TE AsylGH Erkenntnis 2011/03/31 D10 255516-1/2009

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Veröffentlicht am 31.03.2011
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Spruch

D10 255516-1/2009/36E

 

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Der Asylgerichtshof hat durch den Richter MMag. Elie ROSEN als Vorsitzenden und den Richter DDr. Markus GERHOLD als Beisitzer über die Beschwerde des XXXX, StA. Russische Föderation, vertreten durch Maga. Nadja LORENZ, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Kirchengasse 19/9, gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 17. November 2004, Zl. 04 09.189-BAT, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14. September 2010 zu Recht erkannt:

 

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. und II. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 7 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl, BGBl. I Nr. 76/1997 (Asylgesetz 1997 - AsylG) idF BGBl. I Nr. 126/2002, und § 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 idF BGBl. I Nr. 101/2003, als unbegründet abgewiesen.

 

Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 66 Abs. 4 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes 1991, BGBl. Nr. 51/1991 (AVG), ersatzlos behoben.

Text

Entscheidungsgründe:

 

I. Sachverhalt und Verfahrensgang

 

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig, gelangte gemeinsam mit seiner Ehegattin, ebenfalls einer Staatsangehörigen der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig, sowie drei minderjährigen Kindern unter Umgehung der Grenzkontrollen auf österreichisches Bundesgebiet, wurde von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes aufgegriffen und stellte hierauf am 28. April 2004 einen Antrag auf Gewährung von Asyl.

 

Bei seiner Befragung durch Organe der Bezirkshauptmannschaft Gmünd am selben Tage erklärte der Beschwerdeführer, er habe sein Reisedokument zerrissen und wünsche keine Verständigung seiner Vertretungsbehörde. Er suche um Asyl an, da sein Bruder von den Russen umgebracht und sein Cousin festgenommen und entführt worden sei. Überdies werde er (der Beschwerdeführer) aufgrund seiner Teilnahme an Kampfhandlungen während des ersten Tschetschenienkrieges verfolgt.

 

Gelegentlich seiner Befragung brachte der Beschwerdeführer zur Vorlage:

 

Inlandsreisepass Nr. XXXX.

 

Führerschein der Klassen B und C Nr. XXXX.

 

Im Akt befindet sich zudem folgendes Dokument:

 

(Zerrissener) Auslandsreisepass 60 Nr. XXXX.

 

Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme durch die belangte Behörde am 9. Juli 2004 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, im Besitz eines XXXX ausgestellten Auslandsreisepasses gewesen zu sein, welchen er "auf der Flucht in Gmünd" weggeworfen habe. Zuvor sei er legal in die Republik Polen sowie in die Tschechische Republik gereist. Überdies brachte der Beschwerdeführer vor, niemals politisch aktiv gewesen zu sein und auch keiner politischen Partei anzugehören und verneinte die Frage, ob er sich in seiner Heimat jemals in Haft befunden habe oder festgenommen worden sei.

 

In seinem Heimatstaat werde er "von russischen Soldaten" gesucht, welche bereits vier Mal in sein Haus in XXXX eingedrungen seien. Sein im Jänner 2000 verschleppter Bruder sei zudem im Gefängnis gestorben. Befragt, was er von Jänner 2000 bis zu seiner Ausreise im März 2004 unternommen habe, erwiderte der Beschwerdeführer, er habe "nichts getan" und sei in seinem Haus in XXXX sowie bei Freunden aufhältig gewesen. Zudem monierte er, dass er den Dolmetscher aufgrund des zu schnellen Sprechtempos nicht verstehe. Die Dokumente hinsichtlich des Todes seines Bruders seien zwar in Tschetschenien verblieben, bei Notwendigkeit könne er sich die Unterlagen jedoch übermitteln lassen. Befragt, wann er letztmalig von den Soldaten aufgesucht worden sei, gab der Beschwerdeführer an, sich an das genaue Datum "nicht mehr erinnern" zu können, es sei "etwa im Jänner 2004" gewesen. Was die Soldaten von ihm gewollt hätten, wisse er mangels Anwesenheit nicht ("Wie konnte ich wissen, was sie von mir wollten, wenn ich nicht dort war. Aus diesem Grund wurde ich auch nie befragt. Ich bin nie mit den Soldaten zusammengetroffen."). Er könne auch nicht angeben, was die Soldaten seiner Familie gegenüber geäußert hätten; er wisse lediglich, dass nach ihm gefragt worden sei. Die Soldaten hätten zudem "das ganze Haus durchsucht" und geschimpft. Nach den Konsequenzen im Falle einer Rückkehr gefragt, gab der Beschwerdeführer an, dies ebenfalls nicht zu wissen; er würde jedoch "auf jeden Fall" festgenommen werden ("Ich weiß es nicht, ich kann das nicht voraussagen. Falls sie mich finden, werden sie mich auf jeden Fall festnehmen.").

 

Nach dem Grund seiner Verfolgung befragt, führte der Beschwerdeführer aus, er habe während des ersten Tschetschenienkrieges von 1994 bis zum August 1996 als einfacher Soldat in XXXX und XXXX sowie in seinem Dorf "gegen die Russen" gekämpft. Die "Beweise", welche seine Teilnahme am ersten Tschetschenienkrieg belegen würden, habe er jedoch "nicht mitgenommen", da er nicht gewusst habe, ob er sie brauchen werde. "Vielleicht" habe seine Frau die Dokumente jedoch mitgebracht.

 

Sein Bruder sei seinetwegen im Alter von neunzehn Jahren verschleppt und von den Gefängnisaufsehern getötet worden ("Mein Bruder wurde meinetwegen verschleppt. Es gibt ja keinen anderen Grund, daher weiß ich das, dass er meinetwegen verschleppt wurde."). Die Familie ("wir") habe den Leichnam seines Bruders in der Folge nach Hause gebracht und beerdigt.

 

Auch die weiteren Dorfeinwohner seien während der Säuberungsaktionen von Soldaten aufgesucht worden. Etwa zehn Familien des Dorfes seien von gezielten Säuberungsaktionen betroffen gewesen; auch er habe zu diesen gezählt. Befragt, weshalb er zu diesen Familien gehöre, erwiderte der Beschwerdeführer, dies nicht zu wissen; er denke aber, dass seine Teilnahme am ersten Tschetschenienkrieg die Ursache gewesen sei.

 

Gelegentlich seiner Einvernahme durch die belangte Behörde brachte der Beschwerdeführer zur Vorlage:

 

Bestätigung der Tschetschenischen Republik XXXX.

 

Wehrdienstbuch Nr. XXXX.

 

Ambulanzkarte XXXX.

 

Karte XXXX.

 

Mit Schreiben vom 17. August 2004 (Datum des Posteinganges) übermittelte der Beschwerdeführer der belangten Behörde nachstehend angeführtes Dokument:

 

Sterbeurkunde Nr. XXXX.

 

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 17. November 2004 wies die belangte Behörde den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl. I Nr. 76/1997 (AsylG) idgF, ab (Spruchpunkt I.), erklärte dessen Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig (Spruchpunkt II.) und wies den Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet - ohne Zielstaatsbezogenheit - aus (Spruchpunkt III.).

 

Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer habe sein Heimatland aufgrund befürchteter Übergriffe auf seine körperliche Unversehrtheit sowie wegen der allgemeinen Kriegswirren verlassen, jedoch keine Verfolgungssituation im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft gemacht. Zudem handle es sich bei den Befürchtungen des Beschwerdeführers lediglich um Vermutungen, also um bloß subjektiv empfundene Furcht, die er durch keinerlei Anhaltspunkte für konkret gegen ihn gerichtete oder geplante Verfolgungshandlungen untermauert habe. Überdies habe das Asylrecht nicht die Aufgabe, vor den aus Krieg, Bürgerkrieg, Revolution und sonstigen Unruhen hervorgehenden allgemeinen Unglücksfolgen zu bewahren. Der Tod seines jüngeren Bruders stelle sich für den Beschwerdeführer gewiss als unangenehm und bedauerlich dar, rechtfertige jedoch ebenso wenig die Gewährung von Asyl wie der Wunsch nach Emigration sowie einem Leben in Frieden und Sicherheit.

