TE Vwgh Erkenntnis 2003/9/17 2000/20/0432

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Veröffentlicht am 17.09.2003
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;
49/01 Flüchtlinge;

Norm

AsylG 1997 §7;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

Beachte

Serie (erledigt im gleichen Sinn): 2000/20/0448 E 17. September 2003

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldner und die Hofräte Dr. Nowakowski, Dr. Sulzbacher, Dr. Grünstäudl und Dr. Berger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde des R in W, geboren 1950, vertreten durch Dr. Helmut Winkler, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Gonzagagasse 14, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des unabhängigen Bundesasylsenates vom 17. Juli 2000, Zl. 212.800/0-VIII/22/99, betreffend § 7 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird im bekämpften, die Abweisung des Asylantrages betreffenden Spruchteil I. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991, 20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer reiste am 26. Juli 1999 (erneut) in das Bundesgebiet ein und ersuchte mit Schreiben vom 28. Juli 1999 für sich und seine minderjährige Tochter um Gewährung von Asyl. Vor dem Bundesasylamt führte er dazu aus, er sei in Semipalatinsk (Kasachstan) geboren, gehöre der russischen Volksgruppe an und sei Baptist. Weil er arbeitslos gewesen sei, habe er 1998 nicht genügend Geld gehabt, um die kasachische Staatsbürgerschaft annehmen zu können. Der Beschwerdeführer sei daher staatenlos. Er habe mit seiner Tochter Kasachstan verlassen, weil seine Frau Ende November 1998 von einem Kasachen getötet worden sei. Ein Moslem habe seine Frau geschlagen, "weil wir Baptisten sind und die Kasachen unser Haus haben wollten". Wegen der dabei zugefügten Verletzungen sei seine Frau in der Folge verstorben. An die Polizei in Kasachstan habe sich der Beschwerdeführer wegen dieses Vorfalls deshalb nicht gewendet, weil dies keinen Sinn gehabt hätte. Das sei schon daraus zu ersehen, dass man in der Sterbeurkunde seiner Frau eine falsche Todesursache vermerkt habe. Im Fall der Rückkehr nach Kasachstan würde der Beschwerdeführer wahrscheinlich "von den Moslems" umgebracht werden.

Mit Bescheid vom 9. September 1999 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers (und gleichzeitig den Asylantrag seiner Tochter) gemäß § 7 AsylG ab und stellte fest, dass deren Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Kasachstan gemäß § 8 AsylG zulässig sei.

In der dagegen vom Beschwerdeführer (auch im Namen seiner Tochter) erhobenen Berufung wurde eingewendet, die Erstbehörde habe keinerlei Ermittlungen zu dem für die Flucht "maßgeblichen Sachverhalt, nämlich der Tötung meiner Frau und der daraus für meine Tochter und mich resultierenden Gefahr" angestellt. Der Beschwerdeführer wiederholte, dass seine Frau von einem moslemischen Kasachen getötet worden sei, "weil wir Baptisten sind, somit liegt Verfolgung aus dem Grunde unserer Religionszugehörigkeit vor". Die staatlichen Behörden Kasachstans seien weder in der Lage noch bereit, den Beschwerdeführer und seine Tochter zu schützen.

In der Berufungsverhandlung vom 10. Dezember 1999 ergänzte der Beschwerdeführer sein Vorbringen und gab an, seine russische Volkszugehörigkeit sei einer der Hauptgründe seiner Verfolgung und seine Frau sei deshalb umgebracht worden. Seine Ehegattin sei, weil der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt mit seiner Tochter gerade in Russland gewesen sei, alleine in der Wohnung gewesen, "die Kasachen wollen aber die Wohnungen der Russen haben". Seine Frau sei als Folge der bereits genannten Misshandlung ins Krankenhaus gekommen, dort aber nicht behandelt worden und gestorben. Im Spital habe man, wie erwähnt, eine falsche Todesursache der Ehegattin angegeben. Der Beschwerdeführer selbst sei wegen seiner russischen Volkszugehörigkeit in Kasachstan bereits mehrfach von Zivilisten bedroht und von der Polizei auch geschlagen worden.

