TE Vwgh Erkenntnis 2011/3/31 2010/15/0150

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Veröffentlicht am 31.03.2011
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Index

001 Verwaltungsrecht allgemein;
10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG);
32/01 Finanzverfahren allgemeines Abgabenrecht;

Norm

BAO §206 litb;
BAO §248;
B-VG Art7 Abs1;
VwRallg;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Höfinger und die Hofräte Dr. Zorn, Dr. Büsser, MMag. Maislinger und Mag. Novak als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Unger, über die Beschwerde des Finanzamtes Innsbruck, 6021 Innsbruck, Innrain 32, gegen den Bescheid des unabhängigen Finanzsenates, Außenstelle Feldkirch, vom 8. Juli 2010, Zl. RV/0132-F/08, betreffend u.a. Umsatz- und Körperschaftsteuer 1999 bis 2004 (mitbeteiligte Partei: K als Masseverwalter im Konkurs der N GmbH, vertreten durch die Breinbauer & Partner Wirtschaftsprüfungs- und Steuerberatungs-GmbH, 4021 Linz, Bockgasse 2a), zu Recht erkannt:

Spruch

Soweit der angefochtene Bescheid Umsatz- und Körperschaftsteuer 1999 bis 2004 betrifft, wird er wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Der Mitbeteiligte ist Masseverwalter im Konkurs der Y-GmbH.

Die X-GmbH (Gesellschafter-Geschäftsführer RO und KW) wurde zum 1. Jänner 2005 auf die Y-GmbH als aufnehmende Gesellschaft verschmolzen; diese ist sohin Gesamtrechtsnachfolgerin. Die X-GmbH hatte von 1999 bis 2004 in Oberösterreich ein Tanzcafe betrieben.

Auf Grund eines Prüfungsauftrages vom 6. Juli 2005 fand bei der Y-GmbH eine Außenprüfung statt. Dabei traf der Prüfer die Feststellung, dass die Bücher der X-GmbH für den Zeitraum 1999 bis 2004 schwerwiegende materielle und formelle Mängel aufwiesen. Es seien u.a. einzelne Erlössparten des Gastronomiebetriebes systematisch unter Einsatz einer im Verbundkassensystem implementierten, automationsgestützten Manipulationsfunktion verkürzt worden. Es seien daher für die Jahre 1999 bis 2004 Nachforderungen an Umsatzsteuer von 405.237,36 EUR und an Körperschaftsteuer von 558.702,45 EUR vorzuschreiben.

Den Prüfungsfeststellungen folgend erließ das Finanzamt - zum Teil nach Wiederaufnahme der Verfahren gemäß § 303 Abs. 4 BAO - Bescheide betreffend Körperschaft- und Umsatzsteuer 1999 bis 2004. Als Folge dessen schrieb es auch Anspruchszinsen vor, sodass sich insgesamt eine "Mehrvorschreibung" von 1,023.712,66 EUR ergab.

Gegen diese Bescheide wurde Berufung erhoben.

Im Berufungsverfahren teilte das Finanzamt auf Anfrage der Referentin der belangten Behörde mit, das Ansinnen einer allfälligen Vorgangsweise nach § 206 lit. b BAO komme für das Finanzamt nicht in Betracht. Es seien verschiedene Haftungsbescheide im Rechtsmittelverfahren. Ein Strafverfahren behänge beim OGH; nach einer etwaigen rechtskräftigen Verurteilung greife die Haftung nach § 11 BAO.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Berufung insoweit ab, als sie die Wiederaufnahme der Verfahren betraf. Ebenso wies sie die Berufung gegen die Festsetzung der Anspruchszinsen ab. Hinsichtlich Körperschaftsteuer und Umsatzsteuer 1999 bis 2004 entschied die belangte Behörde dahingehend, dass die Abgabenbescheide abgeändert werden und von der Festsetzung jener Körperschaft- und Umsatzsteuerbeträge, die sich auf Grund der Außenprüfung als Nachforderung ergeben haben, zur Gänze gemäß § 206 lit. b BAO Abstand genommen wird.

In der Bescheidbegründung wird zunächst dargelegt und begründet, dass das Finanzamt zu Recht die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme der Verfahren betreffend Umsatz- und Körperschaftsteuer 1999 bis 2003 für gegeben erachtet hat.