 

Mit der hiergegen am 23. November 2004 (Datum des Posteinganges) erhobenen Berufung macht der Beschwerdeführer Rechtswidrigkeit des Bescheidinhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend. Die Berufung führt aus, dass die belangte Behörde lediglich äußerst vage etwaige "Widersprüche" bzw. "Unglaubwürdigkeiten" ausgeführt habe. Der Beschwerdeführer sei aufgrund eines Personalengpasses bei der von ihm aufgesuchten Beratungsstelle nicht in der Lage, auf sämtliche Argumente der belangten Behörde im Detail einzugehen und werde daher binnen einer Frist von acht Wochen eine ergänzende Stellungnahme einbringen.

 

Die Ehefrau des Beschwerdeführers brachte folgendes Dokument zur Vorlage:

 

Geburtsurkunde des Standesamtes XXXX.

 

In einem handschriftlichen, in russischer Sprache verfassten Schreiben vom 21. Dezember 2005 führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, er habe sich während seiner Einvernahme vor der belangten Behörde in einem "äußerst erschöpften Zustand" befunden. Gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder XXXX seien drei seiner Cousins festgenommen worden, welche sich nunmehr in Gefängnissen in der Russischen Föderation befänden. Die festgenommenen Verwandten seien zu Geiseln geworden, um die (ehemaligen) Widerstandskämpfer zur Aufgabe zu bewegen. Er selbst habe die Unabhängigkeit Tschetscheniens begrüßt und sei "einer der aktiven Teilnehmer des Aufbaues eines unabhängigen Staates" gewesen. Zu Beginn des ersten Tschetschenienkrieges im Dezember 1994 sei er freiwillig in die Reihen des Widerstandes eingetreten und habe bis zum August 1996 aktiv an den Kämpfen für die Unabhängigkeit seiner Heimat teilgenommen.

 

Am zweiten Tschetschenienkrieg habe er aufgrund seines gesundheitlichen Zustandes nicht teilgenommen. Ende November 1999 hätten die "russischen Aggressoren" den größten Teil Tschetscheniens besetzt und seien bereits in der Nähe seines Dorfes stationiert gewesen. In der Folge sei es zu Säuberungen, Passkontrollen sowie Massenverhaftungen der Einwohner seines Dorfes XXXX gekommen. Die verhafteten Menschen seien "sehr scharf verhört und misshandelt" sowie zu Aussagen gegen ihre eigenen Landsleute genötigt worden. Der Familienname des Beschwerdeführers habe sich auf einer Liste befunden.

 

XXXX sei einer der ersten Festgenommenen gewesen. Nach zwei Jahren, welche er in Erdlöchern in XXXX, im Gefängnis verbracht habe, wo er ständigen Verhören und Misshandlungen ausgesetzt gewesen sei, sei er gegen eine große Summe Lösegeld von seinen Verwandten freigekauft worden. Er (der Beschwerdeführer) habe sich "ständig im Wald oder bei diversen Bekannten" verstecken müssen. Zu dieser Zeit sei es wiederholt zu Überfällen auf das Dorf gekommen. Viele verhaftete Personen seien auf Listen der unbekannt Verschollenen vermerkt gewesen; andere seien getötet oder aufgrund falscher Anschuldigungen zu langen Haftstrafen verurteilt worden.

 

Sein jüngerer Bruder XXXX sei im November 2000 festgenommen und "auf brutale Art und Weise während der Misshandlungen von den Mitarbeitern - Henkern des FSB Russland - umgebracht" worden. Das Herz seines Vaters habe dies nicht verkraftet, sodass er unmittelbar nach Erhalt dieser Nachricht verstorben sei. Durch die erlittenen Schicksalsschläge sowie die nervliche Belastung habe sich sein (des Beschwerdeführers) Gesundheitszustand verschlechtert und es sei "immer schwieriger" geworden, sich zu verstecken. In der Folge sei er davor gewarnt worden, dass der Miliz sowie "anderen Behörden" ein mündlicher Befehl erteilt worden sei, wonach die Teilnehmer des Krieges "unter dem Schein der Widerstandsleistung bei der Verhaftung" vernichtet werden sollten. Zudem sei seine Familie während dieser Zeit "ständig" wegen ihm erpresst worden. Mithilfe ihm bekannter Milizbeamter sei es ihm und seiner Familie ("uns") gelungen, nach Inguschetien auszureisen.

 

Mit Schreiben vom 21. März 2006 ersuchte der Beschwerdeführer um einen baldigen Verhandlungstermin.

 

In der seitens des Unabhängigen Bundesasylsenates am 12. Juni 2007 abgehaltenen mündlichen Berufungsverhandlung gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, sein Bruder sowie drei Cousins seien im Jänner 2000 mitgenommen worden. Sein Bruder sei überdies zu einer Freiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren verurteilt worden, obwohl seine Schuld nicht bewiesen worden sei. Seine Cousins seien fünf Jahre und zwei Monate im Gefängnis gewesen und dann freigelassen worden; zum Zeitpunkt ihrer Freilassung sei er jedoch bereits in Österreich gewesen.

 

Die Frage nach seiner Anwesenheit beim Verfahren seines Bruders verneinte der Beschwerdeführer und brachte vor, er habe zum damaligen Zeitpunkt "nicht einmal zu Hause übernachten" können; seine Mutter sei jedoch beim Verfahren zugegen gewesen und habe ihm die Ergebnisse in der Folge mitgeteilt. Sein Bruder sei "mit keinen Beschuldigungen konfrontiert" worden. Es sei jedoch vermutet worden, dass die von ihm "genannten Verwandten" Bestandteil der Formation zweier im Rayon tätiger Kommandanten gewesen seien. Sein Bruder sei daraufhin am XXXX umgebracht worden.

 

Befragt nach dem konkreten Ablauf der Ereignisse am Tag der Festnahme seines Bruders gab der Beschwerdeführer an, russische Soldaten seien gegen 9:00 Uhr oder 10.00 Uhr in der Früh erschienen, wobei ihm im Unterschied zu seinem Bruder die Flucht gelungen sei. Nach der Anzahl der Personen befragt, brachte der Beschwerdeführer vor, es seien "viele Leute" gewesen, die genaue Anzahl könne er jedoch nicht angeben. Seine Frau habe sich während des Vorfalles ebenso wie seine Mutter zu Hause aufgehalten. Seine Flucht sei von den Soldaten jedenfalls nicht wahrgenommen worden; "danach" - auf Nachfrage: "ca. nach zwei Wochen" - seien "die Leute" etwa zwei oder drei Mal wieder gekommen. In der Folge habe er das Haus verlassen und wisse nicht, was dort alles passiert sei.

 

Er selbst sei aufgrund seiner Teilnahme am ersten Tschetschenienkrieg als einfacher Soldat einer Verfolgung ausgesetzt gewesen. Überdies seien seine Verwandten seinetwegen mitgenommen worden, da man ihn nicht zu Hause angetroffen habe. Auch später seien "die Leute" wiedergekommen und hätten mehrmals nach ihm gefragt sowie Fotografien umhergezeigt. Er habe sich in der Folge "nicht immer" in XXXX aufgehalten, sondern habe versucht, seiner Ergreifung zu entgehen, indem er in verschiedenen Dörfern bei Freunden oder Verwandten übernachtet habe. In der letzten Zeit hätten ihn jedoch sogar die Verwandten aufgrund der damit verbundenen Gefahr nicht mehr aufnehmen wollen.

