TE AsylGH Bescheid 2008/09/12 C6 310613-1/2008

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Veröffentlicht am 12.09.2008
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Spruch

C6 310.613-1/2008/6E

 

H.L.

 

geb. 00.00.1977, StA.: Afghanistan

 

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG

 

DES VOM UNABHÄNGIGEN BUNDESASYLSENATES IN DER MÜNDLICHEN VERHANDLUNG

AM 2.5.2008 VERKÜNDETEN BESCHEIDS

 

SPRUCH

 

Der unabhängige Bundesasylsenat hat durch das Mitglied Mag. Judith PUTZER gemäß § 66 Abs. 4 AVG, BGBl. Nr. 51/1991 idgF, iVm § 61 des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG), entschieden:

 

Der Berufung von H.L. vom 16.3.2007 gegen den Bescheid des Bundesasylamtes vom 5.3.2007, Zahl: 06 07.732-BAE, wird gemäß § 34 Abs. 2 AsylG stattgegeben und H.L. der Status eines Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass H.L. kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Text

BEGRÜNDUNG

 

I. Verfahrensgang:

 

Am 16.11.2006 stellte Frau H.L. in Österreich einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz (im Folgenden Asylantrag). Der Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 5.3.2007, Zahl: 06 07.732-BAE, gemäß § 3 Abs 1 AsylG abgewiesen. Unter Spruchpunkt II. dieses Bescheides wurde festgestellt, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Berufungswerberin nach Afghanistan nicht zulässig ist. Unter Spruchpunkt III. wurde die Berufungswerberin für den Fall des Eintritts der Rechtskraft eine Aufenthaltsberechtigung befristet bis zum 31.12.2007 erteilt. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Berufung.

 

Die Berufungsbehörde erhob Beweis durch die Einsichtnahme in folgende Dokumente:

 

ACCORD, Reisebericht Afghanistan 13.-24. Juli 2003, erschienen im September 2003;

 

Amnesty International, Afghanistan. Re-establishing the rule of law, 14. August 2003;

 

Auswärtiges Amt Berlin. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan, Stand Juli 2003;

 

Auswärtiges Amt Berlin, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Islamischen Übergangsstaat Afghanistan (Stand Oktober 2004) vom 3. November 2004;

 

Auswärtiges Amt Berlin, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage im Islamischen Übergangsstaat Afghanistan (Stand Mai 2005);

 

Auswärtiges Amt Berlin, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand November 2005);

 

Auswärtiges Amt Berlin, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan (Stand Mai 2006);

 

Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge: Afghanistan Information, Politische Entwicklungen, Übergangsregierung und Entscheidungspraxis vom Februar 2002;

 

Home Office, operational guidance note Afghanistan, 18.8.2006;

 

Human Rights Watch Briefing Paper: Taking Cover - Women in Post-Taliban Afghanistan, Mai 2002;

 

Human Rights Watch Briefing Paper: Afghanistan: Return of the Warlords, Juni 2002;

 

Informationsverbund Asyl e. V., Pro Asyl - Stiftung Pro Asyl "Rückkehr nach Afghanistan", unter welchen Umständen können Flüchtlinge zurückkehren? Bericht über eine Untersuchung in Afghanistan im Zeitraum März/April 2005 vom Juni 2005;

 

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan - die aktuelle Situation, Update, Michael Kirschner, Bern, 1. März 2004;

 

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan - die aktuelle Situation, Update, Michael Kirschner, Bern, 3. Februar 2006;

 

UNHCR: Überlegungen zur Rückkehr von afghanischen Staatsangehörigen, die sich derzeit in Aufnahmeländern aufhalten, die nicht an Afghanistan grenzen, 13. Februar 2002;

 

UNHCR-Stellungnahme zur Frage der Flüchtlingseigenschaft afghanischer Asylsuchender (Aktualisierte Zusammenstellung vom Juli 2003);

 

UNHCR, Aktualisierte Darstellung der Lage in Afghanistan - Sicherheit, Menschenrechte, humanitäre Situation, September 2003;

 

UNHCR, Update on the Situation in Afghanistan and International Protection Considerations, Juni 2005;

 

UNHCR, Humanitäre Erwägungen im Zusammenhang mit der Rückkehr nach Afghanistan, Mai 2006;

 

Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen vom 12. Juli 2002 über die Lage der afghanischen Frauen und Mädchen (Report of the Secretary-General on the situation of women and girls in the territories occupied by Afghan armed groups, submitted in accordance with Sub-Commssion resolution 2001/15), E/CN.4/Sub.2/2002/27 Womankind worldwide Oktober 2006, "Taking stock update: Afghan women and girls five years on" [www.womankind.org.uk];

 

Ausführungen des Sachverständigen für die aktuelle politische Lage in Afghanistan zur Situation der Frauen in Afghanistan, ursprünglich an den unabhängigen Bundesasylsenat erstattet in der mündlichen Verhandlung am 16.12.2002 zum Verfahren mit der Geschäftszahl 217.268;

 

Ausführungen des Sachverständigen für die aktuelle politische Lage in Afghanistan zur Situation der Frauen in Afghanistan, ursprünglich an den unabhängigen Bundesasylsenat erstattet in der mündlichen Verhandlung am 4.3.2004 zu den Verfahren mit den Geschäftszahlen

226.892 und 226.895;

 

Ausführungen des Sachverständigen für die aktuelle politische Lage in Afghanistan zur Situation der Frauen in Kabul, ursprünglich an den unabhängigen Bundesasylsenat erstattet in der mündlichen Verhandlung am 26.2.2002 zum Verfahren mit der Geschäftszahl 226.672

 

Ausführungen des Sachverständigen Dr. S.R. in der mündlichen Verhandlung vom 5.3.2007 vor dem unabhängigen Bundesasylsenat

 

Ausführungen des Sachverständigen für die aktuelle politische Lage in Afghanistan zur Situation der Frauen, ursprünglich an den unabhängigen Bundesasylsenat erstattet in den mündlichen Verhandlungen am 26.02.2002 zum Verfahren mit der Geschäftszahl 226.672-X/28/03, ferner am 21.05.2004 zu Geschäftszahl 245.941/0-XIV/08/04

 

und die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Berufungsverhandlung am 2.5.2008. An der Berufungsverhandlung nahm das Bundesasylamt nicht teil. Das Bundesasylamt hatte die Abweisung der Berufung beantragt.

 

II. Der unabhängige Bundesasylsenat hat erwogen:

 

1. Folgender Sachverhalt wird festgestellt:

 

1.1. Zur Berufungswerberin:

 

Die Berufungswerberin ist afghanische Staatsangehörige, gehört der Volksgruppe der Hazare an und stammt aus G., Distrikt Jaghatu. Sie wurde am 00.00.1977 in G. geboren. Die Berufungswerberin hat keine Schulbildung und ist Analphabetin. Der Ehemann der Berufungswerberin Herr H.A. ist bereits am 5.6.2002 aus Afghanistan kommend in das österreichische Bundesgebiet eingereist und hat auch hier einen Asylantrag gestellt. Die Berufungswerberin hat vier minderjährige Kinder, für die sie ebenfalls im Familienverfahren Asylanträge gestellt hat. Von ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrer Einstellung her ist die Berufungswerberin "westlich" orientiert.

