TE OGH 2011/5/12 10Rs38/11y

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Veröffentlicht am 12.05.2011
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Das Oberlandesgericht Wien hat als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch die Senatspräsidentin Dr. Ciresa als Vorsitzende, die Richter Mag. Atria und Mag. Pöhlmann sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Norbert Lux und ADir. Hubert Zenz in der Sozialrechtssache der Klägerin A***** B*****, *****, 1030 Wien, vertreten durch Mag. Martina Thomasberger, Kammer für Arbeiter und Angestellte für Wien, Prinz-Eugen-Straße 20-22, 1040 Wien, wider die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, Wienerbergstraße 15-19, 1100 Wien, wegen Wochengeld, über die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 12.10.2010, 32 Cgs 92/10v-5, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Berufung wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass es zu lauten hat:

„Das Klagebegehren, die beklagte Partei sei schuldig, der Klägerin ein Wochengeld im gesetzlichen Ausmaß für den Zeitraum vom 22.4.2010 bis 22.9.2010 zu gewähren, besteht dem Grunde nach zu Recht. Die beklagte Partei ist schuldig, der Klägerin eine vorläufige Zahlung in der Höhe von EUR 3.922,50 binnen 14 Tagen zu erbringen.“

Die ordentliche Revision ist zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Die am 26.1.1981 geborene Klägerin war bei der Trenkwalder Personaldienst GmbH zuletzt im Zeitraum vom 20.8.2007 bis 26.12.2007 als Arbeiterin beschäftigt. Vom 27.12.2007 bis 4.1.2008 bezog die Klägerin Arbeitslosengeld, vom 5.1.2008 bis 5.2.2008 Krankengeld, vom 6.2.2008 bis 27.2.2008 Arbeitslosengeld, vom 28.2.2008 bis 17.3.2008 Krankengeld. Vom 18.3.2008 bis 17.12.1008 bezog die Klägerin aufgrund der am 22.10.2008 erfolgten Geburt ihrer Tochter L***** Wochengeld. Im Anschluss an den Wochengeldbezug bezog die Klägerin bis zum 21.6.2010 Kinderbetreuungsgeld. Anlässlich einer neuerlichen Schwangerschaft wurde der 18.11.2010 als Termin für die voraussichtliche Entbindung festgestellt und sprach das Bezirksgesundheitsamt mit Wirksamkeitsbeginn 22.4.2010 bis zum Beginn der gesetzlichen Schutzfrist ein „individuelles“ Beschäftigungsverbot gemäß § 3 Abs 3 MSchG aus. Bei Eintritt dieses Beschäftigungsverbotes ist die Klägerin keiner Beschäftigung nachgegangen.

Mit dem nun angefochtenen Bescheid vom 31.5.2010 lehnte die beklagte Partei den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Wochengeld ab dem 22.4.2010 ab.

Mit dagegen erhobener Klage begehrte die Klägerin die Zuerkennung von Wochengeld im gesetzlichen Ausmaß „für die Dauer des Beschäftigungsverbotes“ (ON 1). Der Versicherungsfall der Mutterschutzschaft trete bei einem individuellen Beschäftigungsverbot nicht nur ein, wenn nachgewiesen wird, dass das Leben oder die Gesundheit von Mutter oder Kind bei „Fortdauer der Beschäftigung“ gefährdet wäre, sondern beziehe sich ausdrücklich auch auf Bezieherinnen einer Leistung nach dem AlVG oder dem KBGG, wenn die Gesundheit von Mutter oder Kind bei „Aufnahme einer Beschäftigung“ gefährdet wäre. Anknüpfungspunkt dieser Regelung sei primär nicht die Beschäftigung an sich, sondern sollen Bezieherinnen von Leistungen nach dem AlVG oder dem KBGG Anspruch auf das Wochengeld erhalten, weil sie aufgrund der bestätigten vorzeitigen Freistellung keine Beschäftigung aufnehmen dürfen, somit für eine Vermittlung am Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stünden. Die Bestimmung diene dem Schutz gefährdeter Schwangerer vor dem Abschluss von übereilten Arbeitsverhältnissen aus rein wirtschaftlicher Notwendigkeit.

