TE Vwgh Beschluss 2002/11/20 2002/08/0202

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Veröffentlicht am 20.11.2002
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof;
18 Kundmachungswesen;

Norm

BGBlG §2 Abs3;
VwGG §26a Abs1;
VwGG §26a Abs2;

Beachte

Besprechung in:RdW 2002, S 672; DRdA 2003/2, S 199;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bernard und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Sulyok, Dr. Strohmayer und Dr. Köller als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Müller, in der Beschwerdesache der S in S, vertreten durch Dr. K, Referent der Arbeiterkammer Oberösterreich, dieser vertreten durch Mag. German Storch und Mag. Rainer Storch, Rechtsanwälte in 4020 Linz, Bürgerstraße 62, gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Oberösterreich vom 16. Juli 2002, Zl. LGSOÖ/Abt.4/1282/0398/2002-1, betreffend Widerruf und Rückforderung von Sondernotstandshilfe, gem. § 26a VwGG den Beschluss gefasst:

Spruch

1. Es besteht im Sinne des § 26a Abs. 1 VwGG Grund zur Annahme, dass beim Verwaltungsgerichtshof eine erhebliche Anzahl von Beschwerden eingebracht werden wird, in denen die Rechtsfrage zu lösen ist, ob die gesetzliche Anordnung der Berücksichtigung des Einkommens des Ehemannes bei Beurteilung der Notlage der im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehefrau im Zusammenhang mit der Gewährung von Notstandshilfe dem Gemeinschaftsrecht entspricht, insbesondere ob darin nicht eine mittelbare Diskriminierung der betroffenen Frauen erblickt werden kann.

2. Zur Beantwortung der in Z. 1 genannten Rechtsfrage hat der Verwaltungsgerichtshof folgende Rechtsvorschriften anzuwenden:

§ 33 und § 36 iVm § 39 AlVG, BGBl. Nr. 609/1977 idF BGBl. Nr. 142/2000; § 2 und § 6 Notstandshilfeverordnung, BGBl. Nr. 352/1973, idF BGBl. Nr. 240/1996; Art. 2 bis 4 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit vom 19. Dezember 1978 (Gleichbehandlungsrichtlinie), ABl. Nr. L 006 vom 10. Jänner 1979,

S. 24.

3. Der Verwaltungsgerichtshof wird die in Z. 1 genannte Rechtsfrage in dem zur Zl. 2002/08/0202 anhängigen Beschwerdeverfahren beantworten.

4. Der Bundeskanzler (in Ansehung des Arbeitslosenversicherungsgesetzes) und der Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit (in Ansehung der Notstandshilfeverordnung) sind zur unverzüglichen Kundmachung des Spruches dieses Beschlusses im Bundesgesetzblatt, Teil II, verpflichtet; auf die mit der Kundmachung eintretenden, in § 26a Abs. 3 VwGG genannten Rechtsfolgen wird verwiesen.

Begründung

1. Beim Verwaltungsgerichtshof ist zur Zl. 2002/08/0202, ein Beschwerdeverfahren anhängig, in dem die im Spruch unter Z. 1 genannte Rechtsfrage zu lösen ist.

Die die Beschwerdeführerin vertretende Kammer für Arbeiter und Angestellte für Oberösterreich hat in einem an den Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofes gerichteten Schreiben vom 14. Oktober 2002 auf drei beim Verwaltungsgerichtshof anhängig gemachte Beschwerden hingewiesen, in denen sie Rechtsschutz gewährt habe, weil den Beschwerdeführerinnen die Notstandshilfe bzw. Sondernotstandshilfe wegen Anrechnung des Partnereinkommens nicht gewährt worden bzw. widerrufen und rückgefordert worden sei.

Die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Oberösterreich ist der Ansicht, dass die Notstandshilfe als Leistung iS der Richtlinie 79/7/EWG zu betrachten sei und dass das darin verankerte Diskriminierungsverbot unmittelbar zur Anwendung gelange. Da im Jahr 2000 von insgesamt 10.600 mit dieser Begründung abgelehnten Notstandshilfeanträgen 9.400 Frauen (88,68 %) betroffen gewesen seien, liege eine mittelbare Diskriminierung von Frauen vor, sodass in Anbetracht des Vorranges des Rechtes der Europäischen Union § 36 AlVG in Verbindung mit § 6 der Notstandshilfeverordnung nicht mehr angewendet werden dürfte.

