TE Vwgh Erkenntnis 2002/9/30 2002/10/0104

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Veröffentlicht am 30.09.2002
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Index

L92103 Behindertenhilfe Pflegegeld Rehabilitation Niederösterreich;
001 Verwaltungsrecht allgemein;

Norm

PGG NÖ 1993 §20 Abs1 Z1;
PGG NÖ 1993 §23a Abs1 Z1;
PGG NÖ 1993 §3 Abs1 Z1;
PGG NÖ 1993 §3 Abs1 Z2;
PGG NÖ 1993 §3 Abs1 Z3;
PGG NÖ 1993 §3 Abs4;
PGG NÖ 1993 §4 Abs5;
VwRallg;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Jabloner und die Hofräte Dr. Novak, Dr. Mizner, Dr. Stöberl und Dr. Köhler als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Zavadil, über die Beschwerde der Mara M in Wiener Neudorf, vertreten durch Dr. Georg Uitz, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Reichsratsstraße 7, gegen den Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 21. März 2002, Zl. GS5- F-44.414/11-02, betreffend Nachsicht von der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 3 Abs. 4 NÖ Pflegegeldgesetz, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde aufgehoben.

Das Land Niederösterreich hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.088,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid der NÖ Landesregierung vom 21. März 2002 wurde der Antrag der beschwerdeführenden Partei auf rückwirkende Erteilung der Nachsicht von der Voraussetzung der österreichischen Staatsbürgerschaft gemäß § 3 Abs. 4 NÖ Pflegegeldgesetz mit der Begründung abgewiesen, eine rückwirkende Nachsichtserteilung sei im NÖ Pflegegeldgesetz nicht vorgesehen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Zurückweisung der Beschwerde beantragte.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 3 Abs. 1 des NÖ Pflegegeldgesetzes, LGBl. 9220-5, ist Voraussetzung für die Leistung eines Pflegegeldes, dass der Antragsteller

1.

die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt und

2.

seinen Hauptwohnsitz oder mangels eines solchen seinen Aufenthalt in Niederösterreich hat und

              3.              nicht eine der in § 3 des Bundespflegegeldgesetzes, BGBl. Nr. 110/1993, angeführten Leistungen bezieht oder gleichartige Leistungen nach einem Pflegegeldgesetz eines anderen Landes erhält oder einen Anspruch auf eine solche Leistung hat oder

              4.              unter der Voraussetzung der Z. 3 einen Ruhe- oder Versorgungsgenuss, Versorgungsgeld oder einen Unterhaltsbeitrag (auf Pensionsleistungen) auf Grund eines anderen NÖ Landesgesetzes erhält.

§ 3 Abs. 3 leg. cit. regelt, welche Personen den österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt sind und § 3 Abs. 4 leg. cit. normiert, dass die Voraussetzung des Abs. 1 Z. 1 nachgesehen werden kann, wenn das auf Grund der persönlichen, familiären oder wirtschaftlichen Verhältnisse des Fremden zur Vermeidung einer sozialen Härte geboten ist.

Gemäß § 4 Abs. 1 leg. cit. gebührt Pflegegeld ab der Vollendung des dritten Lebensjahres, wenn auf Grund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung der ständige Betreuungs- oder Hilfsbedarf (Pflegebedarf) voraussichtlich mindestens sechs Monate andauern wird oder würde.

In § 4 Abs. 2 leg. cit. werden in Ansehung der Höhe des zu gewährenden Pflegegeldes sieben Stufen, abgestuft nach dem erforderlichen Pflegeaufwand festgelegt.

Zur Vollziehung des NÖ Pflegegeldgesetzes ist gemäß dessen § 20 Abs. 1 Z. 1 die Bezirksverwaltungsbehörde für die in § 3 Abs. 1 Z. 1 bis 3 leg. cit. angeführten pflegebedürftigen Menschen zuständig, soweit nicht ausdrücklich die Zuständigkeit der Landesregierung vorgesehen ist.

Gegen Bescheide nach diesem Gesetz ist gemäß § 23 Abs. 2 leg. cit. eine Berufung nicht zulässig. Auf die Möglichkeit einer Klage beim zuständigen Gerichtshof erster Instanz als Arbeits- und Sozialgericht ist hinzuweisen.

