation und seinen Gesundheitszustand außer Acht gelassen, sei kein Grund für die Aufhebung der gerichtlichen Entscheidungen. Die Gerichte könnten zwar die Umstände eines spezifischen Falles auf Basis humanitärer Erwägungen berücksichtigen, doch seien sie dazu nicht verpflichtet. Das Gesetz verbiete die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis, wenn der Betroffene HIV-positiv ist.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet Verletzungen von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz), Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) und von Art. 15 EMRK (Abweichungen im Notstandsfall). Wie der GH anmerkt, liegt der Schwerpunkt des vorliegenden Falls auf der unterschiedlichen Behandlung, die dem Bf. aufgrund seines Gesundheitszustands bei der Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis zuteil wurde. Er hält es daher für angebracht, die Vorbringen aus Sicht von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK zu untersuchen.

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig und wird daher für zulässig erklärt (einstimmig).

I. Zur Anwendbarkeit von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Auch wenn Art. 8 EMRK kein Recht auf Niederlassung in einem bestimmten Land oder auf eine Aufenthaltserlaubnis garantiert, muss ein Staat seine Immigrationspolitik dennoch in einer Art und Weise gestalten, die mit den Menschenrechten eines Fremden, insbesondere mit dessen Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens und mit dem Diskriminierungsverbot, vereinbar ist. Nicht alle niedergelassenen Migranten genießen notwendigerweise "Familienleben" iSv. Art. 8 EMRK. Das Konzept des "Familienlebens" muss aber jedenfalls Verbindungen beinhalten, die aus einer rechtmäßigen und aufrichtigen Heirat resultieren, so wie sie vom Bf. mit seiner russischen Ehefrau geschlossen wurde. Nach Ansicht des GH fallen die Fakten des vorliegenden Falls daher in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK.

Art. 14 EMRK verbietet unterschiedliche Behandlungen, die auf einer feststellbaren, objektiven und persönlichen Eigenschaft oder einem "Status" gründen, die bzw. der Personen oder Personengruppen voneinander unterscheidbar macht. Die in Art. 14 EMRK genannte Liste spezifischer Gründe ist dabei nicht abschließend und der Begriff "sonstiger Status" wird weit ausgelegt.

Nachdem festgestellt worden war, dass der Bf. HIV-positiv ist, wurde es für ihn aufgrund einer nationalen Bestimmung rechtlich unmöglich, rechtmäßigen Aufenthalt zu erlangen. Der GH hat jüngst anerkannt, dass körperliche Behinderungen und diverse Gesundheitsschädigungen unter Art. 14 EMRK fallen können. Die UN-Menschenrechtskommission vertrat die Ansicht, dass in Bestimmungen internationaler Rechtsinstrumente, die ein Diskriminierungsverbot normieren, der Begriff "sonstiger Status" auch den Gesundheitszustand, HIV-Infektionen mit einbezogen, umfassen kann. Dieser Ansatz ist vereinbar mit der Empfehlung 1116 (1989) der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, die zur Stärkung von Art. 14 EMRK im Wege der Aufnahme des Gesundheitszustands als einem verbotenen Diskriminierungsgrund aufruft, sowie mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die ein generelles Verbot der Diskriminierung wegen Behinderung enthält. Der GH gelangt daher zu der Ansicht, dass eine Unterscheidung aufgrund des Gesundheitszustands einer Person, inklusive Umständen wie einer HIV-Infektion, unter den Begriff "sonstiger Status" nach Art. 14 EMRK gereiht werden sollte. Die genannte Bestimmung ist folglich iVm. Art. 8 EMRK anwendbar.

II. Zur Einhaltung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK

Als Ehemann und Vater von russischen Staatsangehörigen war der Bf. in der Position, aufgrund seiner familiären Beziehungen um eine Aufenthaltserlaubnis anzusuchen. Für die Antragsstellung war es erforderlich, mittels Attest nachzuweisen, dass man nicht HIV-infiziert war. Da beim Bf. eine HIV-Infektion festgestellt worden war, konnte er diesen Nachweis nicht erbringen. Diese Tatsache war der einzige von den Behörden angegebene Grund für die Zurückweisung seines Antrags. Nach Meinung des GH kann der Bf. daher behaupten, in einer Situation zu sein, die mit jener von anderen Ausländern vergleichbar ist, die das Ziel haben, in Anbetracht ihrer familiären Beziehungen um eine Aufenthaltserlaubnis in Russland anzusuchen.