Hinsichtlich Umsatz- und Körperschaftsteuer 1999 bis 2004 wird sodann ausgeführt: Die Abgabenbehörde könne gemäß § 206 lit. b BAO von der Festsetzung der Abgaben absehen, wenn im Einzelfall mit Bestimmtheit anzunehmen sei, dass der Abgabenanspruch nicht durchsetzbar sei. Nach Ansicht der belangen Behörde seien im gegenständlichen Fall die Voraussetzungen für diese Abstandnahme (hinsichtlich der aus der Außenprüfung resultierenden Nachforderung) zur Gänze gegeben.

Die X-GmbH sei im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf die Y-GmbH verschmolzen worden. Diese Gesellschaft sei auf Grund der mittlerweile erfolgten Konkurseröffnung aufgelöst, die Erwirtschaftung künftiger Gewinne somit ausgeschlossen.

Erhebungen der belangten Behörde beim Masseverwalter (mitbeteiligte Partei) hätten ergeben, dass für die Abgabenforderungen lediglich eine Quote von 0,34% zu erwarten sei.

Das Finanzamt habe auch ein den gegenständlichen Fall betreffendes Bankgutachten des Sachverständigen Mag. RN vorgelegt. Soweit allerdings "Schwarzgelder" in liechtensteinische Stiftungen geflossen sein sollten, wofür Hinweise sprächen, seien diese den Gesellschaftern bzw. Geschäftsführern zuzurechnen und zählten nicht mehr zum Vermögen der Y-GmbH. Daraus lasse sich daher nicht auf Vermögenswerte der Y-GmbH schließen.

Die belangte Behörde gelange somit zu dem Schluss, dass die strittigen und offenen Abgabennachforderungen von 1,023.712,66 EUR derzeit und in Zukunft nicht einbringlich seien. Eine allenfalls erzielbare Quote von 0,34% betrage 3.480,63 EUR und "verkörpert nicht den in § 206 lit. b BAO umschriebenen Abgabenanspruch, um dessen Einbringlichkeit in voller Höhe es geht".

Der Hinweis auf das Finanzstrafverfahren spreche nicht gegen die Vorgangsweise nach § 206 lit. b BAO, zumal die Abstandnahme von der Festsetzung die Durchführung eines Finanzstrafverfahrens nicht hindere.

Der Ansicht des Finanzamtes, ein offenes Haftungsverfahren stehe der Anwendung des § 206 lit. b BAO entgegen, schließe sich die belangte Behörde nicht an. Es treffe auch nicht zu, dass bei Anwendung des § 206 lit. b BAO die (künftige) Geltendmachung von Haftungen nach §§ 9 und 11 BAO nicht in Betracht komme. Vielmehr stehe es dem Finanzamt frei, den Abgabenanspruch durch Ausspruch von Haftungen durchzusetzen. Wie der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 30. März 2000, 99/16/0141, ausgesprochen habe, setze die Geltendmachung der Haftung die Erlassung eines Abgabenbescheides gegenüber dem Primärschuldner nicht voraus.

In der Literatur (Ritz, BAO3, § 206 Tz 5; Ellinger/Iro/Kramer/Sutter/Urtz, BAO, § 206 Tz 12) werde zwar die Ansicht vertreten, für die Nichtfestsetzung wegen Uneinbringlichkeit seien nicht nur die Verhältnisse beim Primärschuldner, sondern auch die Verhältnisse allfälliger Haftungspflichtiger zu berücksichtigen. Diese Literaturmeinung überzeuge die belangte Behörde aber nicht, weil eben die Haftungsinanspruchnahme nicht voraussetze, dass die Abgabenschuld dem Primärschuldner gegenüber festgesetzt sei.

Wenn § 206 lit. b BAO auf die Durchsetzbarkeit des Abgabenanspruches abstelle, so sei nach Ansicht der belangten Behörde die Durchsetzbarkeit gegenüber dem Abgabenschuldner gemeint, weil allfällige Haftungs- und Strafverfahren eine entsprechende Abgabenfestsetzung nicht zur Voraussetzung hätten.

An der dargestellten Sichtweise ändere der Umstand, dass laut Gutachten des Banksachverständigen Mag. RN die in Liechtenstein ansässige V Stiftung wirtschaftlich RO und die ebenfalls in Liechtenstein ansässige P Stiftung wirtschaftlich KW zuzurechnen sei und offensichtlich Geldflüsse aus den Betrieben der beiden Geschäftsführer an die Stiftungen weitergeleitet worden seien, nichts. Jedoch würden gerade diese Umstände im Rahmen der Geltendmachung von Haftungen von Interesse sein.