 

1.2. Zur Situation in Afghanistan:

 

1.2.1. Allgemeine politische Lage:

 

Die Taliban existieren als politisches System nicht mehr. Sie sind ab dem 10.12.2001 vollständig abgezogen. Am 5.12.2001 wurde von den Delegierten der Konferenz auf dem Petersberg das Afghanistan-Abkommen unterzeichnet. Damit wurde der international unterstützte Prozess des politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Wiederaufbaus Afghanistans eingeleitet. Am 22.12.2001 wurde eine Interimsregierung unter der Führung von Hamid Karzai eingerichtet. Am 19.6.2002 vereidigte die Loya Jirga die Interimsregierung unter Karzai. An dieser Regierung sind die verschiedenen Fraktionen und Ethnien Afghanistans beteiligt. Nach Tagung einer Verfassungsgebenden Großen Ratsversammlung trat am 26. Jänner 2004 eine neue Verfassung in Kraft. Am 9. Oktober 2004 fanden Präsidentschaftswahlen statt, aus denen Hamed Karzai als Sieger hervorging. Die Parlaments- und Provinzratswahlen fanden am 18. September 2005 statt. Aufgrund von über 5.000 Einsprüchen und vielen Unregelmäßigkeiten wurde das landesweite Endergebnis erst am 12. November von der Wahlkommission verkündet. Darin befindet sich das Lager der Moderaten und Demokraten in der Minderheit. Ethnisch besteht eine Balance zwischen der paschtunischen Mehrheitsgruppe (47 %) und nord- und zentralafghanischen Ethnien (Tadschiken, Usbeken, Hazara, Turkmenen, Aimaq). Unter den gewählten Abgeordneten sind mindestens 80 noch aktive Kommandeure bewaffneter Gruppen und zwölf frühere Taliban-Kommandeure.

 

(Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Islamischen Republik Afghanistan [Stand: Mai 2006], 13. Juli 2006, Seite 6-8).

 

Die Sicherheitslage stellt sich regional sehr unterschiedlich dar. Gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen militärischen und politischen rivalisierenden Gruppen dauern in etlichen Provinzen regional oder lokal fort bzw. können jederzeit wiederaufleben. Neben Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Milizen kommt es insbesondere im Süden und Osten des Landes weiterhin zu gewaltsamen Übergriffen von regruppierten Taliban- und anderen regierungsfeindlichen Kräften. Die Anti-Terror-Koalition bekämpft die radikal-islamischen Kräfte vor allem im Osten, Südosten und Süden von Afghanistan.

 

Afghanistan gehört nach den Kriegsjahren und einer langjährigen Dürre zu einem der ärmsten Länder der Welt. Die Wirtschaftslage ist weiterhin desolat, erste Schritte zur Verbesserung der Rahmenbedingungen sind allerdings eingeleitet. Die humanitäre Situation stellt die Bevölkerung vor allem mit Blick auf die über 4,4 Millionen - meist aus Pakistan zurückgekehrten - Flüchtlinge vor große Herausforderungen.

 

(Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Islamischen Republik Afghanistan [Stand: ;Mai 2006], 13. Juli 2006, Seite 5).

 

1.2.2. Sicherheitslage:

 

Die Sicherheitslage hat sich für afghanische Staatsangehörige weiterhin landesweit nicht verbessert, in mancher Beziehung sogar verschlechtert. Im Raum Kabul bleibt sie weiter fragil, auch wenn sie auf Grund der ISAF-Präsenz im regionalen Vergleich zufriedenstellend ist. Sie wurde vom UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees) seit Mitte 2002 für freiwillige Rückkehrer als "ausreichend sicher" bezeichnet. Für frühere Bewohner Kabuls ist sie in Teilen ausreichend sicher. Es sind allerdings auch dort Auseinandersetzungen wegen besetzten oder entzogenen Grundeigentums bekannt. Immer wieder kommt es in Kabul zu Granatenbeschuss (zB. Am 3. Februar 2004). Am 22. November 2003 explodierte eine Bombe auf dem Gelände des Intercontinental Hotels in Kabul. Es kommt teilweise zu Übergriffen von Polizei und Sicherheitskräften.

 

Typischerweise begehen Gruppen von Angehörigen der Sicherheitskräfte bewaffnete Raubüberfälle und Diebstähle.Wie schwierig die Sicherheitslage in Hinblick auf die politische Stabilität des Landes ist, zeigte z.B. der Raketenangriff auf die Stadt Kabul am 15.12.2003. Eine der Raketen schlug auf dem Gelände des afghanischen Außenministeriums ein. Am 4.12.2003 schlug eine Rakete etwa 300 Meter von der US-amerikanischen Botschaft und des ISAF Hauptquartiers ein. Auch der Anschlag auf den Gouverneur der Provinz Kandahar, Gul Agha, bei dem am 13.4.2003 ein Leibwächter getötet wurde, verdeutlicht die immer noch unbefriedigende Sicherheitslage. Am 19. Juni 2003 wurde eine 20 kg Bombe vor dem Haus des Verteidigungsministers Fahim gefunden, der sich zu dieser Zeit außerhalb Afghanistans aufhielt. Im Februar 2002 wurden der Minister für Luftverkehr und Tourismus Abdul Rahman und im Juli 2002 der Vizepräsident und Minister für Öffentliche Arbeiten, Haji Qadir, ermordet.

 

Ein missglückter Bombenanschlag auf Verteidigungsminister Mohammed Fahim am 6.4.2002 in Jalalabad (Ostafghanistan) forderte mehrere Menschenleben und Verletzte. Entsprechendes gilt für das gegen Präsident Karzai in Kandahar gerichtete Attentat mittels Schusswaffen vom 5.9.2002. Die Antiterrorkoalition bekämpft die islamistischen Kräfte vor allem im Osten, Südosten und Süden von Afghanistan mit über 11.000 Mann. Entgegen anders lautender Einschätzungen hat die Erklärung des US-Verteidigungsministers Rumsfeld über das "Ende der Hauptkampfhandlungen" in AFG vom 1.5.2003 nach Aussagen des landesweit mit Büros präsenter UNAMA und dem UNHCR keine Verringerung von Streitkräften oder Kampfhandlungen zur Folge. Nach übereinstimmenden Quellen sickern islamistische Kräfte (u.a. Taliban, Al Qaida) aus dem pakistanischen Paschtunengürtel, die während der "heißen Phase" von "Enduring Freedom" aus Afghanistan im Jahr 2002 geflohen waren, weiter nach Afghanistan ein. Dem Milizenführer Hekmatyar zugerechnete Kräfte sind v.a. im Osten wieder verstärkt aktiv. Im Februar 2004 kam es in Jalalabad, im Dezember 2003 in Kandahar wiederholt zu Anschlägen auf Einrichtungen der Provinzregierung und Hilfsorganisationen. Als möglicher Hintergrund werden sowohl terroristische als auch kriminelle Motive angesehen. Eine spürbare Reinfiltration von Taliban/Islamisten ist ebenfalls in den westlichen Provinzen Ghor (Westteil), Farah und Nimruz zu verzeichnen. In den süd(östlichen) Provinzen Helmand, Kandahar, Süd-Uruzgan sowie Zabul häufen sich terroristische Anschläge. Dort ist gleichfalls eine Reinfiltration von Taliban/Islamisten spürbar. In Helmand, Kandahar, Süd-Farah, Paktia, Paktika und Khowst gibt es fortgesetzte Militäraktionen von Koalitionskräften ebenso wie in den östlichen Gebieten Kunar und Nangarhar.

 

In den verschiedenen Teilen des Landes halten Kämpfe zwischen militärischen und politischen Rivalen weiter an. Dies schließt Stammesfehden ein, die unter anderem für paschtunisch geprägte Gebiete des Südens typisch sind. Im Nordwesten kommt es immer wieder zu Kämpfen und erheblichen Spannungen besonders in den Provinzen Samangan, Jowzjan, Balkh, Saripul und Faryab (die Hauptakteure sind hier Jamiat-e-Islami (tadschikisch), Jumbesh-e-Milli (usbekisch), Hezb-e-Wahdat (hazaritisch), insbesondere zu laufenden Auseinandersetzungen zwischen dem afghanischen Usbekenführer Dostum und seinem tadschikischen Herausforderer Atta in der Gegend um Mazar-i-Sharif. Bei bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Dostum und Atta im April 2003, in die mehrere hundert Milizionäre verwickelt waren, kamen mindestens 10 Personen, darunter auch Zivilisten, zu Tode. Diese Kämpfe flammten im Oktober 2003 wieder auf. Auch sie forderten Todesopfer. Auf Vermittlung von Innenminister Jalali und der britischen Botschaft sowie mit Unterstützung des britischen PRT kam Ende Oktober 2003 ein Waffenstillstand zustande. Anfang Oktober 2002 wurden in der Nähe von Mazar-i-Sharif einige Massengräber mit Opfern des Regimes der radikal-islamischen Taliban entdeckt. Es wurden nach Schätzungen ca. 350 Leichen gefunden.