Befragt nach den Gründen seines Gefängnisaufenthaltes - der Beschwerdeführer gab an, insgesamt ca. 7 Jahre in Haft gewesen zu sein - nannte er berufliche Auseinandersetzungen als Lkw-Fahrer mit seinem Vorgesetzten, der gleichzeitig Parteisekretär gewesen sei. Der Beschwerdeführer sei deswegen zu zwei mehrjährigen Haftstrafen in Arbeitslagern verurteilt worden, wo er durch Missionare der Baptisten zu seinem nunmehrigen Glauben gefunden habe. Zudem habe sich der Beschwerdeführer, der sich schon als Jugendlicher geweigert habe, einer kommunistischen Jugendorganisation beizutreten, bei Versammlungen am Arbeitsplatz öffentlich regimekritisch geäußert und Beschwerden an den Obersten Sowjet gerichtet, was zu einer (weiteren) Gefängnisstrafe geführt habe. Nachdem Kasachstan seine Unabhängigkeit erlangt habe und der Beschwerdeführer aus dem Gefängnis entlassen worden sei, habe ihm ein hoher Beamter der Verwaltungsdirektion für Inneres erklärt, dass er in Semipalatinsk nicht mehr leben dürfe und dass man den Beschwerdeführer (dort) umbringen werde. Da der Beschwerdeführer in Semipalatinsk "die ganze Zeit" Beschwerden gegen die Polizei erhoben habe, habe die genannte Verfolgung seines Erachtens auch politische Gründe.

Im Anschluss an diese Verhandlung übermittelte der Beschwerdeführer der belangten Behörde der Aktenlage nach mehrere Dokumente (von denen sich im vorgelegten Akt nur Übersetzungen befinden). Bezugnehmend auf diese Unterlagen führte der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsvertreter in der fortgesetzten Verhandlung vom 22. Mai 2000 aus, aus den Dokumenten sei abzuleiten, dass die Situation in Kasachstan rechtlich "sehr labil" sei. In Kasachstan würden Personen, die nicht dem Islam oder der Orthodoxen Kirche oder der Ethnie der Kasachen angehörten, diskriminiert und es komme bei Verhaftungen durch die Polizei immer wieder zu Übergriffen. Befragt, warum ihm in Kasachstan kein normales Leben möglich sei, gab der Beschwerdeführer an, dass der genannte Staat seit der Trennung von der Sowjetunion noch grausamer und nationalistisch geworden sei. Es habe "dauernd Konflikte mit den Moslems" gegeben und "sie hätten mich als Baptisten umgebracht". Seine Wohnung sei, noch als seine Frau im Spital gelegen sei, schon von Moslems besetzt worden. Dies sei auch der Grund gewesen, weshalb seine Frau niedergeschlagen worden sei. Im Fall seiner Rückkehr nach Kasachstan würde er ins Gefängnis kommen, im schlimmsten Fall sogar umgebracht werden. Auch seine Tochter hätte (deswegen) in Kasachstan überhaupt keine Chancen. Die nationalistische Stimmung in Kasachstan sei sehr stark und russische Volksangehörige hätten keine Chance auf Arbeit und könnten daher nicht überleben.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde im Spruchteil I. die Berufung des Beschwerdeführers gegen die erstinstanzliche Asylentscheidung gemäß § 7 AsylG ab. In einem weiteren Spruchteil stellte sie gemäß § 8 AsylG iVm § 57 FrG fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Kasachstan nicht zulässig sei und erteilte dem Beschwerdeführer in einem dritten Spruchteil eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Begründend stellte die belangte Behörde nach Wiedergabe des Verfahrensgeschehens fest, der Beschwerdeführer sei staatenlos, gehöre der russischen Volksgruppe an und sei Anfang der 90-er Jahre Baptist geworden. Im Weiteren ging die belangte Behörde im Wesentlichen davon aus, dass die Angaben des Beschwerdeführers zu seinen Fluchtgründen den Tatsachen entsprechen. Sie meinte aber im Anschluss an ihre Feststellungen über die Situation in Kasachstan, dass "das Vorbringen einer Verfolgung ausschließlich wegen der russischen Volkszugehörigkeit (Tötung der Ehefrau, gewalttätige Polizeiübergriffe und verbale Übergriffe von Zivilpersonen nur wegen der Volkszugehörigkeit)" nicht mit den dokumentierten allgemeinen Verhältnissen in Kasachstan vereinbar "scheint". In rechtlicher Hinsicht vertrat die belangte Behörde nach Würdigung der Beweisergebnisse die Auffassung, es fänden sich im konkreten Fall keine Hinweise, dass der Beschwerdeführer in Kasachstan aus Gründen der Rasse oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt werde. Unter Bezugnahme auf eine vom Beschwerdeführer in der ersten Verhandlungstagsatzung im Zusammenhang mit seinem Beitritt zu den Baptisten gemachte Äußerung ("... ich bin aber nicht aus religiösen Gründen aus Kasachstan geflohen. Vorher war ich Atheist.") meinte die belangte Behörde, der Beschwerdeführer habe eine Verfolgung aus religiösen Gründen selbst ausgeschlossen, obwohl dieser einer religiösen Minderheit in diesem Staat angehöre. Was schließlich das Vorbringen einer Verfolgung wegen politischer Gesinnung anlange, so seien die diesbezüglichen Aussagen des Beschwerdeführers "wenig glaubhaft". Jedenfalls aber fehle "zumindest" jenen Sachverhalten, die sich noch zu Zeiten der Sowjetunion zugetragen hätten, die für die Asylgewährung erforderliche Aktualität.