In der Folge begründet die belangte Behörde ihre Ermessensübung und verweist dabei im Wesentlichen darauf, dass sich das Berufungsverfahren im Hinblick auf die Beweisanträge der Y-GmbH aufwendig gestalten würde.

Der Abstandnahme von der Festsetzung stehe auch der Grundsatz der Gleichmäßigkeit der Besteuerung nicht entgegen. Der gesetzliche Abgabenanspruch als solcher werde nämlich nicht vernichtet, sondern es werde lediglich - wegen Uneinbringlichkeit -

auf seine Durchsetzung gegenüber der faktisch vermögenslosen Y-GmbH verzichtet.

Der aushaftende Rückstand von 1,023.712,66 EUR setze sich zusammen aus den Mehrbeträgen "laut Betriebsprüfung" an Umsatzsteuer (405.237,36 EUR) und Körperschaftsteuer (558.702,45 EUR) sowie aus den Anspruchszinsen 2000 bis 2004 (59.772,85 EUR). Der streitgegenständliche Nachforderungsbetrag umfasse keine bereits entrichteten Abgabenbeträge. Abzüglich Anspruchszinsen ergebe sich ein gemäß § 206 lit. b BAO nicht festzusetzender Betrag von 963.939,81 EUR an Umsatzsteuer und Körperschaftsteuer für die Jahre 1999 bis 2004. Die Umsatzsteuer- und Körperschaftsteuervorschreibungen seien daher nur in dem Umfang vorzunehmen, in welchem sie vor der Betriebsprüfung bestanden hätten.

Hinsichtlich der Berufung betreffend Anspruchszinsen wird im angefochtenen Bescheid ausgeführt: Da ein Anspruchszinsenbescheid nicht erfolgreich mit der Begründung anfechtbar sei, der maßgebende Stammabgabenbescheid sei inhaltlich rechtswidrig, werde die Berufung in diesem Punkt abgewiesen. Erweise sich aber ein Stammabgabenbescheid als rechtswidrig oder werde er abgeändert, etwa indem - wie im gegenständlichen Fall - die Abgabe nicht festgesetzt werde, so werde diesem Umstand mit einem an den Abänderungs- bzw. Aufhebungsbescheid gebundenen, neuen Zinsenbescheid Rechnung getragen. Es ergehe somit ein weiterer Zinsenbescheid; eine Abänderung des ursprünglichen Zinsenbescheides erfolge nicht (Hinweis auf Ritz, BAO3, § 205 Tz 33 bis 35).

Gegen diesen Bescheid hat das Finanzamt Beschwerde erhoben. Das Finanzamt erblickt die Rechtswidrigkeit des angefochten Bescheides betreffend Umsatz- und Körperschaftsteuer 1999 bis 2004 in der Anwendung des § 206 BAO durch die belangte Behörde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

§ 206 BAO idF BGBl. I Nr. 124/2003 lautet:

"Die Abgabenbehörde kann von der Festsetzung von Abgaben ganz

oder teilweise Abstand nehmen,

a)

…;

b)

soweit im Einzelfall auf Grund der der Abgabenbehörde zur Verfügung stehenden Unterlagen und der durchgeführten Erhebungen mit Bestimmtheit anzunehmen ist, dass der Abgabenanspruch nicht durchsetzbar sein wird;

              c)              ..."

Die Abstandnahme von der Festsetzung nach § 206 lit. b BAO ist zulässig, wenn mit Bestimmtheit anzunehmen ist, dass "der Abgabenanspruch" nicht durchsetzbar sein wird. Die Regelung stellt auf den "Abgabenanspruch" ab.

Beim Anspruch, der gegenüber dem (Primär)Schuldner geltend gemacht wird, und beim Anspruch, der im Wege einer Haftung geltend gemacht wird, handelt es sich um denselben Anspruch. § 206 lit. b BAO stellt auf diese anspruchsbezogene Betrachtung ab. Der Text dieser Vorschrift nimmt nicht Bezug auf eine Person, sondern allein auf den Anspruch als solchen (vgl. zur anspruchsbezogenen Betrachtung in Zusammenhang mit der Verjährung beispielsweise das hg. Erkenntnis eines verstärkten Senates vom 18. Oktober 1995, 91/13/0037, 91/13/0038, Slg. 7038/F, und das hg. Erkenntnis vom 25. November 2010, 2009/15/0157).