Seit Ausbruch der Epidemie in den 1980er Jahren haben an HIV/AIDS erkrankte Personen unter weit verbreitetem Stigma und ebensolcher Ausgrenzung gelitten. Die Unwissenheit darüber, wie sich die Krankheit verbreitet, schuf Vorurteile, wodurch jene, die mit dem Virus infiziert waren, stigmatisiert und marginalisiert wurden. HIV-Infektionen wurden auf Verhaltensweisen wie gleichgeschlechtlichen Sexualverkehr, Drogeninjektionen, Prostitution oder sexuelle Freizügigkeit zurückgeführt. Dadurch wurde eine falsche Verknüpfung zwischen der Infektion und persönlicher Verantwortungslosigkeit geschaffen. Trotz erheblicher Fortschritte bei der HIV-Prävention und besserem Zugang zu Behandlungen bleiben Stigma und Diskriminierung gegen Personen, die mit HIV/AIDS leben, weiterhin besorgniserregend. Die Betroffenen bilden eine verletzliche Gruppe mit einer Geschichte von Vorurteilen. Dem Staat sollte daher nur ein enger Ermessensspielraum zustehen, wenn er Maßnahmen wählt, die diese Gruppe herausgreifen und aufgrund ihrer HIV-Betroffenheit einer unterschiedlichen Behandlung unterwerfen.

Wie der GH feststellt, verlangen nur sechs der 47 Mitgliedstaaten des Europarats von einer Person, die einen Antrag auf Aufenthaltserlaubnis stellt, die Vorlage eines negativen HIV-Tests, nur ein Staat fordert eine entsprechende Erklärung und lediglich drei Staaten sehen Bestimmungen zur Ausweisung von HIV-positiven Ausländern vor. Da dies keinen gefestigten europäischen Konsens widerspiegelt, muss der verantwortliche Staat eine besonders zwingende Rechtfertigung für die unterschiedliche Behandlung vorbringen.

Aus einer Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 12.5.2006 ist ableitbar, dass die Beschränkung des vorübergehenden Aufenthalts HIV-infizierter Ausländer das Ziel verfolgte, die öffentliche Gesundheit zu schützen. Dies ist zweifellos legitim, begründet für sich jedoch noch nicht die Rechtmäßigkeit der spezifischen Behandlung des Bf. aufgrund seines Gesundheitszustands.

Der GH hält die Vorbringen der Drittpartei durchaus relevant, wonach unter Experten und unter im Bereich der öffentlichen Gesundheit tätigen internationalen Einrichtungen Einigkeit darüber besteht, dass Reisebeschränkungen von HIV-positiven Personen nicht unter Verweis auf Anliegen der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt werden können. Auf europäischer Ebene haben etwa das Europäische Parlament und die Europäische Kommission anerkannt, dass es keine objektiven Gründe für die Verhängung eines Reiseverbots für HIV-infizierte Personen gibt.

Reisebeschränkungen sind zwar hilfreich bei hoch ansteckenden Krankheiten mit kurzer Inkubationszeit wie Cholera, Gelbfieber, SARS oder Vogelgrippe. Die schlichte Präsenz eines HIV-Infizierten in einem Staat stellt jedoch für sich noch keine Gefahr für die öffentliche Gesundheit dar. HIV wird nicht beiläufig, sondern durch bestimmte Verhaltensweisen wie Geschlechtsverkehr oder gemeinsame Verwendung von Spritzen als Hauptwege übertragen. Das ermöglicht auch HIV-negativen Personen, Schritte zu ihrem eigenen Schutz zu ergreifen. HIV-positive Ausländer von Einreise oder Aufenthalt auszuschließen, beinhaltet die Vermutung, diese Personen würden ein spezifisches ungeschütztes Verhalten an den Tag legen und die Staatsbürger würden ihrerseits daran scheitern, sich zu schützen. Dies führt zu einer nicht erwiesenen Generalisierung, die die individuelle Situation, etwa jene des Bf., nicht berücksichtigt. Nach russischem Recht ist zudem jedes Verhalten einer HIV-positiven Person, die von ihrem Zustand Kenntnis hat und einen anderen der Gefahr einer HIV-Infektion aussetzt, mit Freiheitsstrafe bedroht.

Darüber hinaus scheint Russland weder HIV-bezogene Reisebeschränkungen für Touristen oder Kurzzeitbesucher, noch HIV-Tests für russische Staatsbürger vorzusehen, die das Land verlassen und wieder einreisen. Es gibt keinen Grund, weshalb diese in geringerem Maße ungeschützte Verhaltensweisen an den Tag legen würden als niedergelassene Migranten. Die Anwendung HIV-bezogener Beschränkungen allein auf potentiell langfristig Niedergelassene ist kein geeigneter Ansatz zur Verhinderung der Übertragung von HIV durch HIV-positive Migranten. In der ersten Zeit der Infektion werden die bestehenden HIV-Tests zudem nicht in jedem Fall den HIV-positiven Status einer Person erkennen lassen.