 

Am zweiten Tschetschenienkrieg habe er nicht teilgenommen. Nach dem Grund für die im Jahr 2004 erfolgte Ausreise befragt, gab der Beschwerdeführer an, ein weiterer Verbleib in der Heimat sei nicht zumutbar gewesen und er habe überdies auch an gesundheitlichen Problemen gelitten. Seine Angaben könne zudem "jeder beliebige Bewohner von XXXX bestätigen", da das Schicksal seiner Familie bekannt gewesen sei. Über Vorhalt, wonach eine derart massive Verfolgung einer Person, die als einfacher Soldat am ersten Tschetschenienkrieg teilgenommen habe, nicht nachvollziehbar sei, brachte der Beschwerdeführer vor, es sei so gewesen, wie er erzählt habe. In seiner Heimat würden sogar Leute festgenommen, die "überhaupt nichts gemacht" und sich an nichts beteiligt hätten.

 

Die gegen den Bescheid des Bundesasylamtes erhobene Berufung wies der Unabhängige Bundesasylsenat mit Bescheid vom 6. Dezember 2007, Zl. 255.516/0/11E-XIV/39/04, gemäß §§ 7, 8 Abs. 1 und 2 AsylG mit der Maßgabe ab, dass der Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen wurde.

 

Begründend führte der Unabhängige Bundesasylsenat insbesondere aus, die Angaben des Beschwerdeführers seien in wesentlichen Punkten widersprüchlich und abweichend sowie äußerst vage. Zudem habe er seine Ausführungen im Vergleich zum erstinstanzlichen Vorbringen gesteigert. Im Rahmen der Einvernahme vor dem Bundesasylamt habe er zwar angegeben, dass sein Bruder im Jänner 2000 von den Russen mitgenommen worden sei, jedoch seine drei Cousins nicht erwähnt. Zudem habe er erstmals in der mündlichen Berufungsverhandlung angegeben, es sei nach ihm im Dorf unter Heranziehung von Fotografien gefragt worden. Widersprüchlich seien weiters die Angaben des Beschwerdeführers hinsichtlich der Hausdurchsuchungen durch die russischen Soldaten. So habe er im erstinstanzlichen Verfahren vorgebracht, die Soldaten seien vier Mal in sein Haus in XXXX eingedrungen, das letzte Mal im Jänner 2004, er sei jedoch nie befragt worden und nie mit ihnen zusammengetroffen. Demgegenüber habe er in der Berufungsverhandlung ausgeführt, die Soldaten seien zwei bis drei Mal in sein Haus gekommen und zwar etwa zwei Wochen, nachdem sein Bruder mitgenommen worden sei, sohin im Jänner 2000. Auch habe er zu dem Vorfall im Jänner 2000 keine Angaben machen können, trotzdem seine Frau dabei anwesend gewesen sei und ihm "alles erzählt habe". Dieses mangelnde Wissen habe er lediglich damit begründet, dass die Frauen abgesondert worden seien. Zudem sei festzuhalten, dass der Beschwerdeführer nicht bereit gewesen sei, die Begebenheiten in seiner Heimat von sich aus zu schildern, sondern erst durch eingehendes konkretes Nachfragen allgemeine Standardsätze vorgebracht habe. Nicht nachvollziehbar sei überdies das Vorbringen in der Berufungsverhandlung, der Beschwerdeführer habe sich seit dem Vorfall mit seinem Bruder im Jänner 2000 bis zu seiner Flucht - sohin über vier Jahre - ständig versteckt gehalten. Einerseits sei es unglaubwürdig, dass sich der Beschwerdeführer über vier Jahre lang in seinem Heimatdorf mit 20.000 Einwohnern bzw. in dessen unmittelbarer Umgebung bei Freunden und Verwandten versteckt gehalten habe, ohne von den Russen gefunden bzw. von jemandem verraten worden zu sein. Andererseits sei anzumerken, dass der Beschwerdeführer in dieser Zeit Vater von zwei Kindern geworden sei, sich sohin zumindest zeitweise in seinem Haus bei seiner Familie aufgehalten haben müsse. Zusammenfassend sei auszuführen, dass das Vorbringen nicht nur widersprüchlich, sondern in weiten Teilen derart vage und unkonkret geblieben sei, sodass nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Beschwerdeführer die Geschehnisse selbst erlebt habe.

 

Der dagegen erhobenen Beschwerde gab der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 28. August 2009, Zlen. 2008/19/0116 bis 0118-7, statt und behob den bekämpften Bescheid.

 

In den Entscheidungsgründen führte der Verwaltungsgerichtshof im Wesentlichen aus, dass sich die Beschwerde umfangreich gegen die Beweiswürdigung des Unabhängigen Bundesasylsenates wende. Der angeblichen Steigerung des Vorbringens des Beschwerdeführers halte sie unter Hinweis auf konkrete Aussageteile entgegen, der Beschwerdeführer habe schon vor dem Bundesasylamt von der Entführung und Festnahme eines Cousins berichtet und angegeben, dass die Bewohner seines Heimatdorfes nach ihm befragt worden seien. Auch der vermeintliche Widerspruch betreffend die Anzahl und den Zeitpunkt der Hausdurchsuchungen werde von der Beschwerde unter genauer Überprüfung der Aussage des Beschwerdeführers relativiert. Unter anderem damit zeige die Beschwerde argumentative Schwächen in der behördlichen Beweiswürdigung auf.

 

Entscheidend für die Behebung des Bescheides des Unabhängigen Bundesasylsenates sei vorrangig der berechtigte Einwand der Beschwerde, der Unabhängige Bundesasylsenat habe es zu Unrecht unterlassen, in Österreich aufhältige Zeugen zu vernehmen, welche die Angaben des Beschwerdeführers bestätigen hätten können. Zudem habe der Unabhängige Bundesasylsenat die Rechtslage verkannt. So erscheine es aufgrund der asylrechtlichen Ausweisung möglich, dass der Beschwerdeführer das Bundesgebiet ohne seine Ehefrau und seine minderjährigen Kinder zu verlassen habe. Die Ausweisung stelle somit einen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Familienleben des Beschwerdeführers dar, welcher einer Rechtfertigung bedürfe.

 

Mit Schreiben vom 1. Oktober 2009 erstattete der Beschwerdeführer eine Zeugenbekanntgabe.

 

Mit Schreiben vom 11. August 2010 wurde dem Beschwerdeführer die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof angezeigt. Unter einem übermittelte der Asylgerichtshof dem Beschwerdeführer einen Länderbericht mit asylrelevanten Daten zur aktuellen Situation in der Russischen Föderation mit dem Auftrag zur Stellungnahme binnen einer Frist von zwei Wochen.

 

In der seitens des Asylgerichtshofes am 14. September 2010 abgehaltenen öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung brachte der Beschwerdeführer vor, er habe im bisherigen Verfahren lediglich über den Tod seines Bruders gesprochen, nicht jedoch über den Tod eines Cousins, welcher mit ihm aufgewachsen sei.

 

Befragt nach im Herkunftsstaat lebenden Verwandten gab der Beschwerdeführer an, seine beiden Schwestern, sein Bruder XXXX sowie seine Mutter lebten nach wie vor im Dorf XXXX, sein Bruder XXXX sei in XXXX aufhältig. Sein Vater sei am XXXX an einem Herzinfarkt verstorben.

 

Er habe acht Klassen Grundschule abgeschlossen, von 1986 bis etwa 1989 eine Lehre zum Dreher in XXXX absolviert und von 1990 bis 1992 den Wehrdienst für zwei Monate in der Ukraine in XXXX, danach in XXXX bei Moskau geleistet. Er habe "zu keiner Zeit offiziell

gearbeitet", sei jedoch "inoffiziell ... am Bau" beschäftigt

gewesen. Dieser Beschäftigung sei er bis zum Jahre 1994 und sodann erst wieder nach dem ersten Tschetschenienkrieg nachgegangen. Befragt, wann er das letzte Mal Arbeitsaufträge angenommen habe, erwiderte der Beschwerdeführer, dies "gar nicht sagen" zu können; es sei "zu lange her". Seit dem Jahr 1999 habe er jedenfalls mangels vorhandener Möglichkeiten nicht mehr gearbeitet. Seine Familie habe er durch den Verkauf des im Garten Angebauten ernährt.