 

Im Westen des Landes kommt es vor allem im zwischen Herat und Farah gelegenen Shindand zu Kämpfen zwischen den Gefolgsleuten des Herater Gouverneurs Ismael Khan und des früheren Kandaharer Gouverneurs Gul Agha (Militärführer Amanullah). Die Stadt Herat, von Ismael Khan autoritär regiert, ist äußerlich weitgehend sicher. Es kommt jedoch häufig zu Übergriffen gegen Frauen und (vermeintlich) Oppositionelle durch Sicherheitskräfte. "Human Rights Watch" erhob in einem Bericht im Dezember 2002 erhebliche Vorwürfe gegen Polizei und Sicherheitskräfte in Herat, wonach diese für Folter, Misshandlungen und willkürliche Verhaftungen verantwortlich sein sollen. Nachdem der Provinzgouverneur von Herat, Ismael Khan, am 21. März 2004 einen Mordanschlag unbeschadet überlebt hatte, ist sein Sohn, Luftfahrtminister Mirwais W. Saddiq, mit bewaffneten Anhängern zum Dienstsitz des Kommandeurs der in Herat stationierten 17. Division, Naibzadeh, gezogen, den er für das Attentat verantwortlich machte. Bei einem darauf folgenden Feuergefecht kam Saddiq ums Leben. Bei den nachfolgenden schweren bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Anhängern Khans und des Divisionskommandeurs sind mehrere Menschen ums Leben gekommen. Am 25. Februar 2003 explodierte eine Autobombe vor dem Gebäude des Bildungsbeauftragten in Kandahar, bei der erheblicher Sachschaden angerichtet wurde. Am Vortag war es zu einem Sprengstoffanschlag auf das Haus des Polizeichefs von Kandahar gekommen. Am 11. November 2003 gab es einen Anschlag auf den UNAMA Gebäudekomplex in Kandahar. Ein afghanischer Sicherheitsbeamter ist dabei getötet worden. Auch im Süden, Südosten und Osten (dort insbesondere in den Provinzen Nuristan und Laghman) tragen fraktionelle Auseinandersetzungen zur Destabilisierung bei. Aus dem südlichen Hazarajat (West-Ghazni, Süd-Bamyian, Nord-Uruzgan) sind innerhazaritische Kämpfe bzw. Rivalitäten zwischen den beiden Flügeln der Hezb-e-Wahdat (Anhänger von Vizepräsident Khalili bzw. Akbari) bekannt.

 

Der Einfluss der Drogenbarone wächst. Besonders im Norden/Nordosten, Nordwesten, Westen sowie im Süden und Südosten des Landes expandiert der Drogenanbau. Entgegen der Regierungspolitik, die sich zumindest verbal zum Kampf gegen den Opiumanbau bekennt, wurde 2003 eine neue Rekordernte eingefahren. Dies stärkt den Einfluss der Drogenbarone und erhöht das Gewaltpotential.

 

Es gibt weiterhin Binnenvertreibungen, u.a. im Norden, Osten und Zentralafghanistan als unmittelbare Folge der genannten Auseinandersetzungen. Rechtswidrige Zwangsrekrutierungen kommen besonders im Norden immer wieder vor.

 

Landesweit wird über etliche Fälle von Plünderungen und Erpressung von Geld berichtet. Opfer sind häufig Binnenvertriebene und Rückkehrer, von denen angenommen wird, dass sie über finanzielle Ressourcen und/oder Rückkehrbeihilfen verfügen. Lösegelderpressungen und Entführungen fallen häufig Frauen zum Opfer.

 

Einfluss auf die humanitäre Lage in Afghanistan hat auch die sich weiter verschlechternde Situation für die internationale Gemeinschaft. Im Jahr 2003 kam es wiederholt zu Übergriffen auf Mitarbeiter von internationalen Hilfsorganisationen

 

(Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan [Stand: Oktober 2004], 3. Novemberl 2004, Seiten 11 ff; unverändert im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes, Stand Mai 2005; Situation unverändert im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes, Stand Mai 2006, Seiten 10 ff).

 

1.2.3. Staatliche Strukturen:

 

Ebenso wie es an funktionierenden Verwaltungsstrukturen fehlt, kann bislang auch nicht von einem nur ansatzweise funktionierenden Justizwesen gesprochen werden. Es besteht keine Einigkeit über die Gültigkeit und damit Anwendbarkeit von Rechtssätzen. Zudem fehlt es an einer Ausstattung mit Sachmitteln und geeignetem und ausgebildetem Personal. Oft sind noch nicht einmal Texte der wichtigsten afghanischen Gesetze vorhanden. Tatsächlich wird in den Gerichten, soweit sie ihre Funktion ausüben, eher auf Gewohnheitsrecht und Vorschriften des islamischen Rechts als auf weiterhin gültige Gesetze Bezug genommen.

 

Eine Strafverfolgung lokaler Machthaber außerhalb Kabuls wegen Übergriffen ist praktisch nicht möglich. Auf dem Land wird die Richterfunktion in der Regel von lokalen Räten (Shuras) übernommen.

 

Der Aufbau einer afghanischen Polizei, in der alle Ethnien gleichberechtigt vertreten sind, spielt eine Schlüsselrolle für die Wiederherstellung der inneren Sicherheit in Afghanistan. Angestrebt wird der Aufbau einer Polizei, die 50.000 Polizisten und 12.000 Grenzschützer umfasst; bislang wurde knapp die Hälfte ausgebildet.

 

(Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan [Stand: Oktober 2004], 3. November 2004, Seiten 8, 9; unverändert im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes, Stand Mai 2005; Situation unverändert im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes, Stand Mai 2006 Seiten 9, 10).

 

1.2.4. Menschenrechtssituation:

 

Der praktisch landesweit bestehende Zustand weitgehender Rechtlosigkeit des Einzelnen ist trotz intensiver Bemühungen und institutioneller Fortschritte (wie zB der Einrichtung einer unabhängigen Menschenrechtskommission) noch nicht überwunden. Praktisch sichtbar wird dies etwa an einer Vielzahl meist unbekannt bleibender Menschenrechtsverletzungen oder landesweiten Streitigkeiten um willkürlich besetzte Privatgrundstücke und Wasserquellen (Opfer sind typischerweise Auslandsafghanen/Rückkehrer, es gibt häufig Vorfälle im Nordwesten und in Kabul). Es gibt weiterhin Binnenvertreibungen, ua im Norden, Osten und Zentralafghanistan als unmittelbare Folge der genannten Auseinandersetzungen. [...] Landesweit wird über etliche Fälle von Plünderungen und Erpressung von Geld berichtet. Opfer sind häufig Binnenvertriebene und Rückkehrer, von denen angenommen wird, dass sie über finanzielle Ressourcen und/oder Rückkehrhilfen verfügen. Lösegelderpressungen und Entführungen fallen oft Frauen zum Opfer. (Auch) Repressionen gegen (vermeintlich) politisch Andersdenkende sind bekannt. Die Opposition gegen Warlords, Drogenbarone, Regionalkommandeure und Milizenführer in ihrem Machtbereich wird unterdrückt und führt oft zu harten Sanktionen. [...] Ein Minimum an sozialer Sicherheit (ua Angebote der Gesundheitsvorsorge) ist nicht vorhanden. Es gibt keine Möglichkeit, einen eigenen

 

Lebensunterhalt zu verdienen.

