TE Vfgh Erkenntnis 1999/10/13 B1121/97

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Veröffentlicht am 13.10.1999
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Index

66 Sozialversicherung
66/01 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz

Norm

B-VG Art7 Abs1 / Verwaltungsakt
ASVG §341 ff

Leitsatz

Verletzung im Gleichheitsrecht durch willkürliche Abweisung von Honorarforderungen eines Arztes aus einem Einzelvertrag; keine Begründung für die Verweigerung der - vorfrageweisen - Beurteilung der Nichtigkeit entscheidungswesentlicher Bestimmungen des Gesamtvertrages

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Die Ärztekammer für Niederösterreich Der Bund (Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit S 18.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1.1. Der Beschwerdeführer ist praktischer Arzt und Notarzt in Niederösterreich und hat mit der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse einen Einzelvertrag abgeschlossen.

1.2. Der Beschwerdeführer führte bei zwei Patienten Behandlungen durch, die jeweils zum Teil in die Verrechnungsposition 442 der Honorarordnung der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse fallen. In dieser Leistungs-Position sind kleinere chirurgische Eingriffe zusammengefaßt, die nach der Honorarordnung nur von Fachärzten bestimmter Richtungen verrechnet werden können. In Einzelfällen ist darüber hinaus bei Notwendigkeit der Überschreitung der angegebenen Beschränkungen auf bestimmte Fächer eine vorherige chefärztliche Genehmigung einzuholen.

1.3. Im Rahmen der Honorarabrechnung für das IV. Quartal 1995 begehrte der Beschwerdeführer die Verrechnung der unter der genannten Position erbrachten Leistungen. Mit Schreiben vom 22. März 1996 wurde ihm allerdings von der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse mitgeteilt, daß die genannte Position nicht honoriert werden könne. Da die über Antrag des Beschwerdeführers angerufene Paritätische Schiedskommission wegen Stimmengleichheit zu keiner Entscheidung kam, rief der Beschwerdeführer die Landesberufungskommission an und begehrte weiterhin die Auszahlung des umstrittenen Honorars. In seinem Antrag brachte der Beschwerdeführer im wesentlichen vor, die in Rede stehenden Leistungen seien so dringlich gewesen, daß die vorherige Einholung einer chefärztlichen Genehmigung unzumutbar gewesen wäre, die Fachgruppenbeschränkung in der Honorarordnung sei unsachlich und sittenwidrig und strittige Zahlungen müßten vorerst geleistet und dürften erst nach Entscheidung der Paritätischen Schiedskommission bzw. der Landesberufungskommission zurückverrechnet werden.

1.4. Mit Bescheid vom 11. Dezember 1996 wies die Landesberufungskommission das Begehren des Beschwerdeführers mit der Begründung ab, der Beschwerdeführer habe die erforderliche chefärztliche Genehmigung nicht eingeholt und sich auch im nachhinein geweigert, um eine solche nachzusuchen.

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides verlangt wird.

II. 1. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber abgesehen.

2. Die Niederösterreichische Gebietskrankenkasse hat als mitbeteiligte Partei eine Gegenschrift erstattet, auf die der Beschwerdeführer repliziert hat.

III. Der Verfassungsgerichtshof hat

über die u zulässige u Beschwerde erwogen:

1. Die im gegebenen Zusammenhang maßgeblichen Vorschriften lauten:

§341 ASVG lautet auszugsweise:

"(1) Die Beziehungen zwischen den Trägern der Krankenversicherung und den freiberuflich tätigen Ärzten werden durch Gesamtverträge geregelt, die für die Träger der Krankenversicherung durch den Hauptverband mit den örtlich zuständigen Ärztekammern abzuschließen sind. Die Gesamtverträge bedürfen der Zustimmung des Trägers der Krankenversicherung, für den der Gesamtvertrag abgeschlossen wird. Die Österreichische Ärztekammer kann mit Zustimmung der beteiligten Ärztekammer den Gesamtvertrag mit Wirkung für diese abschließen.