 

Bis zum Abschluss der Grundschule habe er in XXXX gelebt und sei dann nach XXXX gezogen, wo er drei Jahre geblieben sei. Nach Ableistung des Wehrdienstes habe er sich bis zum Jahr 1996 neuerlich in XXXX aufgehalten und sei dann nach XXXX übersiedelt, wo er von 1996 bis 1999 in seiner im Jahr 1996 erworbenen - zwischenzeitlich wieder verkauften -Eigentumswohnung gelebt habe. In dieser Zeit habe er jedoch auch in seinem Heimatdorf "Leute besucht". In den Jahren 1994 bis 1996 habe er keinen festen Wohnsitz gehabt, sondern sei "einen Tag in einem Dorf und dann wieder in einem anderen" aufhältig gewesen. Während dieser Zeit habe er sich in XXXX an Kampfhandlungen beteiligt.

 

Befragt, bei welcher Einheit er gedient habe, erwiderte der Beschwerdeführer, es habe "keine richtige Einheit", sondern lediglich eine Landwehr gegeben. Sein unmittelbarer Kommandant habe den Namen XXXX geführt. Wie lange er in XXXX stationiert gewesen sei, könne er nicht angeben. Sie ("wir") hätten die Stadt jedenfalls immer wieder verlassen, um sich in den Bergen aufzuhalten. In der Folge sei er in XXXX stationiert gewesen, wo "massive Beschießungen" stattgefunden hätten; der Ort sei mit seinem Heimatdorf XXXX durch einen Wald verbunden. Dort sei er "als Ortskundiger" tätig gewesen und habe Lebensmitteltransporte durchgeführt. Da man sich durch den Wald "frei bewegen" habe können, sei es ihm auch möglich gewesen, in sein Dorf zu gelangen.

 

Nach Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges im Jahr 1999, welcher auch die Stadt XXXX erreicht habe, seien sie ("wir") etwa im September oder Oktober neuerlich nach XXXX gezogen. In der Folge sei sein Vater am XXXX an einem Herzinfarkt verstorben. Zwei Wochen später seien Militärangehörige im Haus der Familie erschienen und hätten seinen Bruder, zwei seiner Cousins sowie einen anwesenden Gast festgenommen. Er selbst sei nicht anwesend gewesen, da er seine Mutter und seine Frau zur zentralen Haltestelle gebracht habe. Nach diesem Vorfall habe er sich "an verschiedenen Orten", etwa bei - namentlich genannten - Freunden in XXXX aufgehalten. Zwei dieser Freunde seien im Jahr 1994 oder 1995 verstorben. Befragt, wie dies sein könne, da er sich doch erst in den Jahren danach dort aufgehalten habe, meinte der Beschwerdeführer, er habe die Jahreszahlen 2004 oder 2005 angeben wollen; einer dieser Freunde sei 2002, der andere 2003 mitgenommen worden. Das ganze Dorf habe davon Kenntnis gehabt. Auf Vorhalt, wonach er gesagt habe, dass beide Freunde mitgenommen worden seien, weshalb die Kenntnis von deren Tod nicht selbstverständlich sei, bestritt der Beschwerdeführer, von der Mitnahme seiner Freunde gesprochen zu haben.

 

Befragt, wo sich seine Ehefrau während seiner Abwesenheit aufgehalten habe, erwiderte der Beschwerdeführer, sie sei "die ganze Zeit über" mit seiner Mutter zu Hause gewesen. Seine Frau sei jedoch nicht in Kenntnis seines Aufenthaltsortes gewesen. Auch seit dem Jahr 2003 habe er seine Aufenthaltsorte mehrmals gewechselt und sei etwa in XXXX gewesen. Zeitweilig habe er auch zu Hause übernachtet, jedoch vor Tagesanbruch das Haus wieder verlassen. Im Allgemeinen habe er versucht, so selten wie möglich zu Hause zu sein. Manchmal sei er mehrmals in einem Monat nach Hause gekommen, es habe jedoch auch Monate gegeben, in welchen er überhaupt nicht zu Hause erschienen sei. Damals hätten im Dorf allgemeine Säuberungsaktionen stattgefunden. Vom vorsitzenden Richter darauf hingewiesen, dass es diesfalls wohl gleichgültig gewesen sei, ob er sich zu Hause oder bei einem Freund aufgehalten habe, gab der Beschwerdeführer an, von seinem Freund XXXX, welcher für einen Verwalter gearbeitet habe, bereits im Vorfeld über den Zeitpunkt der Säuberungsaktionen informiert worden zu sein. Auf den Hinweis, dass diesfalls umso weniger eine Notwendigkeit bestanden hätte, bei allgemeinen Säuberungsaktionen zu Hause zu sein, erwiderte der Beschwerdeführer, dass sein Freund "nicht über jede Säuberungsaktion" in Kenntnis gewesen sei; vielmehr habe dieser lediglich den Zeitpunkt der "planmäßigen allgemeinen Säuberungsaktionen" gekannt.

 

Während der Festnahme seines Bruders im Januar 2000 habe er sich nicht zu Hause aufgehalten. Auf Vorhalt, wonach er in der Berufungsverhandlung vor dem Unabhängigen Bundesasylsenat angegeben habe, er sei zu Hause gewesen, erwiderte der Beschwerdeführer, er habe sich (damals) vielleicht "falsch ausgedrückt oder es nicht richtig verstanden". Auf neuerlichen Vorhalt, wonach er in der Verhandlung genaue Details des Vorfalles geschildert habe, meinte der Beschwerdeführer, er habe während der Fahrt zur bereits erwähnten Haltestelle "Soldaten in der Gasse getroffen" und sei jedenfalls nicht zu Hause gewesen; er sei wohl "nicht richtig verstanden" worden.

 

Sein Bruder XXXX, zwei Cousins sowie ein anwesender Gast seien bei dem Vorfall festgenommen worden. Auf Vorhalt, wonach er vor der Bezirkshauptmannschaft Gmünd vorgebracht habe, dass ein Cousin entführt und festgenommen worden sei, gab der Beschwerdeführer an, dies so nicht gesagt zu haben und verwies neuerlich darauf, vielleicht falsch verstanden worden zu sein. Auf Vorhalt der Ausführungen in der schriftlichen Stellungnahme vom 21. Dezember 2005 (Datum des Posteinganges), wonach er von der Mitnahme dreier Cousins berichtet habe, meinte der Beschwerdeführer, es sei so gewesen, wie er es nunmehr schildere; möglicherweise habe er in seinem Schreiben einen Fehler gemacht.

 

Nachdem er seine Frau und seine Mutter bei der Haltestelle abgeliefert habe, habe er zunächst "etwas erledigt" und dann auf dem Heimweg eine Nachbarin getroffen, welche ihm berichtet habe, dass Soldaten bei ihm zu Hause seien. Seine Frau habe ihm später erzählt, dass sie von der Bushaltestelle wieder nach Hause zurückgekehrt sei. Seine Mutter habe nach mehrmonatiger Suche herausgefunden, dass sich sein Bruder in XXXX befinde. Er sei dann in XXXX zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt worden und nach einem Jahr im Gefängnis verstorben. Der damals ebenfalls festgenommene Gast habe fünfeinhalb Jahre Freiheitsstrafe erhalten, die anderen seien zu fünf Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Seine Cousins seien danach entlassen worden.