Die unterschiedliche Behandlung von HIV-positiven langfristig Niedergelassenen im Gegensatz zu Kurzzeitbesuchern mag dadurch gerechtfertigt sein, dass erstere möglicherweise eine öffentliche Belastung werden und exzessive Anforderungen an das öffentlich finanzierte Gesundheitssystem stellen könnten, während letztere anderswo eine Behandlung anstreben würden. Solche wirtschaftlichen Erwägungen finden jedoch nur in Rechtssystemen Anwendung, in denen im Inland aufhältige Ausländer vom nationalen Gesundheitssystem über eine geminderte Beitragsrate bzw. durch Kostenfreiheit profitieren. Dies ist in Russland, abgesehen von Notfallsbehandlungen, nicht der Fall. Die Gefahr, der Bf. würde eine finanzielle Belastung für das Gesundheitssystem darstellen, wurde nicht überzeugend dargelegt.

Schließlich könnten Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für HIV-positive Personen sogar schädlich für die öffentliche Gesundheit in einem Staat sein. Migranten würden illegal im Land bleiben, um einer HIV-Untersuchung zu entgehen, wodurch ihr HIV-Status sowohl für die Behörden als auch für sie selbst unerkannt bliebe. Dies würde sie daran hindern, die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, unsichere Verhaltensweisen zu vermeiden und Informationen über HIV einzuholen bzw. entsprechende Einrichtungen zu konsultieren. Der Ausschluss von HIV-positiven Ausländern mag zudem ein falsches Sicherheitsgefühl bewirken, das HIV/AIDS unter der Bevölkerung als ein »ausländisches Problem« erscheinen lassen könnte, sodass die Bevölkerung keine Notwendigkeit sieht, sich zu schützen.

Auch wenn der Schutz der öffentlichen Gesundheit ein legitimes Ziel ist, war es der Regierung nicht möglich, überzeugende und objektive Argumente vorzubringen, um zu zeigen, dass dieses Ziel durch die Verweigerung einer Aufenthaltsgenehmigung für den Bf. aus Gesundheitsgründen erreicht werden konnte. Besorgniserregend ist außerdem die umfassende und willkürliche Natur der strittigen Maßnahme. Das Gesetz sieht die Zurückweisung jeden Antrags auf Aufenthaltsgenehmigung vor, wenn ein Antragsteller nicht nachweisen kann, HIV-negativ zu sein. Außerdem sieht es die Abschiebung von Ausländern vor, die als HIV-positiv qualifiziert wurden. Keine dieser Bestimmungen lässt Raum für eine individuelle Beurteilung im Einzelfall. Die Gerichte wiesen den Antrag des Bf. allein unter Bezugnahme auf die gesetzlichen Erfordernisse zurück, ohne auf den tatsächlichen Gesundheitszustand des Bf. oder seine familiären Beziehungen Rücksicht zu nehmen. Das Landesgericht stellte fest, die Gerichte seien nicht verpflichtet, humanitäre Erwägungen zu berücksichtigen. Auch die Regierung bestätigte, dass die individuelle Situation des Bf. keine rechtliche Relevanz habe. Eine solche undifferenzierte Verweigerung einer Aufenthaltserlaubnis ohne Vornahme einer individuellen gerichtlichen Würdigung und allein auf dem Gesundheitszustand basierend ist mit dem Schutz vor Diskriminierung nach Art. 14 EMRK nicht vereinbar. Die Regierung hat den ihr zustehenden engen Ermessensspielraum überschritten.

Der Bf. ist damit als Opfer einer Diskriminierung aufgrund seines Gesundheitszustands zu qualifizieren. Es liegt eine Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 8 EMRK vor (einstimmig).

III. Zu den übrigen behaupteten Verletzungen

Der Bf. rügt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Er sei nicht über sein Recht informiert worden, eine Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu beantragen und eine solche sei von den Gerichten auch nicht von Amts wegen angeordnet worden. Dieser Beschwerdepunkt ist als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen (einstimmig).

IV. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 15.000,– für immateriellen Schaden; € 350,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Maslov/A v. 23.6.2008 (GK), NL 2008, 157; ÖJZ 2008, 779.

G. N. u.a./I v. 1.12.2009, NL 2009, 342; EuGRZ 2009, 563.

Carson u.a./GB v. 16.3.2010 (GK), NL 2010, 93.

Alajos Kiss/H v. 20.5.2010, NL 2010, 166.

Clift/GB v. 13.7.2010, NL 2010, 220.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 10.3.2011, Bsw. 2700/10, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2011, 75) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/11_2/Kiyutin.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Textnummer

EGM01065

Im RIS seit

17.08.2011

Zuletzt aktualisiert am

21.11.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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