 

(Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Afghanistan, Stand Oktober 2004, Seiten 8, 13, 14; unverändert im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes, Stand Mai 2005; Situation unverändert im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes, Stand Mai 2006, Seiten 23-28).

 

1.2.5. Versorgungslage:

 

Die VN versorgen auch nach dem Ende der langjährigen Dürreperiode noch Millionen von Afghanen mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern (Zahlen saisonal schwankend). Darunter befinden sich über eine Million Binnenvertriebene und Rückkehrer, die 2003 wieder nach Afghanistan gekommen sind.

 

Die Versorgungslage hat sich in Kabul und zunehmend auch in den anderen großen Städten grundsätzlich verbessert, wegen mangelnder Kaufkraft profitieren jedoch längst nicht alle Bevölkerungsschichten von der verbesserten Lage. In anderen Gebieten Afghanistans kann die Versorgungslage als weiterhin nicht zufrieden stellend bis völlig unzureichend beschrieben werden. Gerade in den ländlichen Gebieten herrscht starke Mangelernährung. Während die Landwege für Lebensmitteltransporte in die großen Städte (Kabul, Herat, Mazar-i-Sharif) von VN-Transporten weitgehend wieder benutzt werden können, ist der Transport in entlegenere Gebiete nach wie vor sehr schwierig. Hauptprobleme sind neben der wachsenden Gefahr von kriminell motivierten Überfällen vor allem Landminen sowie Schnee im Winter (besonders in höheren Lagen). Die medizinische Versorgung ist in Afghanistan aufgrund fehlender Medikamente, Geräte und Ärzte und mangels ausgebildeten Hilfspersonals völlig unzureichend. Afghanistan gehört zu den Ländern mit der höchsten Kindersterblichkeitsrate in der Welt. Die Lebenserwartung der afghanischen Bevölkerung liegt bei etwa 45 Jahren. Auch in Kabul, wo mehr Krankenhäuser als im übrigen Afghanistan angesiedelt sind, ist für die afghanische Bevölkerung noch keine hinreichende medizinische Versorgung gegeben. Im Herbst 2002 haben Keuchhusten sowie eine verwandte Krankheit (in nordöstlichen Provinzen, u.a. Badakhschan) in wenigen Tagen mindestens hundert Tote, meist Kinder und ältere Menschen, gefordert. Staatliche soziale Sicherungssysteme sind nicht bekannt. Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherungen gibt es nicht. Familien und Stämme übernehmen die soziale Absicherung.

 

(Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan v., 3.November 2004, Seiten 25 f)

 

1.2.6. Zur Situation der Frauen in Afghanistan:

 

1.2.6.1. Allgemein:

 

Nach dem Sturz des VDPA-Regimes (1992) haben die Traditionalisten und Islamisten in Afghanistan die Macht übernommen und den Frauen eine Lebensweise aufgezwungen, die in den dörflichen Verhältnissen schon immer existiert hat. Die Frauen mussten in der afghanischen traditionellen Kleidung und Kopftuch das Haus verlassen und sie wurden in ihren öffentlichen Arbeitsplätzen von den Mujaheddin belästigt, sodass sie nach und nach die Ministerien verließen. Mit der Machtübernahme der Taliban waren die Frauen gezwungen, die Burka zu tragen, sie durften allgemein nicht die öffentlichen Bildungseinrichtungen besuchen oder in der Öffentlichkeit arbeiten. Es war ihnen vorgeschrieben, das Haus nur mit nahen männlichen Verwandten zu verlassen.

 

(R., 16.12.2002, a.a.O.)

 

Auch der Zugang zu medizinischer Versorgung war für Frauen nicht zuletzt aufgrund restringierter Bewegungsfreiheit massiv erschwert. Frauen durften außerdem nur bestimmte Frauen-Krankenhäuser aufsuchen.

 

(HRW, Between hope and fear. Intimidation and attacks against women in public life in Afghanistan, October 2004, p. 6)

 

Gegenwärtig stellt sich das afghanische gesellschaftliche System zwar als Staat dar, der auf Basis der demokratischen Verfassung vom 1964 stehen sollte, aber die Mehrheit der Machthaber sind die ehemaligen Mujaheddin, die die konservativen islamischen Vorstellungen bezüglich der Frauen weiterhin als eine islamische bzw. afghanische Gegebenheit verteidigen. Im Rahmen des Bonner Abkommens bei der Bildung einer neuen Regierung Ende November 2001 wurden die Rechte der Frauen angeschnitten und ihnen Gleichberechtigung eingeräumt, aber auf Grund der politischen Entwicklung in Afghanistan in den letzten zwei Jahrzehnten ist die Gesellschaft sehr konservativ geworden und die Regierung nimmt Rücksicht auf diese konservative Vorstellung der Gesellschaft, die von den Taliban gefestigt worden ist. Die Frauen können zwar einer Arbeit nachgehen, aber sie müssen mit Burka aus dem Haus gehen und möglichst unauffällig auf der Straße erscheinen. Von der Regierung aus gibt es für sie keine Einschränkungen, aber die Mujaheddin, die teilweise gegen die Emanzipation der Frauen stehen, versuchen die Bewegungsfreiheit der Frauen einzuschränken. Die verschiedenen Richter, die Geistliche sind, geben ab und zu Interpretationen von sich, die gegen die Emanzipation der Frauen sind. Aus dieser Situation resultiert eine Gefahr für moderne und auch gutaussehende Frauen auf der Straße, wenn sie versuchen würden, ohne Schleier auf die Straße zu gehen. Dieser Situation kann die Regierung nichts entgegensetzen.

 

Wenn die Frauen versuchen würden, für Emanzipation und Gleichberechtigung in der Öffentlichkeit aufzutreten, müssten sie zumindest mit verbalen Übergriffen rechnen. Deshalb versuchen die Vertreterinnen der Frauen in Kabul in ihren Zeitungen ihre Lage in Afghanistan publik zu machen und sich gleichzeitig vor einem Angriff in der Öffentlichkeit zu schützen. Die ehemalige Frauenministerin, Sima Samar, wurde bei einem Interview in den USA falsch interpretiert und ihre unislamische Äußerungen vorgeworfen, obwohl sie (lediglich) von der Trennung der Religion von der Politik gesprochen hatte. Karzai konnte sie deshalb nicht halten und sie wurde als Ministerin nicht mehr weiterbestellt. Viele Geistliche haben für sie die Todesstrafe verlangt. Der oberste Richter war gezwungen, sie in der Öffentlichkeit zu tadeln, hat sie aber vom Vorwurf, einer unislamischen Äußerung freigesprochen. Insgesamt ist die Regierung und die internationale Gemeinschaft bemüht, die Situation der Frauen zu verbessern. Diese Bemühungen beschränken sich aber auf die minimalen Grundrechte der Frauen, z.B. Versuch der Verhinderung der Übergriffe auf die Frauen, wie sie unter den Mujaheddin bis 1996 und unter den Taliban bis 2001 der Fall waren, sowie Bemühungen hinsichtlich der Bereiche Bildung und medizinische Versorgung, sowie Versorgung mit Lebensmitteln. Die gebildeten und emanzipierten Frauen in Afghanistan sind in ihrem gesellschaftlichen Verhalten und ihrer Lebensweise auf den Stand von Frauen in Dorfgemeinschaften zurückgeführt worden.

 

(R., 16.12.2002, a.a.O.)

 

Die Menschenrechtslage afghanischer Frauen war bereits vor dem Taliban-Regime durch häufig orthodoxe Scharia-Auslegungen und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes geprägt. Während Frauenrechte im kodifizierten Recht gestärkt werden konnten (...), bleibt die Verwirklichung elementarer Menschenrechte für den größten Teil der afghanischen Frauen weit dahinter zurück. Zwar kann sich die Lage für einzelne Betroffene je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden. Doch erlaubt es insbesondere die unbefriedigende Sicherheitslage in weiten Landesteilen Frauen in der Regel nicht, die mit Überwindung der Taliban und ihren Frauen verachtenden Vorschriften erwarteten Freiheiten wahrzunehmen. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage - oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt -, Frauenrechte zu schützen.