 

Von seinen Verwandten habe er erfahren, dass bei dem Vorfall im Januar 2000 nach ihm gesucht worden sei; "die Leute" seien überdies mindestens fünf oder sechs Mal aufgetaucht. Auf Vorhalt seiner Angaben vor dem Bundesasylamt sowie dem Unabhängigen Bundesasylsenat, wonach er vier Mal gesucht worden sei, gab der Beschwerdeführer an, dies nicht gesagt haben zu können. Die Frage, ob er jemals mit Soldaten persönlich zusammengetroffen sei, verneinte der Beschwerdeführer. Das letzte Mal sei im Jahr 2003 nach ihm gesucht worden. Ihm sei erzählt worden, dass sie eine Fotografie von ihm vorgelegt und sich nach seinem Aufenthaltsort erkundigt hätten. Nachher seien sie "eine gewisse Zeit" nicht gekommen.

 

Die Ausstellung des Auslandsreisepasses sei unproblematisch verlaufen. Eine Frau namens XXXX habe für sie ("uns") die Reisepässe sowie die Fahrkarten für den Zug gekauft. Wer mit ihr in Verbindung getreten und wie genau die Kontaktaufnahme erfolgt sei, wisse er jedoch nicht; seine Frau und seine Mutter hätten sie in XXXX "gefunden". Er habe für jeden Reisepass 250 Dollar bezahlt. Befragt, ob er unter Vorweisung dieses Reisepasses aus der Russischen Föderation ausgereist sei, erwiderte der Beschwerdeführer, er selbst habe den Reisepass nirgendwo gezeigt, sie ("wir") seien jedoch ein Mal in XXXX überprüft worden. Das Passieren der Grenze sei "nie ein Problem"; man lege "100 RUR in den Pass und dann klappt das". Den Reisepass habe er sodann in Gmünd weggeworfen, da ihm gesagt worden sei, dass er nicht bleiben dürfe, wenn er über einen Pass verfüge. Die Frage, ob er ein Visum für die Tschechische Republik oder die Republik Polen besessen habe, verneinte der Beschwerdeführer. Auf Vorhalt der im Akt einliegenden Kopie einer Seite seines Reisepasses, auf welcher ein Visum für die Tschechische Republik vermerkt ist, erwiderte der Beschwerdeführer, sie ("wir") hätten die Pässe abgegeben und nach Erhalt habe sich darin ein Visum befunden. Auf Vorhalt, wonach er zuvor gesagt habe, die Pässe selbst zerrissen zu haben, meinte der Beschwerdeführer, er wisse nicht, ob sich darin ein Visum befunden habe.

 

Die Frage, ob er sich im Herkunftsstaat jemals in Haft befunden habe oder angehalten worden sei, verneinte der Beschwerdeführer ebenso wie die Frage, ob er sich im Herkunftsstaat politisch betätigt habe oder Mitglied einer politischen Partei oder Bewegung gewesen sei. Auch eine Verfolgung aus religiösen Gründen verneinte er. Bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat befürchte er, dass man ihn und seine Familie umbringe.

 

Die Ehegattin des Beschwerdeführers gab in der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem erkennenden Senat im Wesentlichen an, sie habe bislang noch keine Gelegenheit vorgefunden, ihre Wahrnehmungen darzulegen. Ihren Ehemann habe sie im XXXX nach islamischem Recht geheiratet; die standesamtliche Trauung habe XXXX stattgefunden. Mit ihrem Mann habe sie bis zum Jahr XXXX in XXXX gelebt; nach dem Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges seien sie ("wir") nach XXXX gezogen und hätten im Haus ihrer Schwiegereltern gelebt.

 

Sie persönlich habe "keinerlei Probleme" im Herkunftsstaat gehabt und sei lediglich wegen der Schwierigkeiten ihres Ehemannes geflüchtet. Befragt, wann die Verfolgung ihres Mannes begonnen habe bzw. ob es ein auslösendes Moment gegeben habe, gab die Ehefrau des Beschwerdeführers an, im Jahr 1999 hätten Bombardierungen und Säuberungsaktionen stattgefunden. Etwa zwei Wochen nach dem Tod ihres Schwiegervaters im XXXXseien sie, ihr Mann und ihre Schwiegermutter in das Zentrum ihres Dorfes gefahren, um die Möglichkeit einer Ausreise auszuloten. Auf Vorhalt, wonach der Beschwerdeführer angegeben habe, dass er sie zu einer Bushaltestelle gebracht habe, erwiderte die Ehegattin des Beschwerdeführers, es gebe dort Busse und auch Taxis; er habe sie jedenfalls aussteigen lassen und sei dann weggefahren. In der Folge hätten sie und die Schwiegermutter versucht, wieder nach Hause zurückzukehren. Der Weg sei jedoch bereits abgesperrt gewesen, sodass niemand habe passieren können. Erst nach Hinweis auf ihren Wohnsitz innerhalb der Absperrung habe man sie weitergehen lassen. Zuhause sei sie dann über ihren Ehemann befragt worden. Zudem sei auf ihren Schwager XXXX eingeschlagen worden. Den zwei Cousins ihres Mannes, seinem jüngerer Bruder XXXX sowie einem Mann, welcher zu Besuch gewesen sei, seien Mützen über den Kopf gestülpt worden. Weiters habe man sie mit Klebeband gefesselt, in ein Auto verfrachtet und weggebracht. Befragt, ob für sie ein Grund ersichtlich sei, weshalb XXXX mitgenommen worden sei, XXXX jedoch nicht, erwiderte die Ehefrau des Beschwerdeführers, sie wisse es nicht; als sie zu Hause angekommen seien, sei der Vorfall bereist im Gange gewesen. Für sie sei daher kein Grund ersichtlich, warum der eine mitgenommen worden sei und der andere nicht. Ihr Ehemann sei dann etwas später zu Hause eingetroffen.

 

Zwei oder drei Wochen später seien "die Leute" wieder gekommen. Befragt, wie oft es zu einer Nachschau oder Durchsuchungen gekommen sei, gab die Ehefrau des Beschwerdeführers an, etwa sieben oder acht Mal. Ihr Mann habe nach dem Vorfall im Januar 2000 nicht mehr zu Hause übernachtet, sondern sei "nur einige Stunden" geblieben. Auf Vorhalt, wonach der Beschwerdeführer angegeben habe, zu dieser Zeit sehr wohl zu Hause übernachtet zu haben, betonte die Ehefrau des Beschwerdeführers neuerlich, er habe nicht zu Hause übernachtet.

 

Befragt, wann sich der letzte Vorfall ereignet habe, meinte die Ehefrau des Beschwerdeführers, dies sei im Jänner 2004 gewesen. Auf Vorhalt, wonach der Beschwerdeführer angegeben habe, der letzte Vorfall sei im Jahr 2003 geschehen, gab die Ehefrau des Beschwerdeführers an, sie habe ihm vielleicht nicht alles erzählt; er sei jedenfalls nicht zu Hause gewesen.

 

Befragt, wie sie in den Besitz der Auslandsreisepässe gelangt seien, gab die Ehefrau des Beschwerdeführers an, eine Frau habe sie mit einer anderen Frau namens XXXX bekannt gemacht, welche dies gegen Bezahlung organisiert habe. Die Frage nach einer Kontrolle bei der Ausreise aus der Russischen Föderation verneinte die Ehefrau des Beschwerdeführers. Ob sie von einem Grenzbeamten kontrolliert worden sei, wisse sie nicht.

 

Nach dem Verlauf des Reiseweges befragt, gab die Ehefrau des Beschwerdeführers an, sie seien zuerst mit einem Auto nach XXXX gefahren, wo sie XXXX am Busbahnhof getroffen hätten. Dann seien sie in einen Kleinbus einstiegen. Schließlich seien sie zu einem anderen Bahnhof gelangt und von dort mit dem Zug nach Brest gefahren. Die Zwischenstationen wisse sie jedoch nicht; eine Kontrolle habe sie jedenfalls nicht erlebt. Befragt, ob sie im Nordkaukasus eingestiegen und erst in Brest wieder ausgestiegen seien, gab die Ehefrau des Beschwerdeführers an, sie hätten "nicht umsteigen" müssen. Für die Reise sowie die Begleitung durch XXXX habe sie 300 Dollar bezahlt.