Gemäß § 23a Abs. 1 Z. 1 leg. cit. kann Klage beim zuständigen Gerichtshof erster Instanz als Arbeits- und Sozialgericht erhoben werden, wenn ein Bescheid über "den Bestand und den Umfang eines Anspruches auf Pflegegeld (§ 4)" erlassen wurde.

Gemäß § 23a Abs. 2 leg. cit. sind die Bestimmungen des Arbeits- und Sozialgerichtsgesetzes (BGBl. Nr. 104/1985 in der Fassung BGBl. Nr. 133/1995), die sich auf Versicherungsträger beziehen, im Gerichtsverfahren nach Abs. 1 auf den Pflegegeldträger, die Bestimmungen, die sich auf Versicherte beziehen, auf alle anderen Parteien und die Bestimmungen, die sich auf Versicherungsleistungen beziehen, auf das Pflegegeld anzuwenden.

Die Bestimmungen des Arbeits- und Sozialgerichtsgesetzes für Rechtsstreitigkeiten auf Grund des Pflegegeldgesetzes (BGBl. Nr. 110/1993 in der Fassung BGBl. Nr. 131/1995) gelten gemäß § 23a Abs. 3 leg. cit. sinngemäß für Rechtsstreitigkeiten nach diesem Gesetz.

Nach dem solcher Art anzuwendenden § 71 Abs. 1 des Arbeits- und Sozialgerichtsgesetzes tritt daher ein nach dem NÖ Pflegegeldgesetz ergangener Bescheid im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft, wenn die Klage rechtzeitig erhoben wurde.

Die belangte Behörde wendet gegen die Zulässigkeit der vorliegenden Beschwerde ein, "Nachsichtsbescheide" gemäß § 3 Abs. 4 NÖ Pflegegeldgesetz unterlägen der sukzessiven Kompetenz, weil die Klagemöglichkeit nach § 23a Abs. 1 Z. 1 leg. cit. alle Angelegenheiten über Bestand und Umfang eines Anspruches auf Pflegegeld umfasse. Auch gehöre der angefochtene Bescheid nicht mehr dem Rechtsbestand an, weil die beschwerdeführende Partei einen entsprechenden Anspruch mit Klage vom 4. Juli 2002 geltend gemacht und der Bescheid daher außer Kraft getreten sei.

Nun trifft die Auffassung der belangten Behörde wohl zu, dass die Fragen, ob ein Anspruch auf Pflegegeld besteht, und wenn ja, in welcher Höhe, gemäß § 23a Abs. 1 Z. 1 NÖ Pflegegeldgesetz mit Klage an das Arbeits- und Sozialgericht herangetragen werden können. Vom Bestehen eines Anspruches ("Bestand") ist zu sprechen, wenn die Voraussetzungen, die das Gesetz für die Begründung dieses Anspruches statuiert, erfüllt sind. Fehlt es an einer dieser Voraussetzungen, besteht kein Anspruch.

Das NÖ Pflegegeldgesetz normiert, dass bei Erfüllung bestimmter Voraussetzungen Pflegegeld, und zwar in bestimmter Höhe, gebührt. Fehlt es an einer dieser Voraussetzungen (hier: der österreichischen Staatsbürgerschaft), so besteht kein Anspruch auf Pflegegeld. Allerdings kann das Fehlen dieser Voraussetzung nachgesehen werden; die Nachsicht ersetzt die Erfüllung der Voraussetzung der österreichischen Staatsbürgerschaft.

Folglich ist zu unterscheiden zwischen der Gewährung von Pflegegeld mit der Beurteilung der dafür erforderlichen Voraussetzungen und der Nachsicht von der österreichischen Staatsbürgerschaft. Ob Pflegegeld zu gewähren ist, hängt vom "Bestand" eines entsprechenden Anspruches ab. Bei dieser Beurteilung ist das Vorliegen einer Nachsichtserteilung ein (die Erfüllung der Voraussetzung der österreichischen Staatsbürgerschaft ersetzendes) Tatbestandsmerkmal.