Die beklagte Partei bestritt das Klagebegehren und brachte dazu vor, dass die bloß faktische Ausstellung eines amtsärztlichen Zeugnisses über ein individuelles Beschäftigungsverbot nicht zu einem vorzeitigen Anspruch auf Wochengeld führen könne. Voraussetzung sei vielmehr stets auch die tatsächliche Ausübung einer Beschäftigung oder die Pflicht zur Aufnahme einer solchen; diese sei bei Arbeitnehmerinnen ebenso gegeben wie bei Bezieherinnen von Leistungen nach dem AlVG, nicht jedoch bei Bezieherinnen von Kinderbetreuungsgeld. Allein der Bezug von Kinderbetreuungsgeld stelle keine (Arbeits-)Tätigkeit dar, auf die das gegenständlich bescheinigte Beschäftigungsverbot Anwendung finden könnte.

Aufgrund der während des Verfahrens erfolgten Zuerkennung von Wochengeld ab dem 23.9.2010 schränkte die Klägerin das Klagebegehren auf einen Anspruch auf Wochengeld für den Zeitraum vom 22.4.2010 bis 22.9.2010 ein (ON 4).

Mit dem nun angefochtenen Urteil hat das Erstgericht das Klagebegehren abgewiesen.

Neben dem eingangs dargestellten unstrittigen Sachverhalt stellte das Erstgericht weiters fest, dass die Klägerin bei Eintritt des individuellen Beschäftigungsverbotes (mit Wirksamkeitsbeginn 22.4.2010) keine Beschäftigung aufnehmen wollte.

Rechtlich führte das Erstgericht im Ergebnis aus, dass das individuelle Beschäftigungsverbot im Falle der Klägerin lediglich „theoretische Wirkung“ entfaltet habe, da die Klägerin zum Zeitpunkt des individuellen Beschäftigungsverbotes weder einer Tätigkeit nachgegangen sei, noch eine solche aufnehmen habe wollen; es liege somit keine Tätigkeit vor, die ihr Leben oder das Leben ihres ungeborenen Kindes bei Fortdauer der Beschäftigung gefährden hätte können. Funktion des Wochengeldes sei es, den durch die Mutterschaft erlittenen Entgeltverlust zu ersetzen. Die Klägerin hätte auch ohne individuelles Beschäftigungsverbot im Zeitraum vom 22.4.2010 bis 22.9.2010 zumindest ab dem 22.6.2010 (Ende des Kinderbetreuungsgeldbezuges) kein Erwerbseinkommen bezogen, welches aufgrund des individuellen Beschäftigungsverbotes ersetzt bzw ausgeglichen werden müsste.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin aus den Berufungsgründen der unrichtigen Beweiswürdigung und der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag, das angefochtene Urteil im Sinne der Zuerkennung von Wochengeld in der gesetzlichen Höhe von EUR 26,15 täglich vom 22.4.2010 bis 22.9.2010 abzuändern.

Die beklagte Partei beantragt in ihrer Berufungsbeantwortung, der Berufung nicht Folge zu geben.

Die Berufung ist berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Unter dem Berufungsgrund der unrichtigen Beweiswürdigung wendet sich die Berufungswerberin gegen die Feststellung, dass sie bei Eintritt des individuellen Beschäftigungsverbotes keine Beschäftigung aufnehmen wollte. Statt dessen begehrt sie die Feststellung, dass sie aufgrund der Verhängung des individuellen Beschäftigungsverbots weder eine Beschäftigung aufnehmen habe können, noch eine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung beim AMS beantragen habe können.