 

(Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan [Stand: März 2004], 22.4.2004, S. 23 ff. ; Situation unverändert im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes, Stand Mai 2006, Seiten 20, 21.)

 

Die Afghanische Verfassung von 2004 garantiert bestimmte Frauenrechte; so in Artikel 22, wo gleiche gesetzliche Rechte und Pflichten für Frauen konstituiert werden. In Artikel 44 heißt es, der Staat werde effektive Programme zur Förderung von Frauen, insbesondere im Bildungsbereich, einrichten und fördern. Auch garantiert die Verfassung Frauen in der aus zwei Kammern bestehenden Nationalversammlung. Etwa 25% der Sitze im Unterhaus sind für Frauen reserviert. Allgemein wird die Regierung in der Verfassung aufgefordert, eine blühende und fortschrittliche Gesellschaft auf der Basis sozialer Gerechtigkeit und dem Schutz von Menschenrechten zu etablieren. Afghanistan ist im Übrigen der Konvention zur Aufhebung aller Formen von Diskriminierung gegenüber Frauen (CEDAW) beigetreten.

 

Gleichwohl müssen viele afghanische Frauen und Mädchen nach wie vor um fundamentale Rechte kämpfen, insbesondere im Bereich Gesundheit, Erziehung, Arbeit und Bewegungsfreiheit.

 

Vor allem im Gesundheitsbereich ist die Situation für Frauen nach wie vor besonders prekär. Eine 2002 veröffentlichte Studie ergab, dass die Müttersterblichkeitsrate sehr hoch lag. Auf 100.000 Lebendgeburten kommen 1.600 Totgeburten, in der östlichen Provinz Badaskhan gar 6.500 Tot- auf 100.000 Lebendgeburten, die weltweit höchste jemals berichtete Rate.

 

Nur rund 12% der Abgeordneten der Loya Jirga sind Frauen. Zahlreiche weibliche Abgeordnete waren während der Verhandlungen der Loya Jirga mit massiven Einschüchterungen und Drohungen konfrontiert oder zensierten sich aus Furcht vor Racheakten in ihren Heimatgemeinden selbst. Nach Angaben von Human Rights Watch haben diverse Abgeordnete ihr Land zeitweilig verlassen. Eine Abgeordnete wies im Interview darauf hin, dass viele Abgeordnete früher Kommandanten gewesen sind, die zahlreiche Menschen getötet hätten und über Waffen und Geld verfügten. Viele weibliche Abgeordnete hatten Angst, in der Loya Jirga zu sagen, was sie sagen wollten, weil solche Kommandanten hinter ihnen saßen. Als Malalai Joya, Abgeordnete aus der Provinz Farah, öffentlich forderte, frühere Warlords vor nationale oder internationale Gerichte zu stellen, versuchten andere Delegierte, sie aus der Versammlung zu vertreiben. Obwohl sie für viele AfghanInnen zu einer Heldin geworden ist, hat sie seither zahlreiche Morddrohungen erhalten.

 

Bei den Parlamentswahlen wurden Kandidatinnen bedroht und stark behindert. So sind Frauen schon in den mächtigen politischen Parteien von Entscheidungsfunktionen ausgeschlossen. Hinzu kommen Einschüchterungen durch lokale Warlords bzw. lokale militärische Fraktionen.

 

Stark behindert wurde auch die Teilnahme von Frauen an den Präsidentenwahlen im Oktober 2004. An manchen Ort wurden Frauen bei der Registrierung für die Wahl gewaltsam attackiert und bedroht, sodass sich dort im Ergebnis nur wenige überhaupt registrieren. Auch Wahlhelferinnen wurden angegriffen: Am 25. Juni 2004 starben bei einem Sprengstoffattentat auf einen Bus mit Wahlhelferinnen nahe Jalalabad drei Frauen, zwölf wurden verletzt. Frauen, die sich im Rahmen der Registrierung von Wählerinnen und Wählern engagierten, sahen sich Widerständen und Drohungen seitens lokaler Fraktionen und der Taliban gegenüber.

 

(HRW, Between hope and fear. Intimidation and attacks against women in public life in Afghanistan, October 2004, pp. 6, 9, 10, 11, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33.)

 

Frauen werden traditionell in vielfältiger Hinsicht benachteiligt:

im Familien-, Erb-, Zivilverfahrens- sowie Strafrecht (vor allem hinsichtlich des Straftatbestands "Ehebruch", gemäß dessen selbst Opfer von Vergewaltigungen wiederholt bestraft worden sind).

 

(Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan [Stand: März 2004], 22.4.2004, S. 23 ff.; Situation unverändert im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes, Stand Mai 2006, Seiten 21 ff.)

 

Zudem gibt es Berichte, dass Frauen extralegal wegen "Ehebruchs" von Ehemännern oder anderen Familienmitgliedern umgebracht werden (so genannte "honor killings", die besonders in den paschtunischen Landesteilen vorkommen können). Das durchschnittliche Heiratsalter von Mädchen liegt bei 15 Jahren, obwohl ein Mindestheiratsalter von 18 Jahren gesetzlich verankert ist. Zwangsheirat bereits im Kindesalter, "Austausch" weiblicher Familienangehöriger zur Beilegung von Stammesfehden sowie die psychischen und alltäglichen Belastungen der (Nach-)Kriegszeit tragen dazu bei, dass häusliche Gewalt in Afghanistan weit verbreitet ist. Opfer sexueller Gewalt sind dabei auch innerhalb der Familie stigmatisiert. Das Sexualdelikt wird in der Regel als "Entehrung" der gesamten Familie aufgefasst. Sexualverbrechen zur Anzeige zu bringen, hat aufgrund des desolaten Zustandes des Sicherheits- und Rechtssystems wenig Aussicht auf Erfolg. Der Versuch endet u.U. mit der Inhaftierung der Frau - sei es aufgrund unsachgemäßer Anwendung der Beweisvorschriften oder zum Schutz vor der eigenen Familie, die eher die Frau/Tochter eingesperrt als ihr Ansehen beschädigt sehen will.

 

Im November 2002 waren 20 Frauen von Präsident Karzai begnadigt worden, die sich wegen Unzucht, Ehebruch oder anderer "moralischer" Verstöße (sog. "zina" Vergehen) in Haft befanden. Dennoch sind viele Frauen weiterhin wegen so genannter Sexualdelikte inhaftiert, weil sie sich beispielsweise einer Zwangsheirat durch Flucht zu entziehen versuchten, vor einem gewalttätigen Ehemann geflohen waren oder ihnen vorgeworfen wurde, ein uneheliches Kind geboren zu haben. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt wird sowie kaum qualifizierte Anwälte zur Verfügung stehen, in den seltensten Fällen möglich.

 

Von den Taliban gegen Frauen erlassene Verbote betreffend insbesondere die Freizügigkeit und Ausbildungs- sowie Arbeitsmöglichkeiten sind formal nicht mehr in Kraft.

 

Gleichwohl haben sich bisher nur begrenzte Verbesserungen ergeben. Dies liegt unter anderem an der weiterhin strengen Ausrichtung an Traditionen, fehlender Schulbildung sowie an den für viele unsicheren Zukunftsperspektiven. In der Region Herat werden traditionell Mädchen und Frauen Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten nicht verwehrt, Frauen aber in ihrer sonstigen Bewegungs- und Handlungsfreiheit aufgrund des traditionellen Verhaltenskodex stark eingeschränkt. Dort sind verschiedene Restriktionen aus der Taliban-Zeit tatsächlich weiterhin vorhanden. In Herat wurde in den vergangenen Monaten eine erhebliche Zahl von Selbstverbrennungen von Frauen verzeichnet. Überwiegend handelte es sich um aus dem Iran zurückgekehrte Flüchtlingsfrauen, von denen angenommen wird, dass sie sich vorwiegend aus Verzweiflung wegen Kinderverheiratung, Zwangsverheiratung u.ä. selbst verbrannt haben.