...

(3) Der Inhalt des Gesamtvertrages ist auch Inhalt des zwischen dem Träger der Krankenversicherung und dem Arzt abzuschließenden Einzelvertrages. Vereinbarungen zwischen dem Träger der Krankenversicherung und dem Arzt im Einzelvertrag sind rechtsunwirksam, insoweit sie gegen den Inhalt eines für den Niederlassungsort des Arztes geltenden Gesamtvertrages verstoßen.

..."

1.2. §342 ASVG lautet auszugsweise:

"(1) Die zwischen dem Hauptverband und den Ärztekammern abzuschließenden Gesamtverträge haben nach Maßgabe der nachfolgenden Bestimmungen insbesondere folgende Gegenstände zu regeln:

(...)

3. die Rechte und Pflichten der Vertragsärzte, insbesondere auch ihre Ansprüche auf Vergütung der ärztlichen Leistung;

4. die Vorsorge zur Sicherstellung einer wirtschaftlichen Behandlung und Verschreibweise;

(...)

(2) Die Vergütung der vertragsärztlichen Tätigkeit ist grundsätzlich nach Einzelleistungen zu vereinbaren. Die Vereinbarungen über die Vergütung der ärztlichen Leistungen sind in Honorarordnungen zusammenzufassen; diese bilden einen Bestandteil der Gesamtverträge. Die Gesamtverträge sollen eine Begrenzung der Ausgaben der Träger der Krankenversicherung für die vertragsärztliche Tätigkeit (einschließlich der Rückvergütungen bei Inanspruchnahme der wahlärztlichen Hilfe (§131)) enthalten."

1.3. §§344 bis 346 ASVG lauten auszugsweise:

"Paritätische Schiedskommission

§344. (1) Zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten, die in rechtlichem oder tatsächlichem Zusammenhang mit dem Einzelvertrag stehen, ist im Einzelfall in jedem Land eine paritätische Schiedskommission zu errichten. Antragsberechtigt im Verfahren vor dieser Behörde sind die Parteien des Einzelvertrages.

(...)

(3) Die paritätische Schiedskommission ist verpflichtet, über einen Antrag ohne unnötigen Aufschub, spätestens aber sechs Monate nach dessen Einlangen, mit Bescheid zu entscheiden. Wird der Bescheid dem Antragsteller innerhalb dieser Frist nicht zugestellt oder wird dem Antragsteller schriftlich mitgeteilt, daß wegen Stimmengleichheit keine Entscheidung zustande kommt, geht auf schriftliches Verlangen einer der Parteien die Zuständigkeit zur Entscheidung an die Landesberufungskommission über. Ein solches Verlangen ist unmittelbar bei der Landesberufungskommission einzubringen. Das Verlangen ist abzuweisen, wenn die Verzögerung nicht auf Stimmengleichheit oder nicht ausschließlich auf ein Verschulden der Behörde (§73 AVG 1950) zurückzuführen ist.

(4) Gegen einen Bescheid der paritätischen Schiedskommission kann Berufung an die Landesberufungskommission erhoben werden.

Landesberufungskommission

§345. (1) Für jedes Land ist auf Dauer eine Landesberufungskommission zu errichten. (...)

(2) Die Landesberufungskommission ist zuständig:

1. zur Entscheidung über Berufungen gegen Bescheide der paritätischen Schiedskommission und

2. zur Entscheidung auf Grund von Devolutionsanträgen gemäß §344 Abs3.

(...)

Landesschiedskommission

§345a. (1) Für jedes Land ist auf Dauer eine Landesschiedskommission zu errichten. (...)

(2) Die Landesschiedskommission ist zuständig:

1. zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Parteien eines Gesamtvertrages über die Auslegung oder die Anwendung eines bestehenden Gesamtvertrages und

2. zur Entscheidung über die Wirksamkeit einer Kündigung gemäß §343 Abs4.