Wenn sich auch das sogenannte „individuelle“ Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs 3 MSchG lediglich auf die von der Dienstnehmerin bisher ausgeübten Tätigkeiten bezieht und gegenüber dem Dienstgeber erst mit Vorlage des amts- bzw arbeitsinspektionsärztlichen Zeugnisses wirksam wird (Wolfsgruber in ZellKomm § 3 MSchG Rz 12 und 15 mwN), ändert dies nichts am öffentlich-rechtlichen Charakter dieser Arbeitnehmerschutzvorschrift, deren Wirksamkeit vom Willen der Arbeitsvertragsparteien unabhängig ist (vgl auch die Strafdrohung an den Dienstgeber in § 37 Abs 1 MSchG für den Fall des Zuwiderhandelns auch gegen ein individuelles Beschäftigungsverbot). Der Frage, ob die Klägerin zum Zeitpunkt der Ausstellung des amtsärztlichen Zeugnisses gemäß § 3 Abs 3 MSchG (22.4.2010) eine Beschäftigung habe aufnehmen wollen oder nicht, kommt – wie noch auszuführen ist – keine Entscheidungsrelevanz zu. Die bekämpfte Feststellung wird daher vom Berufungsgericht als Grundlage für die rechtliche Beurteilung nicht übernommen und ist folglich auch auf die dagegen ausgeführte Beweisrüge nicht näher einzugehen.

In ihrer Rechtsrüge wiederholt die Klägerin – wie auch die beklagte Partei in ihrer Berufungsbeantwortung – im Wesentlichen ihren bereits im erstinstanzlichen Verfahren vertretenen Rechtsstandpunkt. Weiters verweist die Klägerin auf die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes vom 30.11.2010, 10 ObS 136/10p, und führt ergänzend aus, dass in Fällen wie dem vorliegenden letztlich ausschlaggebend sei, ob das letzte Arbeitsverhältnis vor dem aktuellen Versicherungsfall der Mutterschaft aus einem der verpönten Gründe des § 122 Abs 3 ASVG geendet habe, ob die Schwangere also den Verlust ihres Arbeitsplatzes selber verschuldet habe, wobei die Zeiträume von Wochengeld- und Kinderbetreuungsgeldbezug außer Betracht zu bleiben haben.

Im Ergebnis teilt das Berufungsgericht den Rechtsstandpunkt der Klägerin, wonach sie die Voraussetzungen für den Bezug von Wochengeld bereits ab dem 22.4.2010 erfüllte.

§ 120 Z 3 ASVG regelt den Eintritt des Versicherungsfalles der Mutterschaft, somit die primäre Leistungsvoraussetzung für das Wochengeld als Pflichtleistung der Krankenversicherung (§ 117 Z 4 lit d ASVG).

Als Grundregel gilt der Versicherungsfall der Mutterschaft mit dem Beginn der achten Woche vor der voraussichtlichen Entbindung bzw bei einer Entbindung vor diesem Zeitpunkt mit der Entbindung als eingetreten (§ 120 Z 3 1. Satz ASVG). § 120 Z 3 ASVG lautet jedoch weiter (zweiter Satz):

„Darüber hinaus gilt der Versicherungsfall der Mutterschaft bei Dienstnehmerinnen und Bezieherinnen einer Leistung nach dem AlVG oder KBGG in jenem Zeitpunkt und für jenen Zeitraum als eingetreten, in dem im Einzelfall bei Dienstnehmerinnen nach § 4 Abs 2 aufgrund eines arbeitsinspektions- oder amtsärztlichen, bei Dienstnehmerinnen nach § 4 Abs 4 aufgrund eines amtsärztlichen Zeugnisses nachgewiesen wird, dass das Leben oder die Gesundheit von Mutter oder Kind bei Fortdauer der Beschäftigung oder Aufnahme einer Beschäftigung gefährdet wäre.“