 

Außerhalb der Städte hat sich die Situation für die weibliche Bevölkerung seit langen Jahren insgesamt nur wenig geändert.

 

Afghanische Frauen waren unter den Taliban seit 1996 von jeglicher Bildung ausgeschlossen. Die Analphabetenrate der Frauen liegt Schätzungen zufolge in der Größenordnung von 90 %. Für die wenigen hoch qualifizierten Afghaninnen hat sich jedoch der Zugang zu adäquaten Tätigkeiten bei der Regierung verbessert. Im Sommer 2002 konnten zahlreiche Schulen für Mädchen eröffnet werden. Davon mussten einige nach Anschlägen jedoch wieder vorübergehend schließen. Fünf Mädchenschulen wurden vollständig niedergebrannt. Auch im September 2003 (im Osten Afghanistans) und März 2004 (im Norden Afghanistans) kam es zu Brandanschlägen auf Mädchenschulen.

 

Im Oktober 2003 wurden in mehreren Distrikten der Provinz Kapisa Flugblätter gefunden, in denen vor einem Besuch der Schulen durch Schülerinnen gewarnt wurde.

 

Obwohl es keinen staatlichen Zwang zum Tragen der "Burka" gibt, tragen die meisten Afghaninnen sie auch weiterhin, häufig auch aus Furcht vor Übergriffen. Insbesondere in Kabul ging der Gebrauch der "Burka" v.a. in akademisch geprägten Milieus leicht zurück, ist aber insgesamt auch hier nach wie vor weit verbreitet. Die "Burka" gibt den Frauen angesichts einer nach wie vor schwierigen Sicherheitslage wie einer außerordentlich patriarchalisch geprägten Gesellschaft auch nach dem Machtwechsel ein Gefühl von Sicherheit (u.a. Schutz gegen Vergewaltigungen). Die "Burka" war im übrigen auch vor der Taliban-Herrschaft bei der weiblichen Bevölkerung auf dem Lande ein übliches Kleidungsstück. Der im Mai 2003 gegründete "Islamische Rat", dem repräsentative Geistliche angehören, hat die Beachtung der "Hijab"-Kleidervorschriften (Schleier, langes Kleid), nicht jedoch der Burka gefordert.

 

(Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan [Stand: März 2004], 22.4.2004, S. 23 ff.; Situation unverändert im Bericht des Deutschen Auswärtigen Amtes, Stand Mai 2006, Seiten 22 ff.)

 

Es werden Journalistinnen und Frauenrechtlerinnen, die in den Zeitungen oder in der Öffentlichkeit für die Rechte der Frauen eintreten, von den Fundamentalisten bedroht, sodass viele Frauen, obwohl sie den Wunsch haben, die von der Karsai-Regierung proklamierten Gleichberechtigung der Frauen in Anspruch zu nehmen, sich zurückhalten. In manchen staatlichen Ämtern sind die Frauen präsent, wie im Frauenministerium, in der Nationalbank, im Außen- und Kulturministerium, diese Frauen sind als mutige Personen zu bezeichnen, die die Angst überwunden haben, zur Arbeit zu gehen. Kürzlich wurde bekannt, dass die Frauen, die im Verteidigungs- und Staatssicherheitsdienst beschäftigt waren, entlassen wurden.

 

Der oberste Richter, Shinwari, hat angeordnet, dass die Mädchen und Buben im Pubertätsalter nicht gemeinsam in einer Schulklasse sitzen. Für konservative Mullahs, wie Shinwari beginnt das Pubertätsalter für Mädchen mit 9 Jahren, obwohl es seitens der Regierung keine Einwände für eine Koedukation in der Volksschule und an der Universität bestehen.

 

(R., mündliche Berufungsverhandlung vom 26.2.2003, s. UBAS 3.4.2003, 226.672/5-X/28/03)

 

Die Dominanz bewaffneter politischer Fraktionen und die fortgesetzten Angriffe durch Taliban und andere aufständische Kräfte haben die Partizipation von Frauen an der politischen Sphäre in höchstem Maße be- bzw. verhindert.

 

Viele Frauen, die sich in der Öffentlichkeit engagieren, erhalten Todesdrohungen, etwa am Telefon oder in Form von "night letters", die nächtens an Wohnungen oder Büros der bedrohten Personen abgegeben werden. Den Drohungen folgen nicht selten Taten. So wurden im Sommer 2004 mehrere Sprengstoffanschläge auf Frauenrechtsaktivistinnen verübt (Mitte Juli 2004 auf das Auto von Safia Sidiqui, Regierungsmitarbeiterin und prominente Frauenrechtsaktivistin; Ende August auf das Haus einer Regierungsmitarbeiterin in einer zentralafghanischen Provinz). Auf eine andere Frau wurde vor ihrem Haus geschossen, nachdem sie kurz davor auf der Veranstaltung einer Frauenrechtsorganisation über vergewaltigte Mädchen und Mädchenhandel gesprochen hatte. In einer nördlichen Provinz wurde ein Frauenförderungsprogramm für drei Monate ausgesetzt, nachdem lokale Machthaber das Center übernommen hatten. Die Sozialarbeiterin, die zur Inspektion geschickt wurde, erhielt am Telefon Morddrohungen (sie würde zum Exempel für andere Frauen getötet werden, weil sie für die Ausländer arbeite), die sie veranlassten, eine Zeit lang in Indien Zuflucht zu suchen.

 

Einschüchterung und Bedrohung kann aber auch in Form von Verleumdung erfolgen, was insofern besonders schwer wiegt, als "Ehre" in der afghanischen Gesellschaft ein hoher Stellenwert beigemessen wird. Ein "schlechter Ruf" kann rasch zu gesellschaftlicher Ausgrenzung führen. Häufig wird den Betroffenen vorgeworfen, nicht muslimisch und unehrlich zu sein sowie unerlaubte sexuelle Beziehungen zu Männern zu unterhalten.

 

Frauenförderungsprogramme, wie sie auch in der Verfassung gefordert sind, werden häufig torpediert. So wurde in der Region Panjshir eine Frauenrechtsorganisation geschlossen, weil eine Gruppe von Mullahs Einwände gegen die Arbeit des Centers erhoben hat, das sich hauptsächlich um die Unterstützung intern vertriebener Frauen kümmerte. Die Mitarbeiterinnen des Zentrums wurden von bewaffneten Personen bedroht. Bemühungen der UN und verschiedener NGOs konnten an der Schließung nichts ändern.

 

Auch andernorts wurden Frauenzentren geschlossen, nachdem Mitarbeiterinnen am Leben bedroht oder mit Anschlägen auf die Gebäude, in denen die Einrichtungen untergebracht waren, gedroht worden war.

 

Insgesamt hat, so Human Rights Watch, die Kotrolle von Regierungsbehörden durch verschiedene Fraktionen auch die Frauenprojekte behindert.

 

(HRW, Between hope and fear. Intimidation and attacks against women in public life in Afghanistan, October 2004, pp. 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24.)

 

Etwa 75% der Bevölkerung haben keinen Zugang zu Geburtshilfe in Notfällen, weshalb das Risiko, durch Komplikationen in der Schwangerschaft oder bei der Geburt zu sterben, sehr hoch ist. Von den 174 Spitälern, die angaben, einen Kaiserschnitt durchführen zu können, besaßen nach rezenter Einschätzung nur 17 die gesamte notwendige Ausrüstung, um einen derartigen Eingriff unter annehmbaren Bedingungen durchzuführen.

 

Die öffentliche und private Gesundheitsinfrastruktur samt dem medizinischen Personal ist für eine Bevölkerung von 24 Millionen völlig inadäquat. Nicht nur Institutionen und Einrichtungen sind zerstört, auch das medizinische Personal, und hier wiederum insbesondere das weibliche, wurde im Zusammenhang mit der Geschlechtertrennung beim Zugang zu medizinischer Versorgung stark ausgedünnt. Einer neueren Schätzung zufolge gibt es in Afghanistan 2842 Ärzte, von denen 692 weiblich sind.