Die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Oberösterreich werde alle ihre betroffenen Mitglieder in derartigen Verfahren unterstützen, was letztlich zu zahlreichen Beschwerden gegen entsprechende Bescheide beim Verwaltungsgerichtshof führen werde. Auch andere "Länderkammern" würden in diesem Sinne vorgehen. Es sei daher in nächster Zukunft mit zahlreichen gleichartigen Verwaltungsgerichtshofbeschwerden zu rechnen.

2. Beim Verwaltungsgerichtshof sind derzeit nur wenige Beschwerdeverfahren zu der im Spruch genannten Rechtsfrage anhängig. Es war daher iS des § 26a Abs. 1 VwGG zu prüfen, ob Grund zur Annahme besteht, dass eine erhebliche Zahl solcher Beschwerden eingebracht werden wird. Der Gesetzgeber hat die Frage, auf welche Weise sich der Verwaltungsgerichtshof Kenntnis von jenen Tatsachen zu verschaffen hat, welche in ihrer Gesamtheit einen Grund für eine Annahme iS des § 26a Abs. 1 VwGG bieten, nicht geregelt. Der Verwaltungsgerichtshof geht davon aus, dass ein Grund zu einer solchen Annahme jedenfalls dann besteht, wenn - wie hier - (erstens) von der in Rede stehenden Rechtsfrage in einem kurzen Zeitraum eine größere Zahl von Menschen (hier: Arbeitslosen) potenziell betroffen ist, wenn (zweitens) eine gesetzliche berufliche Vertretung, welche zur Vertretung der wirtschaftlichen und sozialen Interessen dieser Menschen berufen ist, diese Rechtsfrage in der Absicht, sie einer Klärung zuzuführen, im Rahmen ihrer Rechtsberatungstätigkeit aufgegriffen hat und (drittens) nicht damit gerechnet werden kann, dass eine dem Standpunkt der Betroffenen Rechnung tragende Erledigung durch die Verwaltungsbehörden zu erwarten ist.

Die erste Voraussetzung liegt hier vor: von der Frage, ob Notstandshilfe gebührt (und damit vom Problem der Einkommensanrechnung bei im gemeinsamen Haushalt lebenden Ehepartnern), sind Arbeitslose, insbesondere auch arbeitslose Frauen, in großer Zahl betroffen. Die Kammer für Arbeiter und Angestellte für Oberösterreich hat ferner dem Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofes mit Schreiben vom 14. Oktober 2002, an dessen Richtigkeit zu zweifeln der Verwaltungsgerichtshof keinen Anlass findet, mitgeteilt, dass sie ihre betroffenen Mitglieder in derartigen Verfahren unterstützen und dies letztendlich zu zahlreichen Beschwerden beim Verwaltungsgerichtshof führen werde. Auch andere "Länderkammern" würden so vorgehen.

Eine Lösung der Rechtsfrage im Sinne der Betroffenen setzte voraus, dass Bestimmungen des AlVG bzw. der Notstandshilfeverordnung wegen eines Widerspruches zum Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union unangewendet blieben. Wie mehrere beim Verwaltungsgerichtshof bereits anhängige Verfahren zeigen, liegt kein Grund zur Annahme vor, dass die regionalen Geschäftsstellen und die Landesgeschäftsstellen des AMS eine solche Rechtsauffassung vertreten. Da die Behörden des Verwaltungsverfahrens auch nicht beim EuGH vorlageberechtigt sind, kann mit einer Entscheidung über die strittige Frage vor Anrufung des Verwaltungsgerichtshofes nicht gerechnet werden.

Der Verwaltungsgerichtshof geht auf Grund des genannten Schreibens davon aus, dass mit einer erheblichen Anzahl von Verfahren über Beschwerden gegen Bescheide zu rechnen ist, in denen Rechtsfragen zu lösen sein werden, die der im Spruch formulierten Frage gleichen.

3. Die Voraussetzungen für einen Beschluss gemäß § 26a Abs. 1 VwGG liegen daher vor. Die Aussprüche gründen sich auf § 26a Abs. 1 VwGG, jener über die Kundmachungspflicht auf § 26a Abs. 2 VwGG iVm § 2 Abs. 3 BGBlG, BGBl. Nr. 660/1996 idF BGBl. I Nr. 47/2001, da sich aus der Kundmachung Verpflichtungen u.a. der Rechtsmittelbehörden in gleichgelagerten Fällen ergeben, die Kundmachung sohin rechtsverbindlichen Inhalt hat.

Wien, am 20. November 2002

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2002:2002080202.X00

Im RIS seit

01.04.2003

Zuletzt aktualisiert am

11.10.2011
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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