(3) Gegen die Entscheidungen der Landesschiedskommission kann Berufung an die Bundesschiedskommission erhoben werden.

Bundesschiedskommission

§346. (1) Zur Entscheidung über Berufungen, die gemäß §345a Abs3 erhoben werden, ist eine Bundesschiedskommission zu errichten.

..."

2.1. Nach den u insoweit unbestrittenen u Feststellungen der belangten Behörde können gemäß den einschlägigen u einen Bestandteil des Gesamtvertrages wie der Honorarordnung der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse bildenden u Bestimmungen grundsätzlich nur jene ärztlichen Leistungen zur Verrechnung gelangen, welche im "Verzeichnis der vertragsärztlichen Leistungen und Vergütungen" taxativ aufgezählt sind. Die einzelnen Leistungen sind nach Fachgebieten zusammengefaßt. Die Positionen 410 bis 485 enthalten Leistungen aus den Fächern Chirurgie und Orthopädie. Besteht in Einzelfällen die Notwendigkeit der Überschreitung der angegebenen Fachbeschränkungen (...), ist mit Begründung die vorherige chefäztliche Genehmigung einzuholen.

2.2. Die belangte Behörde hält dem Antrag des Beschwerdeführers entgegen, dieser habe ohne vorherige chefärztliche Genehmigung die Fachgruppenbeschränkungen der Honorarordnung überschritten. Schon deswegen könne seinem Antrag auf Vergütung von Leistungen aus der Position 442 nicht entsprochen werden. Mit den gegen die Gültigkeit der entsprechenden Beschränkungen in der Honorarordnung vorgebrachten Argumenten des Beschwerdeführers setzt sich die belangte Behörde nicht auseinander.

3. Die vorliegende Beschwerde rügt eine Verletzung des Beschwerdeführers in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz. Die belangte Behörde habe die Bestimmungen über die Fachgruppenbeschränkungen in denkunmöglicher und unsachlicher Weise angewendet. Darüber hinaus seien die Fachgruppenbeschränkungen selbst unsachlich und gleichheitswidrig.

4. Im Ergebnis ist die Beschwerde mit dem Vorwurf der Willkür im Recht:

4.1. Ein willkürliches Verhalten der Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, liegt u.a. in einer gehäuften Verkennung der Rechtslage, aber auch im Unterlassen jeglicher Ermittlungstätigkeit in einem entscheidenden Punkt oder dem Unterlassen eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens überhaupt, insbesondere in Verbindung mit einem Ignorieren des Parteivorbringens und einem leichtfertigen Abgehen vom Inhalt der Akten oder dem Außerachtlassen des konkreten Sachverhaltes (zB VfSlg. 8808/1980 und die dort angeführte Rechtsprechung; VfSlg. 10338/1985, 11213/1987).

4.2. Die zitierte Bestimmung des Gesamtvertrages, auf die sich der angefochtene Bescheid stützt, ist gemäß §341 Abs3 als Teil der Honorarordnung auch Inhalt der jeweiligen Einzelverträge zwischen der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft und den einzelnen Ärzten.

4.3. Zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten, die in rechtlichem oder tatsächlichem Zusammenhang mit dem Einzelvertrag stehen, ist gemäß §344 ASVG die paritätische Schiedskommission zuständig. Bei Stimmengleichheit in der paritätischen Schiedskommission geht die Zuständigkeit zur Entscheidung von der paritätischen Schiedskommission auf die Landesberufungskommission über (§344 Abs3 i.V.m. §345 Abs2 Z2 ASVG).

Die Zuständigkeit für Streitigkeiten, die in "rechtlichem oder tatsächlichem Zusammenhang" mit dem Einzelvertrag stehen, umfaßt auch Honorarrückforderungen wegen Vertragsverletzung, wie sie im beschwerdegegenständlichen Fall geltend gemacht wurden.