Die lit. b des § 206 BAO idF vor dessen Novellierung mit BGBl. I Nr. 124/2003 stellte in gleicher Weise wie die im gegenständlichen Fall anzuwendende Fassung darauf ab, dass "der Abgabenanspruch nicht durchsetzbar sein wird". Zur Fassung vor der Novellierung führt Stoll, BAO-Kommentar, 2153 f, aus, die Abstandnahme von der Festsetzung habe zur Voraussetzung, dass die Abgabenbehörde Erhebungen durchführt und diese eindeutig ergeben, dass die Abgaben uneinbringlich sind, wobei die Uneinbringlichkeit nicht nur beim Abgabenschuldner selbst, sondern auch bei den allenfalls als Mitschuldner oder Haftende in Betracht kommenden Personen gegeben sein muss. Diesen Ausführungen von Stoll schließt sich der Verwaltungsgerichtshof im Hinblick darauf an, dass § 206 lit. b BAO nicht auf eine konkrete Person, sondern auf den Abgabenanspruch als solchen abstellt (gleiche Ansicht Ritz, BAO3, § 206 Tz 5;

Ellinger/Iro/Kramer/Sutter/Urtz, BAO, § 206 Anm. 12).

Dieser Regelungsinhalt des § 206 lit. b BAO erweist sich insbesondere vor dem Hintergrund der Regelung des § 248 BAO, nach welcher eine zur Haftung herangezogene Person gegen den Bescheid über den Abgabenanspruch - so ein solcher ergangen ist - berufen kann, als sachgerecht. Das eigenständige Berufungsrecht gegen den Bescheid über den Abgabenanspruch steht dem Haftungspflichtigen nach seiner Heranziehung zur Haftung auch dann zu, wenn der Bescheid vom Erstschuldner mit Berufung bekämpft wurde und diesbezüglich bereits eine Berufungsentscheidung vorliegt. Diesfalls gilt dem Haftungspflichtigen gegenüber die Berufungsentscheidung als erstinstanzlicher Bescheid (vgl. Ritz, BAO3, § 248 Tz 7). Hätte § 206 lit. b BAO den von der belangten Behörde angenommenen Inhalt, müsste der in der Folge zur Haftung Herangezogene einen Bescheid bekämpfen, mit dem ausgesprochen wurde, dass (teilweise) von der Festsetzung der haftungsgegenständlichen Abgaben Abstand genommen worden ist.

Der Bescheid über den Abgabenanspruch entfaltet (hinsichtlich der Frage der Richtigkeit der Abgabenfestsetzung, insbesondere auch der Höhe nach) Wirkungen gegenüber dem Haftenden (vgl. auch Ritz, BAO3, § 248 Tz 14). Solcherart erweist es sich als folgerichtig, dass Maßnahmen nach § 206 lit. b BAO in Bezug auf die Einbringlichkeit nicht auf einen konkreten Abgabenschuldner, sondern auf den Anspruch als solchen abstellen. Daran ändert der im angefochtenen Bescheid angesprochene Umstand nichts, wonach die Geltendmachung einer Haftung nicht die vorangehende Erlassung eines Abgabenbescheides voraussetzt und ein Haftungspflichtiger dann in seiner Berufung gegen den Haftungsbescheid die Richtigkeit (auch die Höhe) des Abgabenanspruches bekämpfen kann, wenn kein Abgabenbescheid erlassen worden ist (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 30. Oktober 2001, 98/14/0142).

Die belangte Behörde hat sohin die Rechtslage verkannt. Sie ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass eine Maßnahme nach § 206 lit. b BAO unabhängig davon ausgesprochen werden dürfe, ob der Abgabenanspruch etwa im Wege der Geltendmachung einer Haftung einbringlich ist.

Bereits daraus ergibt sich, dass der angefochtene Bescheid, soweit er Umsatzsteuer und Körperschaftsteuer 1999 bis 2004 betrifft, mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet ist. Im Übrigen kann bei einer Einbringlichkeit im Ausmaß von ca. 3.500 EUR nicht von einer gänzlichen Uneinbringlichkeit ausgegangen werden.

Der angefochtene Bescheid war sohin im Umfang seiner Anfechtung, also soweit er über Umsatz- und Körperschaftsteuer 1999 bis 2004 abspricht, gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Damit erübrigt sich die Entscheidung des Berichters über den Antrag des Finanzamtes, der Beschwerde - insbesondere im Hinblick auf das anhängige Konkursverfahren - aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

Wien, am 31. März 2011

Schlagworte

Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtswirkungen von Bescheiden Rechtskraft VwRallg9/3

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2011:2010150150.X00

Im RIS seit

29.04.2011

Zuletzt aktualisiert am

01.09.2011
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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