 

Nach der Ausreise aus Tschetschenien befragt, gab der Beschwerdeführer an, sie seien mit einem Taxi von XXXX nach XXXX gefahren und hätten dort übernachtet. Dann seien sie weiter nach XXXX - nach Rückübersetzung der Verhandlungsschrift: XXXX - gefahren und seien von dort mit dem Zug bis nach Brest gereist, wo sie in eine Schnellbahn umgestiegen seien. Die Frau habe sie bis nach Brest begleitet. Auf Vorhalt, wonach seine Frau angegeben habe, die Dame heiße XXXX und nicht XXXX, erwiderte der Beschwerdeführer, er habe sich wohl geirrt. Nach Rückübersetzung des Verhandlungsprotokolls führte er hingegen aus, die Frau habe XXXX geheißen; seine Frau habe sich geirrt. Er wisse dies so genau, weil die Frau den gleichen Namen wie seine Mutter getragen habe. Nach Kontrollen während der Zugfahrt befragt, gab der Beschwerdeführer an, er könne sich an eine Überprüfung in XXXX erinnern. Für die Reise habe er 150 Dollar bezahlt.

 

Der Zeuge XXXX gab in der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem erkennenden Senat im Wesentlichen an, er habe zwischen 1999 und 2004 im Dorf XXXX gelebt und kenne den Beschwerdeführer aus der Schule; überdies seien sie Nachbarn gewesen. Befragt nach seinen Kenntnissen über die Tätigkeiten des Beschwerdeführers im ersten Tschetschenienkrieg gab der Zeuge an, er wisse, dass er (der Beschwerdeführer) "in der ersten Zeit unter den Kämpfern" gewesen sei; dieser Umstand sei allen bekannt gewesen. Was er konkret im Widerstand gemacht habe, wisse er jedoch nicht. Der Beschwerdeführer habe "nur im ersten Krieg gekämpft". Während des zweiten Tschetschenienkrieges seien sein Bruder sowie ein Verwandter abgeholt worden; er selbst sei bei dem Vorfall nicht anwesend gewesen. Die russischen Truppen hätten jedoch "einige mitgenommen", was allgemein bekannt gewesen sei. Er habe aber nie selbst gehört, dass jemand nach dem Beschwerdeführer gefragt habe.

 

Der Zeuge XXXX gab in der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem erkennenden Senat im Wesentlichen an, er habe zwischen 1999 und 2004 im Dorf XXXX gelebt und kenne den Beschwerdeführer, da er sein Nachbar gewesen sei. Zudem kenne er seine Schwestern, seine Brüder, seine Eltern und einen Cousin. Er vermute, dass der Vater des Beschwerdeführers im Jahr 1994 verstorben sei. Er habe lediglich von den Nachbarn und Dorfbewohnern gehört, dass der Beschwerdeführer am Krieg teilgenommen habe, wisse jedoch nichts über dessen genaue Tätigkeiten. Er persönlich sei auch nicht Zeuge davon gewesen, dass nach dem Beschwerdeführer gesucht worden sei. Im Zuge von Säuberungsaktionen habe er zwar Militärangehörige und Schützenpanzerwagen persönlich wahrgenommen, die Festnahme des Bruders des Beschwerdeführers jedoch nicht selbst beobachtet. Die Mutter und die Schwester des Beschwerdeführers seien zu diesem Zeitpunkt zu Hause gewesen. Ob die Ehefrau des Beschwerdeführers auch anwesend gewesen sei, könne er nicht angeben. Leute, die sich an Kampfhandlungen beteiligt hätten, seien im Zuge von Säuberungsaktionen mitgenommen worden; dies habe auch Leute betroffen, die mit solchen Leuten in Verbindung gestanden seien. Er habe von Verwandten erfahren, dass zwei Cousins sowie der Bruder des Beschwerdeführers und ein weiterer Mann mitgenommen worden seien. Zudem habe er gehört, dass der Bruder des Beschwerdeführers inhaftiert worden sei; von einem Prozess gegen den Bruder habe er jedoch keine Kenntnis erlangt. Befragt, ob bei ihm zu Hause konkret nach dem Beschwerdeführer gesucht worden sei, gab der Zeuge an, zu ihnen sei "niemand gekommen". Den Beschwerdeführer habe er letztmalig im Jahr 2003 oder 2004 auf der Straße gesehen.

 

Der Zeuge XXXX gab in der öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem erkennenden Senat im Wesentlichen an, er habe seit Beginn des zweiten Tschetschenienkrieges bis zu seiner Ausreise nach XXXX im April 2000 fünf Monate im Dorf XXXX gelebt, sei jedoch weder dort geboren, noch dort aufgewachsen. Bei Säuberungsaktionen sei stets ein Teil der Straße abgesperrt worden; zudem seien Schützenpanzer und Soldaten aufgestellt worden. Derartiges sei auch Ende Dezember 1999 vorgefallen. Die Mutter des Beschwerdeführers sei aus dem Haus gekommen und habe mitgeteilt, "dass welche mitgenommen" worden seien und eine Durchsuchung stattgefunden habe. Er wisse von Dritten, dass der Beschwerdeführer am ersten Tschetschenienkrieg teilgenommen habe; während des zweiten Krieges sei er (der Beschwerdeführer) "auf der Flucht vor den Russen

oder ... zu Hause" gewesen. Die Frage, ob er Zeuge eines Vorfalles

gewesen sei, bei welchem der Beschwerdeführer gesucht worden wäre, verneinte der Zeuge. Auch bei ihm sei nicht nach dem Beschwerdeführer gesucht worden.

 

Der ebenfalls geladene Zeuge XXXX ist unentschuldigt nicht zur öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung erschienen.

 

Gelegentlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat brachte der Beschwerdeführer zur Vorlage:

 

Jahreszeugnis der XXXX.

 

Jahreszeugnis XXXX.

 

Jahreszeugnis XXXX

 

Bericht über den Schüler XXXX.

 

Bericht über die Schülerin XXXX.

 

Bericht über den Schüler XXXX.

 

Auszeichnung für XXXX.

 

Bestätigung über die Absolvierung eines Deutschkurses XXXX.

 

Bestätigung der Volkshochschule XXXX.

 

Klinischer Befundbericht des XXXX

 

Klinischer Befundbericht des XXXX

 

Mit Schreiben vom 21. September 2010 (Datum des Posteinganges) ersuchte der Beschwerdeführer um Verlängerung der in der mündlichen Verhandlung gesetzten Frist zur Vorlage medizinischer sowie integrationsspezifischer Unterlagen.

 

Mit Schreiben vom 6. Oktober 2010 (Datum des Posteinganges) brachte der Beschwerdeführer zur Vorlage:

 

Sterbeurkunde Nr. XXXX.

 

Jahreszeugnis XXXX.

 

Charakterisierung des XXXX.

 

Unterstützungsschreiben XXXX.

 

Schreiben der XXXX.

 

Mit Schreiben vom 27. Oktober 2010 (Datum des Posteinganges) brachte der Beschwerdeführer zur Vorlage:

 

Psychiatrisches Gutachten Dris. XXXX.

 

Psychiatrisches Gutachten XXXX.

 

Mit Schreiben vom 26. November 2010 erteilte die Grundsatz- und Dublinabteilung des Bundesasylamtes dem Ersuchen der Bundesrepublik Deutschland die Zustimmung zur Übernahme des Beschwerdeführers gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. c der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates.