4.4. Zwar ist zur Schlichtung und Entscheidung von Streitigkeiten zwischen den Parteien eines Gesamtvertrages über die Auslegung oder die Anwendung eines bestehenden Gesamtvertrages die Landesschiedskommission zuständig, gegen deren Entscheidungen Berufung bei der Bundesschiedskommission erhoben werden kann (§345a i.V.m. §346 ASVG).

Die belangte Behörde übersieht aber, daß ihre Zuständigkeit zur Entscheidung von Streitigkeiten, die in rechtlichem oder tatsächlichem Zusammenhang mit dem Einzelvertrag stehen, auch die Kompetenz umfaßt, im Zuge der Feststellung des Inhaltes des Einzelvertrages die Gültigkeit von Bestimmungen des Gesamtver trages zu beurteilen, die u Gültigkeit vorausgesetzt u als Inhalt des jeweils in Rede stehenden Einzelvertrages ihrer Entscheidung zugrunde zu legen sind (VfGH 15.6.1998, B 3011-3013/96).

Die belangte Behörde übersieht aber, daß ihre Zuständigkeit zur Entscheidung von Streitigkeiten, die in rechtlichem oder tatsächlichem Zusammenhang mit dem Einzelvertrag stehen, auch die Kompetenz umfaßt, im Zuge der Feststellung des Inhaltes des Einzelvertrages vorfrageweise die Gültigkeit von Bestimmungen des Gesamtvertrages zu beurteilen, die sie u ihre Gültigkeit vorausgesetzt u als Inhalt des jeweils in Rede stehenden Einzelvertrages ihrer Entscheidung zugrunde zu legen hätte. Soweit sie also als notwendiges Element ihrer rechtlichen Beurteilung auch Fragen der Gültigkeit (und damit insoweit auch des "ob" der Einwirkung der betreffenden Bestimmungen des Gesamtvertrages auf den Einzelvertrag) zu prüfen hat, gleicht der Gegenstand ihrer rechtlichen Beurteilung zwar jenem der Landesschiedskommission (bzw. der Bundesschiedskommission) bei der Entscheidung von Streitigkeiten über die Auslegung und Anwendung eines bestehenden Gesamtvertrages (in diesem Sinne, wenngleich von Kompetenzüberschneidung sprechend: Mosler in:

Strasser (Hrsg.), Arzt und gesetzliche Krankenversicherung, 1995, 403), freilich ohne hinsichtlich der bloß vorfrageweisen Beurteilung der Gültigkeit des Gesamtvertrages für die zur Entscheidung über die Gültigkeit des Gesamtvertrages zuständige Landesschiedskommission irgendeine Bindungswirkung zu entfalten (s. VfGH 15.6.1998, B 3011-3013/96).

Die belangte Behörde stützt ihre Entscheidung inhaltlich ausschließlich auf die Fachgruppenbeschränkungen des Gesamtvertrages bzw. der Honorarordnung. Diese sind daher für den angefochtenen Bescheid von tragender Bedeutung. Die belangte Behörde hätte daher die vom Beschwerdeführer in seinem Antrag der Sache nach gerügte Nichtigkeit dieser Bestimmung in eigener Zuständigkeit zu beurteilen gehabt. Indem sie dies im Ergebnis verweigert hat, ist die belangte Behörde in einem entscheidungswesentlichen Punkt jede nachvollziehbare Begründung schuldig geblieben. Dadurch hat sie gegenüber dem Beschwerdeführer Willkür geübt.

4.5. Der Bescheid war daher schon deswegen aufzuheben, ohne daß auf das weitere Vorbringen des Beschwerdeführers einzugehen war.

5. Die Kostenentscheidung stützt sich auf §88 VerfGG. In den Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von öS 3.000,-- enthalten.

6. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Sozialversicherung, Ärzte, Behördenzuständigkeit, Vorfrage, Bescheidbegründung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1999:B1121.1997

Dokumentnummer

JFT_10008987_97B01121_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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