Bereits der Wortlaut dieser Bestimmung deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber auch bei Bezieherinnen von Kinderbetreuungsgeld, die nicht in einem (allenfalls karenzierten) Dienstverhältnis stehen, den sogenannten „vorzeitigen“ Mutterschutz infolge eines individuellen Beschäftigungsverbotes nach § 3 Abs 3 MSchG als möglichen Beginn des Versicherungsfalles der Mutterschaft statuiert hat. Auffallend ist auch die Diskrepanz zur Formulierung des § 3 Abs 3 MSchG, in welcher Bestimmung ausschließlich von der Gefährdung des Lebens oder der Gesundheit von Mutter oder Kind „bei Fortdauer der Beschäftigung“ gesprochen wird, also auf ein aufrechtes Beschäftigungsverhältnis Bezug genommen wird, wohingegen § 120 Z 3 2. Satz ASVG von der Gefährdung der Gesundheit von Mutter oder Kind „bei Fortdauer der Beschäftigung oder Aufnahme einer Beschäftigung“ spricht. Der Versicherungsfall der Mutterschaft soll also bei Erlassung eines individuellen Beschäftigungsverbotes nach § 3 Abs 3 MSchG für eine Bezieherin von Kinderbetreuungsgeld auch dann vorzeitig eintreten, wenn amtsärztlich nachgewiesen die Gesundheit von Mutter und Kind nicht nur bei Fortsetzung einer (bestehenden) Beschäftigung, sondern auch bei Aufnahme einer (neuen) Beschäftigung gefährdet wäre.

§ 122 Abs 1 ASVG bestimmt als grundsätzliche Regelung, dass Leistungen der Krankenversicherung nur dann zustehen, wenn der Versicherungsfall während der Versicherung eingetreten ist. Die Klägerin war als Bezieherin von Kinderbetreuungsgeld gemäß § 8 Abs 1 Z 1 lit f ASVG in der Krankenversicherung teilversichert (die Ausnahmebestimmung des § 28 KBGG aufgrund der Leistungszugehörigkeit zu einer Krankenfürsorgeeinrichtung kommt für die Klägerin nicht zur Anwendung), sodass als weiteres Zwischenergebnis festgehalten werden kann, dass der Versicherungsfall der Mutterschaft bei der Klägerin (aufgrund der amtsärztlich nachgewiesenen Gefährdung der Gesundheit von Mutter oder Kind bei Aufnahme einer Beschäftigung) während des Bezugs von Kinderbetreuungsgeld und somit während ihrer Teilversicherung in der Krankenversicherung eingetreten ist.

Die Bestimmung des § 122 Abs 3 ASVG regelt wiederum ausschließlich eine Verlängerung des Versicherungsschutzes nach dem Ausscheiden aus der Krankenversicherung, insbesondere im Anschluss an den Bezug von Kinderbetreuungsgeld. Da der Versicherungsfall bei der Klägerin noch während des Bezuges von Kinderbetreuungsgeld und somit noch während ihrer Teilversicherung in der Krankenversicherung eingetreten ist, kommt diese Bestimmung im Falle der Klägerin gar nicht zur Anwendung und können aus der dazu ergangenen Judikatur, insbesondere auch aus der in der Berufung zitierten Entscheidung 10 ObS 136/10p wie auch aus der Entscheidung 10 ObS 125/08t keine Rückschlüsse auf die hier zu beurteilende Rechtsfrage gezogen werden. In beiden zitierten Entscheidungen war jeweils ein nach Ende der Krankenversicherung eingetretener Versicherungsfall der Mutterschaft zu beurteilen.

Als weiteres Argument für den Rechtsstandpunkt der Klägerin erscheint dem Berufungsgericht letztlich die Regelung des Wochengeldanspruches selber in § 162 ASVG.

Darin wird zunächst in Übereinstimmung mit § 120 Z 3 ASVG der Versicherungsfall der Mutterschaft als primäre Leistungsvoraussetzung definiert und insbesondere der vorzeitige Mutterschutz auch bei Bezieherinnen einer Leistung nach dem AlVG oder KBGG, die nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehen („bei Fortdauer der Beschäftigung oder Aufnahme einer Beschäftigung“) als Versicherungsfall angeführt. Die Abs 3 bis 4 regeln die Höhe des Wochengeldanspruches, Abs 3a insbesondere für Bezieherinnen von Kinderbetreuungsgeld. Abs 5 schließt letztlich bestimmte Schwangere bzw Mütter vom Wochengeldanspruch aus. Insbesondere sind nach § 162 Abs 5 Z 3 ASVG vom Anspruch auf Wochengeld ausgeschlossen „Teilversicherte nach § 8 Abs 1 Z 1 lit f außer jene, die aufgrund der dem Kinderbetreuungsgeldbezug zugrundeliegenden Entbindung Anspruch auf Wochengeld hatten oder deren Kinderbetreuungsgeldbezug eine Inpflegenahme oder Adoption zugrunde liegt und denen Wochengeld gebührt hätte, wenn anstelle der Inpflegenahme oder Adoption eine Entbindung stattgefunden hätte“.