 

(UNHCR Update of the Situation in Afghanistan and International Protection Considerations, July 2003, S. 29f).

 

Die Frauen der städtischen Männer dürfen die ärztlichen Untersuchungen in Anspruch nehmen. Allerdings ist die medizinische Versorgung in Afghanistan weiterhin unzureichend und für die mittellosen Frauen sehr teuer, sodass eine adäquate Betreuung für sie und ihre Kinder nicht gewährleistet ist, weil die Privatärzte sehr viel Geld verlangen. Es ist nicht davon auszugehen, dass adäquate medizinische Versorgung gewährleistet ist.

 

(R., mündliche Berufungsverhandlung vom 23.9.2003, s UBAS 29.09.2003, 234.347/0-/24/03)

 

1.2.6.2. Sicherheitslage:

 

Sogar in Kabul, wo die Internationalen Friedenstruppen stationiert sind, sind viele afghanische Frauen immer noch drohenden Eingriffen in ihre persönliche Sicherheit ausgesetzt, die von Seiten der Zivilbevölkerung oder bewaffneten Männern der politischen Gruppierungen ausgehen.

 

Außerhalb Kabuls, wo keine Präsenz internationaler Truppen besteht, ist die Situation generell von mangelnder Sicherheit und Gesetzlosigkeit gekennzeichnet. In diesen Regionen sind Frauen dem erheblichen Risiko von Eingriffen in ihre persönliche Integrität und Sicherheit ausgesetzt, wodurch ihnen faktisch die Möglichkeit verwehrt ist, grundlegende Menschenrechte auszuüben und sich am politischen Wiederaufbau Afghanistans zu beteiligen.

 

Auch nach Ende des Taliban-Regimes ist es zu Übergriffen auf Frauen gekommen, die sich nicht an die unter den Taliban herrschenden Verhaltensregeln hinsichtlich Bewegungsfreiheit, Bekleidungsvorschriften oder Meinungsäußerung gehalten haben.

 

(Human Rights Watch Briefing Paper, Taking Cover - Women in Post-Taliban Afghanistan, Mai 2002, S. 1).

 

Besonders Frauen fallen oft den im ganzen Land vorkommenden Entführungen und Lösegelderpressungen zum Opfer. Ihr Status in der Gesellschaft und im täglichen Leben bewirkt, dass derartige Vorfälle nur äußerst schwer untersucht werden können.

 

(UNHCR Update of the Situation in Afghanistan and International Protection Considerations, July 2003, S. 18).

 

Der Grund dafür, dass sich die Situation der Frauen auch nach 2004 nicht verbessert, liegt darin, dass sich die Sicherheitslage im Jahre 2003 nach dem Irakkrieg verschlechtert hat, sodass die Fundamentalisten, Traditionalisten und ein Teil der Kommandanten, die gegen die Emanzipation der Frauen sind, die Verbesserung der Situation der Frauen die vom Staat in der neuen Verfassung festgelegt ist, zu verhindern versuchen.

 

(R., mündliche Berufungsverhandlung vom 04.03.2004, Zlen. 226.892/4-X/28/04 und 226.895/3-X/28/04).

 

1.2.6.3. Situation in Kabul:

 

Auch in der Hauptstadt Kabul bestehen für Frauen - vor allem vor dem Hintergrund der gegenwärtig durch den Zuzug einer großen Zahl rückkehrender Flüchtlinge angespannten Situation - weitgehende Einschränkungen hinsichtlich der persönlichen Sicherheit und damit in der Gewährleistung grundlegender Rechte:

 

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes dürfen die Frauen (in Kabul) zwar einer öffentlichen Arbeit nachgehen und die Ausbildungsinstitutionen in Anspruch nehmen. Die meisten jungen und unverheirateten Mädchen besuchen Schulen. Der Großteil der Eltern hat nichts dagegen. Die Mädchen und Frauen tragen aber weiterhin die von den Taliban vorgeschriebenen Burka - die Mädchen ab dem Heiratsalter. Obwohl die Karsai-Regierung für die Gleichberechtigung der Frauen ist und sie fördert, haben die Taliban und Mujaheddin nicht nur als Teil ihrer Herrschaftsausübung bei den Frauen ein Gefühl der Angst erzeugt, sondern sie haben den konservativen "Instinkt" der afghanischen Gesellschaft geweckt, sodass die Frauen auch von der Gesellschaft daran gehindert werden, für ihre Gleichberechtigung einzutreten und dies auch mit ihrem Auftreten ohne Burka in der Öffentlichkeit kund zu tun. Die berufstätigen Frauen in den öffentlichen Ämtern versuchen allmählich, ohne Burka mit einem Kopftuch ihre Arbeitsstelle zu erreichen und ihre Einkäufe zu machen oder Familien zu besuchen, aber dies ist nur in wenigen Vierteln von Kabul wie Shahrinaw, Wazir - Akbar - Khan, Makrorayan und Poli Bagh-e Umumi möglich, weil diese Viertel wenig zerstört sind und die meisten staatlichen Ämter und ausländische Organisationen dort ansässig sind. Lediglich die Frauen, deren Familien ein Auto haben, oder die Familien angehören, die in der staatlichen Verwaltung vertreten sind bzw. Frauen, die zu mächtigen Familien gehören, trauen sich ohne Burka, aber mit einem langen Kopftuch (Tschador) in der Stadt zu bewegen, während die Frauen mit weniger gesellschaftlicher Macht aus Rücksicht bzw. aus Angst vor Fundamentalisten oder vor ihren Nachbarn weiterhin die Burka tragen müssen. Die Stadt Kabul hat vor dem kommunistischen Putsch ca. eine halbe Million Einwohner gehabt, die hauptsächlich aus Kabul selbst stammten. Nach dem kommunistischen Putsch bis zum heutigen Tag wurde und wird die Stadt Kabul von Dorfbewohnern aus anderen Provinzen und von den zurückkehrenden Flüchtlingen bevölkert. Nach der islamischen Revolution und Einnahme der Stadt durch die Taliban wurden bewusst von diesen ihre Anhänger nach Kabul gebracht, um sowohl die Bevölkerungsstruktur als auch die kulturellen Gegebenheiten in Kabul zu verändern. Derzeit hat Kabul ca. 3 Millionen Einwohner und die Mehrheit der Einwohner sind nicht die ursprünglichen Einwohner von Kabul. Die Wohnsituation in Kabul ist sehr prekär, 80 % der Stadt Kabul ist durch die Kriege unter den Mujaheddin-Parteien bis zur Ankunft der Taliban in Kabul zerstört worden. Mehrere Familien, die früher in ihren eigenen Häusern oder Appartements gewohnt haben, wohnen in engen Einfamilienhäusern, sodass daraus für die Frauen große Einschränkungen entstanden sind. Durch die Herrschaft der Mujaheddin - großteils auch heute - und der Taliban in Kabul haben die Menschen, die vormals gebildet und mit modernem Leben vertraut waren, Angst, dass sie von den anderen - nunmehr neuen - Einwohnern von Kabul "schief angesehen" werden und sie schränken daher auch ihre Frauen ein. Obwohl die Situation der Mädchen und Frauen in Kabul bis zum Ende der kommunistischen Herrschaft besser gestellt war und man kaum von einer Zwangsehe und anderen Einschränkungen für die Frauen ausgehen konnte und in den ländlichen Regionen umgekehrt die Frauen sehr eingeschränkt waren bzw. Zwangsheirat, Misshandlungen und Tötungen vorkamen, sind heute im Vergleich zu der Situation der Frauen auf dem Land die Lebensbedingung der Frauen auch in Kabul sehr eingeschränkt. Die "Gastfreundschaft", der Besuch von Verwandten und Freunden und die Aufnahme von Flüchtlingen führen oft dazu, dass die Familien in ihren engen Wohnräumen eingeschränkt sind und die Frauen müssen sich in ein Zimmer zurückziehen, wenn sich fremde Männer als Gäste in dem Haus aufhalten. Während sich in den Dörfern kaum Fremde aufhalten, ist die Stadt Kabul sehr vermischt und wenn eine Frau in die Öffentlichkeit gehen muss, so ist sie mit Fremden konfrontiert, daher muss sie sich verhüllen, damit sie von Fremden nicht gesehen wird bzw. einer Gefahr nicht ausgesetzt ist. Denn in Kabul, einer Großstadt, halten sich alle möglichen Leute auf, auch Fundamentalisten, Fanatiker, Räuberbanden, Gegner von Familien, die sich dort unerkannt bewegen können. Diese Situation kommt in ländlichen Regionen nicht vor, weil dort alles übersichtlich ist und die Ankunft eines Fremden von der Bevölkerung registriert wird bzw. es besteht keine Aufenthaltsmöglichkeit für einen Fremden, ausgenommen er ist ein Gast. Daher ist die allgemeine Sicherheitssituation in Kabul für die Frauen derzeit prekärer als in den ländlichen Gebieten. In den ländlichen Gebieten gehen die Frauen kaum aus ihren Dörfern hinaus, ausgenommen an Bazar-Tagen, in denen sie mit ihren Familienmitgliedern oder Nachbarn an einem bestimmten Tag zum Bazar fahren und nach Einkäufen rechtzeitig nach Hause kommen. Am Leben der Frauen in ländlichen Regionen hat sich in den Kriegsjahren hinsichtlich der Wohnungssituation nichts geändert. Sie werden weiterhin jung verheiratet und bis vor kurzem weigerten sich die Familien, die Mädchen in die Schule gehen zu lassen. In Kabul besteht von den gebildeten Menschen der Wunsch, dass die Frau am Arbeits- und am Bildungsprozess teilnimmt, dafür sind aber die Bedingungen noch nicht soweit geschaffen, dass die Frauen ohne Angst einer Arbeit nachgehen können oder in der Öffentlichkeit auftreten können.