 

Aus dem Untersuchungsbericht des Bundeskriminalamtes vom 14. Februar 2011, womit eine Untersuchung der vom Beschwerdeführer vorgelegten Sterbeurkunden seines Bruders und seines Vaters hinsichtlich des Vorliegens von Total- oder Verfälschungsmerkmalen vorgenommen wurde, geht hervor, dass die urkundentechnischen Untersuchungen der vorgelegten Dokumente keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer falschen oder verfälschten Urkunde ergäben; eine Beurteilung der Ausstellungsmodalitäten der Dokumente sei jedoch nicht möglich.

 

Der Asylgerichtshof hat nach Vorlage der Verwaltungsakte der Asylbehörde erwogen:

 

II.1. Beweisaufnahme und Ermittlungsverfahren

 

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde in dem seitens des Gerichtshofes angestrengten Ermittlungsverfahren Beweis erhoben durch Einsichtnahme in die die Person des Beschwerdeführers betreffende Verwaltungsakte des Bundesasylamtes, die in diesen einliegenden Niederschriften, Einvernahmeprotokolle, Eingaben, vorgelegten Dokumente und Befunde, EURODAC-, EKIS- und AIS-Abfragen, Aktenvermerke und sonstigen behördlichen Schriftstücke. Des Weiteren durch Einsichtnahme in die hg. Akte des Beschwerdeführers und die in dieser einliegenden Dokumente und Schriftsätze, Einholung einer Auskunft des Zentralen Melderegisters und des Strafregisters der Republik Österreich, ferner die Einvernahme des Beschwerdeführers in der seitens des Asylgerichtshofes am 14. September 2010 abgehaltenen öffentlichen mündlichen Beschwerdeverhandlung sowie schließlich durch Einholung der dieser Entscheidung zu Grunde gelegten Länderinformationen auf Grundlage der bei diesen näher angeführten Quellen.

 

Auf Grund des Ermittlungsverfahrens und der vorgenommenen Beweisaufnahme steht nachfolgender entscheidungswesentlicher Sachverhalt fest:

 

II.2. Zur Person der beschwerdeführenden Partei

 

Die Identität des Beschwerdeführers ist als XXXX, erwiesen.

 

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der tschetschenischen Volksgruppe angehörig, und seit XXXX verheiratet mit der am XXXX geborenen russischen Staatsangehörigen XXXX (AIS Zl.: 04 09.190). Die Ehefrau des Beschwerdeführers ist ebenfalls der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig.

 

Der vorbezeichneten ehelichen Verbindung des Beschwerdeführers entstammen die Kinder XXXX.

 

Es konnte nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation Verfolgungshandlungen iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), BGBl. Nr. 55/1955, ausgesetzt war oder diesem solche im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation drohen.

 

Dem Beschwerdeführer droht in der Russischen Föderation im Falle seiner Rückkehr weder unmenschliche Behandlung, Todesstrafe oder unverhältnismäßige Strafe bzw. sonstige (individuelle) Gefahr.

 

Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde.

 

Der Beschwerdeführer leidet an einer generalisierten Angststörung (ICD-10: F41.1), einer chronifizierten abnormen Belastungsreaktion (ICD-10: F43.1), einer somatoformen Depression (ICD-10: F33.11) sowie einer somatoformen Schmerzstörung (ICD-10: F45.4).

 

II.3. Zur Lage in Tschetschenien und zur IFA von Tschetschenen in Russland

 

Die Tschetschenische Republik ist eines der 89 Subjekte der Russischen Föderation. Die sieben mehrheitlich moslemischen Republiken im Nordkaukasus wurden jüngst zu einem neuen Föderationsbezirk mit der Hauptstadt Pjatigorsk zusammengefasst. Die Tschetschenen sind bei weitem die größte der zahlreichen kleinen Ethnien im Nordkaukasus. Tschetschenien selbst ist (kriegsbedingt) eine monoethnische Einheit (93% der Bevölkerung sind Tschetschenen), fast alle sind islamischen Glaubens (sunnitische Richtung). Die Tschetschenen sind das älteste im Kaukasus ansässige Volk und nur mit den benachbarten Inguschen verwandt. Freiheit, Ehre und das Streben nach (staatlicher) Unabhängigkeit sind die höchsten Werte in der tschetschenischen Gesellschaft, Furcht zu zeigen, gilt als äußerst unehrenhaft. Sehr wichtig sind auch der Respekt gegenüber älteren Personen und der Zusammenhalt in der (Groß-)Familie, den Taips (Clans) und Tukkums (Tribes). Eine große Bedeutung hat auch das Gewohnheitsrecht Adat. Es gibt sprachliche und mentalitätsmäßige Unterschiede zwischen den Flachland- und den Bergtschetschenen.

 

In Tschetschenien hatte es nach dem Ende der Sowjetunion zwei Kriege gegeben. 1994 erteilte der damalige russische Präsident Boris Jelzin den Befehl zur militärischen Intervention. Fünf Jahre später begann der zweite Tschetschenienkrieg, russische Bodentruppen besetzten Grenze und Territorium der Republik Tschetschenien. Die Hauptstadt Grosny wurde unter Beschuss genommen und bis Januar 2000 fast völlig zerstört. Beide Kriege haben bisher 160.000 Todesopfer gefordert. Zwar liefern sich tschetschenische Rebellen immer wieder kleinere Gefechte mit tschetschenischen und russischen Regierungstruppen, doch seit der Ermordung des früheren Präsidenten Tschetscheniens, Aslan Maschadow, durch den russischen Geheimdienst FSB im März 2005 hat der bewaffnete Widerstand an Bedeutung verloren.

 

Laut Präsident Putin ist mit der tschetschenischen Parlamentswahl am 27.11.2005 die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Tschetschenien abgeschlossen worden. Dabei errang die kremlnahe Partei "Einiges Russland" die Mehrheit der Sitze. Beobachter stellten zahlreiche Unregelmäßigkeiten fest. Hauptkritik an der Wahl war u.a. die anhaltende Gewaltausübung und der Druck der Miliz (sog. "Kadyrowzy") gegen Wahlleiter und Wahlvolk. Nach dem Rücktritt seines Vorgängers Alu Alchanow im Februar 2007 hat der bisherige Ministerpräsident Ramzan Kadyrow am 05.04.2007 das Amt des tschetschenischen Präsidenten angetreten. Er hat seine Macht in der Zwischenzeit gefestigt und zu einem Polizeistaat ausgebaut

 

Der von Russland unterstützte Präsident Ramzan Kadyrow verfolgt offiziell das Ziel Ruhe, Frieden und Stabilität in Tschetschenien zu garantieren und den Einwohnern seines Landes Zugang zu Wohnungen, Arbeit, Bildung, medizinischer Versorgung und Kultur zu bieten.

 

Neben der endgültigen Niederschlagung der Separatisten und der Wiederherstellung bewohnbarer Städte ist eine wichtige Komponente dieses Ziels die Wiederbelebung der tschetschenischen Traditionen und des tschetschenischen Nationalbewusstseins. Kadyrow fördert das Bekenntnis zum Islam, warnt allerdings vor extremistischen Strömungen, wie dem Wahhabismus. Jeder, der in Verdacht steht, ihn und seine Regierung zu kritisieren, wird verfolgt. Eine organisierte politische Opposition gibt es daher nicht. Die 16.000 Mann starken Einheiten Kadyrows sind für viele Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien bis heute verantwortlich.

 

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009

 

Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

 

Analyse der Staatendokumentation, Russische Föderation/Tschetschenien, Adat-Blutrache vom 5.11.2009

 

E. Maaß, Ein talentierter Diktator? Ramsan Kadyrow in den Spuren russischer Zaren, Stalins und Putins

 

Martin Malek, Understanding Chechen Culture

 

Der Standard vom 19.01.2010

 

1. Allgemeine Sicherheitssituation

 

In den letzten Jahren ist ein signifikanter Rückgang militärischer Aktivitäten feststellbar, sowohl was deren Intensität, als auch deren Umfang betrifft. Am 16. April 2009 hat Russland offiziell den "Sicherheitseinsatz" des Inlandsgeheimdienstes FSB in Tschetschenien für beendet erklärt. Damit ist der 2. Tschetschenienkrieg offiziell zu Ende und das Kriegsrecht aufgehoben. Anstatt der erhofften Entspannung kam es jedoch zu einer Welle der Gewalt und Gegengewalt.