Die Gewährung von Refoulementschutz begründete die belangte Behörde zusammengefasst damit, dass der Beschwerdeführer "relativ konkret" das Bestehen einer aktuellen, durch staatliche Stellen zumindest gebilligten Bedrohung der relevanten Rechtsgüter glaubhaft gemacht habe, und dass im Hinblick auf die von ihm geschilderten Drohungen des Leiters der inneren Sicherheitsverwaltung auch die Gefahr weiterer Inhaftierungen des Beschwerdeführers in Kasachstan realistisch sei. Die Ausführungen in den Länderberichten betreffend häufig vorkommende Übergriffe von Sicherheitsorganen untermauerten diese Befürchtungen des Beschwerdeführers geradezu. Im Übrigen sei davon auszugehen, dass dem Beschwerdeführer in Kasachstan das zum Überleben notwendige Existenzminimum fehle.

Mit der vorliegenden Beschwerde bekämpft der Beschwerdeführer den ersten Spruchteil des angefochtenen Bescheides. Die belangte Behörde hat dazu den Verwaltungsakt der Erstbehörde - nicht aber ihren eigenen Berufungsakt - vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über diese Beschwerde erwogen:

Ausgehend von der - in der Beschwerde nicht bekämpften - Ansicht, Kasachstan sei als Herkunftsstaat des staatenlosen Beschwerdeführers anzusehen (§ 1 Z 4 AsylG), legte die belangte Behörde dem angefochtenen Bescheid in ihren Sachverhaltsfeststellungen in weiten Teilen die Angaben des Beschwerdeführers über seine Fluchtgründe als den Tatsachen entsprechend zu Grunde. Was jedoch das Vorbringen zur "Verfolgung ausschließlich wegen der russischen Volkszugehörigkeit" betrifft, so "scheine" dieses nach Ansicht der belangten Behörde mit den dokumentierten allgemeinen Verhältnissen in Kasachstan nicht vereinbar.

Dieser Ansicht der belangten Behörde ist zunächst entgegenzuhalten, dass der Beschwerdeführer eine Verfolgung im Herkunftsstaat nicht "ausschließlich" wegen seiner russischen Volkszugehörigkeit behauptet hat. Entgegen der Meinung der belangten Behörde ist nämlich dem von ihr insoweit zugrundegelegten Vorbringen des Beschwerdeführers, wie dargestellt, an mehreren Stellen zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer in Kasachstan für sich und seine Familie vor allem auch wegen der Zugehörigkeit zu den Baptisten Verfolgung befürchtet und dass seine Frau wegen ihrer Religion ermordet worden sei. Dieses Vorbringen kann, auch wenn der Beschwerdeführer an einer Stelle seines Vorbringens eine Verfolgung aus religiösen Gründen scheinbar verneint hat, nicht außer Betracht bleiben.