 

(R., mündliche Berufungsverhandlung vom 26.2.2003, s. UBAS 3.4.2003, 226.672/5-X/28/03)

 

Zur relevanten Situation in Afghanistan im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit der von der Berufungswerberin vorgebrachten Gefährdungen bei einer Rückkehr nach Afghanistan erstattete der nichtamtliche Sachverständige Dr. R. in der mündlichen Berufungsverhandlung vom 2.5.2008 auf Basis des gesamten Vorbringens folgendes Gutachten (Auszug aus dem Verhandlungsprotokoll; BW2 = Berufungswerberin), dessen Inhalt als Sachverhalt festgestellt wird:

 

"SV: Die BW2 stammt offensichtlich aus der genannten Region Jaghatu. Sie spricht den Hazara-Dialekt dieser Region. Sie und ihr Mann sind Hazaras aus Afghanistan, das belegt ihre Aussprache und ihre Angaben zu ihrer Situation in Afghanistan.

 

Die BW2 ist aus den dörflichen Verhältnissen, sie gehört zur Gruppe der Frauen, die besonders in der afghanischen Gesellschaft der Unterdrückung seitens der Familie und Gesellschaft ausgesetzt sind. Sie ist Analphabetin, sie kommt aus einer traditionellen und konservativen Familie, die möglicherweise auch Analphabeten sind. Für solche Frauen ist weder die Wahl der Partner (Ehemann) noch des Wohnortes erlaubt. Sie wurde, wie sie authentisch erzählt hat, verheiratet, ohne gefragt zu werden, dass kommt eine Zwangsheirat gleich. Die BW2 hat auch authentisch angegeben, dass sie das Haus ohne Begleitung eines vertrauten Mannes nicht verlassen durfte, sie konnte ohne Erlaubnis der Familie, Freundinnen nicht besuchen. Die Angaben der BW2 zur gesundheitlichen Versorgung der Frauen in den dörflichen Verhältnissen entsprechen der Tatsache, dass die Frauen in den Dörfern und in den konservativen Familien selten zu medizinischen Untersuchungen geführt werden, bis sie tatsächlich umfallen bzw. todkrank sind. Diese Tatsache sich auch darauf zurückzuführen, dass sich die Männer genieren, die Frauen von männlichen Ärzten untersuchen zu lassen, oder sich genieren, dass die Frauen das Haus verlassen und in die Öffentlichkeit kommen. Vom Zeitpunkt ihrer Verheiratung bis in das Jahr 2002, hat es in dörflichen Verhältnissen überhaupt keine Schulen für Mädchen gegeben. Seit der Regierung Karzai gibt es auch in den Dörfern für Mädchen Schulen, allerdings schicken die konservativen Familien ihre Mädchen nicht in die Schule, auch wenn sie ihre Mädchen in die Schule schicken, werden sie mit 12 bis 14 Jahren aus der Schule genommen oder sie müssen die Schule beenden, weil sie in jungen Jahren Zwangsverheiratet werden. Wenn die BW2 nach Afghanistan zurückkehren würde, würde sie wieder den genannten Verhältnissen unterstellt. Sie müsste sich der häuslichen Gewalt der Familie ihres Mannes stellen. Wenn der Mann keine Familie hat, muss sie sich ihrer eigenen Familie fügen. Wenn sie dort alleine leben würde, würde sie im Laufe der Zeit die Gefahr bestehen, dass ei nochmals verheiratet werden würde. Weil die Eltern es sich finanziell nicht leisten könnten, sie zu unterhalten. Zur Situation der Frauen möchte ich auf die folgenden Dokumente verweisen: Internetauszüge Beilage 1 bis 4.

 

Die gesundheitliche Versorgung der Frauen in den ländlichen Gebieten ist nach wie vor katastrophal. Die Versorgung beschränkt sich auf die Verteilung von Medikamenten durch Menschen die keine ärztliche Ausbildung haben, die Ausgabe beschränkt sich auf Schmerzmittel und Kortison. Solche Frauen wie die BW2, die aus einer konservativen Familie stammt, kommt nicht einmal zu solchen Medikamenten. Nur wenn sie im sterben liegen würde, wäre es möglich, dass sie zu einem Arzt in einer entfernten Stadt gebracht werden würde, dort gibt es auch keine fachliche Betreuung, es gibt nur Allgemeinärzte. Die meisten Menschen sind derzeit von Malaria und anderen Infektionskrankheiten betroffen. Grundsätzlich werden die Menschen aus dörflichen Verhältnissen nicht in Spitälern behandelt, weil sie dafür bezahlen müssen, bzw. ihre Familien nicht dazu bereit sind, ohne ihre Anwesenheit im Spital zu sein."

 

Zusammenfassend ist festzustellen, dass sich - je nach Region - die Lage der Frauen in Afghanistan mehr, weniger oder kaum zum besseren verändert hat und dass bestehende Beschränkungen nicht überwiegend von "offizieller" Seite herrühren (etwa durch Dekrete wie zur Zeit der Talibanherrschaft). Zwar wurden einschränkende Dekrete (etwa betreffend das Verbot von Bildung und Beschäftigung für Frauen) formal außer Kraft gesetzt, doch ist aufgrund der herrschenden Ausrichtung an strengen Traditionen nach wie vor mit weitgehenden Beschränkungen zu rechnen. Überdies entstehen durch die prekäre Sicherheitslage für Frauen wiederum Einschränkungen von formal eingeräumten Rechten, wie etwa des freien Zugangs zum Arbeitsmarkt. Es besteht eine große Diskrepanz zwischen gesetzlichen Rahmenbedingungen und gesellschaftlicher Wi

Quelle: Asylgerichtshof AsylGH, http://www.asylgh.gv.at
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