Nach der zitierten Bestimmung sind daher ausdrücklich (nur) jene Bezieherinnen von Kinderbetreuungsgeld vom Wochengeldanspruch ausgeschlossen, die aufgrund der dem Kinderbetreuungsgeldbezug zugrundeliegenden Entbindung keinen Anspruch auf Wochengeld hatten; Bezieherinnen von Kinderbetreuungsgeld, die bei der zuvorliegenden Entbindung Anspruch auf Wochengeld hatten, werden ausdrücklich vom Ausschluss ausgenommen. Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers sollen daher die Bestimmungen des Wochengeldanspruchs für Bezieherinnen von Kinderbetreuungsgeld wie der Klägerin (mit einem Anspruch auf Wochengeld aufgrund der zuvorliegenden Entbindung) uneingeschränkt gelten; mit anderen Worten: sie sollen den gleichen Zugang zum Wochengeld haben wie Bezieherinnen eines Erwerbseinkommens. Eine Einschränkung in Bezug auf den (vorzeitigen) Eintritt des Versicherungsfalls der Mutterschaft aufgrund eines individuellen Beschäftigungsverbotes ist weder aus der Bestimmung des § 120 Z 3 ASVG, noch aus § 162 ASVG zu erkennen.

Auch der Erlass des BMAS vom 5.1.1993, 26.063/4-5/92, sieht in der Regelung des § 120 Abs 1 Z 3 ASVG (nunmehr § 120 Z 3 ASVG) einen vorzeitigen Wochengeldanspruch für Bezieherinnen einer Leistung nach dem (damals nur) AlVG:

„3. Nach der Rechtslage vor der 50. Nov. zum ASVG hatten Bezieherinnen einer Leistung nach dem AlVG bei Vorliegen eines Beschäftigungsverbotes keinen vorzeitigen Wochengeldanspruch, weil die Formulierung des § 162 Abs 1 Z 3 ASVG den verlängerten Wochengeldanspruch nur Dienstnehmerinnen eingeräumt hat. Dies wurde als sozialpolitisch problematisch empfunden, weil eine Bezieherin einer Leistung nach dem AlVG durch ein Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs 3 MschG nicht mehr vermittelbar ist und in gleicher Weise wie eine von einem Beschäftigungsverbot betroffene Dienstnehmerin nicht mehr in der Lage ist, einer unselbständigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Damit wird sie daran gehindert, ein Dienstverhältnis anzutreten, aus dem sie ein höhers Einkommen als den Leistungsbezug nach dem AlVG erzielen könnte. Die zur Vermeidung dieser Härtefälle vorgeschlagene Gesetzesänderung wurde im Rahmen der 50. Nov. zum ASVG verwirklicht, indem der vorzeitige Wochengeldanspruch bei einem Beschäftigungsverbot nach § 3 Abs 3 MschG explizit auch für Bezieherinnen einer Leistung nach dem AlVG eröffnet wurde.

4. Hinsichtlich der Ausstellung eines Freistellungszeugnisses ist jedoch zu bemerken, dass das Mutterschutzgesetz nur für Arbeitnehmerinnen gilt. Arbeitslose fallen nicht in den Geltungsbereich dieses Gesetzes. § 3 Abs 3 MschG findet daher auf die Arbeitslose keine Anwendung. Nach ho. Auffassung muss jedoch auch für Arbeitslose ein dem Freistellungszeugnis adäquates Zeugnis ausgestellt werden, wenn Gefahr für Leben oder Gesundheit von Mutter oder Kind besteht. Dieses Zeugnis kann aber nicht vom Arbeitsinspektionsarzt, sondern muss vom Amtsarzt ausgestellt werden, weil eine Arbeitslose anders als eine Karenzurlauberin nicht in einem Arbeitsverhältnis steht. Rechtsgrundlage für die Ausstellung eines derartigen Zeugnisses ist seit der 50. Nov. zum ASVG § 120 Abs 1 Z 3 ASVG(zitiert nach Teschner/Widlar/Pöltner, ASVG, § 120 Anm. 7c).