Die Ansicht der belangten Behörde, eine Verfolgung des Beschwerdeführers auf Grund seiner russischen Nationalität sei mit Blick auf die allgemeinen Verhältnisse in Kasachstan zu verneinen, lässt sich aber auch, wie die Beschwerde zutreffend einwendet, mit den im angefochtenen Bescheid wiedergegebenen politischen Verhältnissen in diesem Staat nicht in Einklang bringen. Diesbezüglich hat die belangte Behörde nämlich folgende Feststellungen getroffen:

"Es kommt weiterhin häufig zu Übergriffen gegen Personen durch die Sicherheitsorgane in Form von willkürlichen Festnahmen und Rechtsverletzungen in der Haft (Übergriffe in Einzelfällen auch mit Todesfolge).

...

Eine unmittelbare staatliche Verfolgung wegen Rasse, Religion, Nationalität findet nicht statt. Auch eine direkte Diskriminierung von ethnischen Minderheiten findet selten statt; es gibt jedoch soziale Diskriminierung von Nichtkasachen. Russische Volkszugehörige werden in Kasachstan nicht als Volksgruppe verfolgt.

Im täglichen Leben existieren die asiatischen und slawischen Bevölkerungsgruppen allerdings größtenteils freundlich-neutral nebeneinander, wenn auch die aus der sich verschlechternden wirtschaftlichen und sozialen Lage resultierenden Spannungen in letzter Zeit häufiger den Charakter ethnisch geprägter Verteilungskämpfe annehmen.

Die Religionsfreiheit ist gewährleistet; der Staat verhält sich tolerant/ neutral und bezeichnet sich als "laizistisch".

Eine Islamisierung der kasachischen Gesellschaft findet nur begrenzt statt."

In Anbetracht der erwähnten "ethnisch geprägten" Verteilungskämpfe zwischen den besagten Bevölkerungsgruppen kann vor dem Hintergrund der Feststellungen, der Staat verhalte sich "tolerant/neutral" und im Bereich der Sicherheitsverwaltung komme es "häufig zu Übergriffen" gegen Personen, in Einzelfällen auch mit Todesfolge, nicht gesagt werden, der Herkunftsstaat des Beschwerdeführers sei gewillt und in der Lage, den Beschwerdeführer und seine Familie vor den genannten Angriffen durch andere Bevölkerungsgruppen zu schützen.

Da sich somit entgegen der Ansicht der belangten Behörde das dem angefochtenen Bescheid zugrunde gelegte Vorbringen des Beschwerdeführers über eine ihm in Kasachstan drohende Verfolgung aus religiös/ethnischen Gründen durch die auf den Herkunftsstaat bezogenen behördlichen Feststellungen bestätigen und diese Verfolgung somit auf die in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe zurückführen lässt, erübrigt sich eine Auseinandersetzung mit den vom Beschwerdeführer ergänzend vorgebrachten politischen Hintergründen seiner Bedrohung.

Was schließlich den Hinweis der belangten Behörde, zumindest den Behauptungen des Beschwerdeführers über eine Verfolgung während der Zeit des Bestandes der Sowjetunion komme mangels Aktualität keine Asylrelevanz mehr zu, betrifft, so genügt der Hinweis, dass der Beschwerdeführer die Bedrohung seines Lebens und das seiner Tochter primär auf Umstände zurückführte, die sich nach der Lösung Kasachstans vom ehemaligen Gebiet der UdSSR manifestierten.

Der angefochtene Bescheid war daher hinsichtlich des angefochtenen ersten Spruchteiles gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 17. September 2003

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2003:2000200432.X00

Im RIS seit

14.11.2003
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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