 

Auch wenn von offizieller russischer Seite betont wird, dass es in Tschetschenien zu einem "politischen Prozess" gekommen ist, finden laut neuestem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 30.07.2009 im Nordkaukasus (noch mehr als in Tschetschenien in Dagestan und Inguschetien) weiterhin die schwersten Menschenrechtsverletzungen in der Russischen Föderation statt. Nach Überwindung des Tschetschenienkonflikts haben sich erhebliche Menschrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung fortgesetzt. Nach deutlichen Fortschritten bei der Sicherheits- und Menschenrechtslage in den Jahren 2007/2008 hat sich 2009 die Situation wieder verschlechtert. Beispielsweise sprechen selbst offizielle Stellen von einer 4,5-fachen Erhöhung der Verschwundenen von 2008 auf 2009. Im Sommer 2009 kamen im Vergleich zum Vorjahr doppelt so viele Personen bei gewalttätigen Zwischenfällen wie Spezialoperationen der Sicherheitskräfte oder terroristischen Anschlägen ums Leben.

 

Es gibt keine Rechtssicherheit, sondern es herrscht die Diktatur Kadyrows. Diese Einschätzung wird von einer großen Anzahl von Klagen von Tschetschenen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestützt (20.350 anhängige Klagen gegen Russland insgesamt zum Zeitpunkt Februar 2008, bisher 24 Verurteilungen der Russischen Föderation wegen Tschetschenien). Zwischenzeitig ist eine größere Anzahl von Urteilen, insbesondere wegen des Rechts auf Leben, gegen die Russische Föderation ergangen. Es kommt weiterhin, auch in allerletzter Zeit, nach wie vor zum Abbrennen von Häusern von Familien der Kämpfer, um diese unter Druck zu setzten und zur Aufgabe zu bewegen.

 

Den Machthabern in Russland ist es gelungen, den Konflikt zu "tschetschenisieren", das heißt, es kommt nicht mehr zu offenen Kämpfen zwischen russischen Truppen und Rebellen, sondern zu Auseinandersetzungen zwischen der Miliz von Ramzan Kadyrow und anderen "pro-russischen" Kräften/Milizen - die sich zu einem erheblichen Teil aus früheren Rebellen zusammensetzen - einerseits sowie den verbliebenen, eher in der Defensive befindlichen Rebellen andererseits. Eine dauerhafte Befriedung ist jedoch nicht eingetreten. Die bewaffnete Opposition wird mittlerweile von islamistischen Kräften dominiert, welche allerdings kaum Sympathien in der Bevölkerung genießen. Die Aktivitäten der tschetschenischen und föderalen Kräfte gegen die Rebellen wurden auch 2009 fortgesetzt. Die bewaffneten Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf entlegene Bergregionen. Den pro-russischen Kräften ist es, auch durch Erpressung/Entführung von Familienangehörigen etc. gelungen, die Sicherheitslage im allgemeinen (jedenfalls in einigen Teilen Tschetscheniens, insbesondere Grosny) zu stabilisieren; auch ein wirtschaftlicher Aufschwung ist eingetreten (finanziert durch z. T. missbräuchlich verwendete russische Hilfe/Erpressungsgelder), der in der Regel aber nur einigen, insbesondere den pro russischen Kräften, zugute kommt.

 

Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 30.07.2009

 

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Nordkaukasus: Sicherheits- und Menschenrechtslage vom 25.11.2009

 

Hinweise des UNHCR zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz Asylsuchender aus der russischen Teilrepublik Tschetschenien vom 7.4.2009 samt Ergänzung vom 11.11.2009

 

Asylländerbericht der ÖB Moskau v. 1.4.2009

 

E. Maaß, Ein talentierter Diktator? Ramsan Kadyrow in den Spuren russischer Zaren, Stalins und Putins

 

APA Meldungen und ORF Internet vom 16.04.2009

 

2. Verfolgungsgefahr

 

2.1 Zivilbevölkerung

 

Durch vielerlei Umstände kann es etwa möglich sein, ins Fadenkreuz der pro-russischen Kräfte zu kommen (etwa auch durch private Streitigkeiten). Ein Informationsaustausch zwischen den "pro-russischen Kräften" und dem russischen Geheimdienst wird eher bezweifelt, der russische Geheimdienst verfügt aber selbst weiterhin über zahlreiche Informationsquellen. Durch Bestechung kann es in seltenen Fällen aber sogar möglich sein, dass durch den Geheimdienst gesuchte Personen das Land verlassen können.

 

Nichtregierungsorganisationen, internationale Organisationen und die Presse berichten, dass sich auch nach Beginn des von offizieller Seite festgestellten "politischen Prozesses" erhebliche Menschenrechtsverletzungen durch russische und pro-russische tschetschenische Sicherheitskräfte gegenüber der tschetschenischen Zivilbevölkerung fortgesetzt haben. Dies sei häufig darauf zurückzuführen, dass reales Ziel der in Tschetschenien eingesetzten Zeitsoldaten, Milizionäre und Geheimdienstangehörigen Geldbeschaffung und Karriere sei. Zwar hat sich die Sicherheit der Zivilbevölkerung in Tschetschenien mittlerweile stabilisiert. Doch weisen Nichtregierungsorganisationen zugleich darauf hin, dass es nach wie vor zu willkürlichen Überfällen bewaffneter, nicht zuzuordnender Kämpfer, Festnahmen und Bombenanschlägen kommt.

 

Generell behauptet Kadyrow, dass bei der "Neutralisierung" der Rebellen keine Zivilisten behelligt werden. Im Gegenteil, gerade der Schutz der Zivilbevölkerung dient ihm als wichtiges Argument für eine verstärkte Konzentration der Sicherheitskräfte auf die Verfolgung von Mitgliedern illegaler bewaffneter Gruppierungen und ihrer Unterstützer. Es sind aber gerade die von Ramzan Kadyrow persönlich kommandierten "Kadyrowzy", denen besonders viele Folter- und Misshandlungsvorwürfe, auch von Zivilisten, gelten. Im April 2007 übergab Kadyrow die Kontrolle dem föderalen Innenministerium und löste das Antiterrorzentrum auf. Menschenrechtsgruppierungen kritisieren jedoch, dass die Truppen nach wie vor Kadyrow treu seien. Sein erklärtes Ziel ist es, dass die föderalen Truppen die operative Tätigkeit komplett den tschetschenischen Sicherheitskräften überlassen. Die ehem. Spezialeinheiten "Wostok" und "Sapad", die für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen im Nordkaukasus verantwortlich gemacht wurden, wurden zwischenzeitig aufgelöst. Dem FSB kommt eine zentrale Rolle im Kampf gegen den Terror zu und gewinnt dieser sogar zunehmend an Einfluss.

 

Folter bleibt ein drängendes Problem. Sie erfolgt willkürlich und unvorhergesehen, ein Muster ist nicht erkennbar. Auch Präsident Kadyrow hat Mitte März 2007 öffentlich Folter in Tschetschenien zugegeben, allerdings nur durch unter föderaler Kontrolle stehender Sicherheitskräfte. Der Menschenrechtskommissar des Europarats Thomas Hammarberg kritisierte nach einem Besuch in Tschetschenien Ende Februar/Anfang März 2007 Folter im ORB-2 (Operatives Fahndungsbüro 2, Teil des Föderalen Innenministeriums). Auch Präsident Kadyrow gab Mitte März 2007 öffentlich Folter im ORB-2 zu. Memorial werden weiterhin aktuelle Fälle von Folter sowohl im ORB-2 als auch durch eine spezielle Einheit des tsc

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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