Wie aufgezeigt hat der Gesetzgeber den Versicherungsfall der Mutterschaft bei einem individuellen Beschäftigungsverbot ausdrücklich weiter gezogen als das Beschäftigungsverbot für werdende Mütter nach § 3 Abs 3 MSchG und den vorzeitigen Eintritt des Versicherungsfalls der Mutterschaft ausdrücklich auch für Bezieherinnen von Kinderbetreuungsgeld, die nicht in einem (karenzierten) Dienstverhältnis stehen und bei welchen das individuelle Beschäftigungsverbot der Aufnahme einer (neuen) Beschäftigung entgegensteht, einbezogen. Es überzeugt daher auch nicht das Argument, dass ein individuelles Beschäftigungsverbot gegenüber dem Dienstgeber erst mit der Vorlage des amtsärztlichen Zeugnisses seitens der Dienstnehmerin wirksam wird und daher bei keinem vorhandenen Dienstgeber „lediglich theoretische Wirkung“ hätte (Ercher/Stech in Ercher/Stech/Langer, Mutterschutzgesetz und Väter-Karenzgesetz [2005] § 3 Rz 31; Burger-Ehrnhofer in Burger-Ehrnhofer/Schrittwieser/Thomasberger, Mutterschutzgesetz und Väter-Karenzgesetz § 3 Erl 5.3; Schober in Sonntag, ASVG², 2011, § 122 Rz 11a). Nach Ansicht des Berufungsgerichts kann sich die zitierte bloß bedingte Wirkung des individuellen Beschäftigungsverbotes gegenüber dem Dienstgeber lediglich auf die arbeitsrechtliche Seite des Beschäftigungsverbotes beziehen. Im ASVG wurde jedoch eine besondere und weitergehende Regelung des Versicherungsfalles der Mutterschaft und des Anspruches auf vorzeitiges Wochengeld normiert. Die in der Berufungsbeantwortung zitierte Entscheidung 10 ObS 17/88, in der das Weiterbestehen eines Anspruches auf vorgezogenes Wochengeld nach Ablauf eines befristenen Beschäftigungsverhältnisses verneint wurde, erging vor der erwähnten 50. Novelle zum ASVG.

Der Berufung war daher Folge zu geben und der Anspruch der Klägerin auf Wochengeld für den Zeitraum vom 22.4.2010 bis 22.9.2010 im gesetzlichen Ausmaß dem Grunde nach als berechtigt festzustellen. Die ziffernmäßige Höhe des Anspruches wurde im erstinstanzlichen Verfahren noch nicht erörtert. Die Klägerin hat jedoch in ihrer Berufung den Zuspruch von Wochengeld in der Höhe von EUR 26,15 täglich begehrt und hat die beklagte Partei diese Höhe in ihrer Berufungsbeantwortung nicht bestritten. Gemäß § 89 Abs 2 ASGG iVm § 273 Abs 1 ZPO war der beklagten Partei daher eine vorläufige Zahlung in der Höhe von EUR 3.922,50 (26,15 x 30 x 5) aufzutragen.

Die hier zu beurteilende Rechtsfrage geht in ihrer Bedeutung über den Einzelfall hinaus und liegt soweit erkennbar eine oberstgerichtliche Rechtsprechung dazu nicht vor. Gemäß § 502 Abs 1 ZPO war daher die ordentliche Revision zuzulassen.

Textnummer

EW0000510

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OLG0009:2011:0100RS00038.11Y.0512.000

Im RIS seit

04.08.2011

Zuletzt aktualisiert am

04.08.2011
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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