Ob Nachsicht zu erteilen ist, hängt von der Erfüllung der in § 3 Abs. 4 NÖ Pflegegeldgesetz genannten Voraussetzungen ab. Die Nachsichtserteilung besagt, dass diese Voraussetzungen erfüllt sind. Sie besagt aber nicht, dass ein Anspruch auf Pflegegeld besteht. Sie ist keine Entscheidung über den "Bestand" eines solchen Anspruches.

Schließlich ist auch darauf zu verweisen, dass § 3 Abs. 4 NÖ Pflegegeldgesetz vom Klammerausdruck ("(§ 4)") im § 23a Abs. 1 Z. 1 leg. cit. nicht erfasst ist.

Wenn die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift behauptet, ihre Rechtsansicht, auch "Nachsichtsbescheide" unterlägen der sukzessiven Kompetenz, werde auch "von den Gerichten geteilt", so widerspricht dem das in den vorgelegten Verwaltungsakten erliegende Urteil des Landesgerichtes Wiener Neustadt vom 27. April 2000, in dem dargelegt wird, dass in diesem Punkt gerade keine Klagsmöglichkeit besteht. Auch dem von der belangten Behörde ins Treffen geführten Erkenntnis des Obersten Gerichtshofes vom 18. April 2000, 10 Ob S 204/99v, ist für ihren Standpunkt nichts zu gewinnen, zumal dieses Erkenntnis nicht die Nachsicht vom Erfordernis der österreichischen Staatsbürgerschaft zum Gegenstand hatte.

Damit allerdings kann dahingestellt bleiben, ob die beschwerdeführende Partei den - im vorliegenden Verfahren in Rede stehenden - Anspruch auf rückwirkende Nachsicht gemäß § 3 Abs. 4 NÖ Pflegegeldgesetz mit Klage an das Arbeits- und Sozialgericht herangetragen hat. Der angefochtene Bescheid wäre durch eine Klage nämlich nur dann außer Kraft getreten, hätte die Klage im Sinne des § 23a Abs. 1 Z. 1 NÖ Pflegegeldgesetz i.V.m. §§ 65 und 71 Abs. 1 ASGG Bestand oder Umfang eines Anspruches auf Pflegegeld betroffen. Dies ist jedoch nicht der Fall, weil - wie dargelegt - die Nachsicht von der Voraussetzung der österreichischen Staatsbürgerschaft von der "sukzessiven Kompetenz" nicht erfasst ist und demnach auch keine Klagsmöglichkeit beim Arbeits- und Sozialgericht besteht.

Die somit zulässige Beschwerde ist auch berechtigt. Gemäß § 20 Abs. 1 Z. 1 NÖ Pflegegeldgesetz besteht nämlich - wie dargelegt - für die in § 3 Abs. 1 Z. 1 bis 3 dieses Gesetzes angeführten pflegebedürftigen Menschen die Zuständigkeit der Bezirksverwaltungsbehörde, soweit nicht ausdrücklich die Zuständigkeit der Landesregierung vorgesehen ist. Eine solche ausdrückliche Zuständigkeit der Landesregierung ist wohl, worauf die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift hinweist, für die Gewährung von Nachsicht in den Fällen des § 4 Abs. 5 NÖ Pflegegeldgesetz (Voraussetzung der Vollendung des dritten Lebensjahres) vorgesehen, nicht jedoch in den Fällen des § 3 Abs. 4 dieses Gesetzes. Eine analoge Anwendung des § 4 Abs. 5 NÖ Pflegegeldgesetz kommt entgegen der Auffassung der belangten Behörde schon deshalb nicht in Betracht, weil keine Gesetzeslücke besteht. Vielmehr ist für einen wie den vorliegenden Fall in § 20 Abs. 1 Z. 1 NÖ Pflegegeldgesetz die Zuständigkeit der Bezirksverwaltungsbehörde normiert.

Der angefochtene Bescheid erweist sich somit als rechtswidrig infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde, was gemäß § 42 Abs. 2 Z. 2 VwGG zu seiner Aufhebung zu führen hatte.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 501/2001.

Wien, am 30. September 2002

Schlagworte

Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Analogie Schließung von Gesetzeslücken VwRallg3/2/3

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2002:2002100104.X00

Im RIS seit

20.12.2002
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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