TE Vfgh Erkenntnis 2000/6/21 B422/98

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Veröffentlicht am 21.06.2000
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Index

27 Rechtspflege
27/01 Rechtsanwälte

Norm

B-VG Art83 Abs2
B-VG Art90 Abs2
EMRK Art6 Abs1 / Verfahrensgarantien
DSt 1990 §36

Leitsatz

Keine Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter und auf ein faires Verfahren durch Verhängung einer Disziplinarstrafe über einen Rechtsanwalt; Gegenstand des Schuldspruchs vom Tatvorwurf des Einleitungsbeschlusses mitumfaßt

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch den angefochtenen Bescheid weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

1.1. Gegen den Beschwerdeführer - er ist Rechtsanwalt in Innsbruck - wurde mit Einleitungsbeschluß des Disziplinarrates der Tiroler Rechtsanwaltskammer (im folgenden: Disziplinarrat) vom 30. Jänner 1997 der Vorwurf erhoben, er stehe im Verdacht ein Disziplinarvergehen begangen zu haben, weil er

"es als mittlerweiliger Stellvertreter gemäß §34 Abs1 lita und d RAO des Dr. D R-H unterlassen habe, eine pflichtgemäße Tätigkeit als mittlerweiliger Stellvertreter in dieser Funktion zu entfalten, innerhalb angemessener Frist über seine Tätigkeit dem Ausschuß der Tiroler Rechtsanwaltskammer, dem Masseverwalter über das Vermögen des Dr. D R-H und dem betroffenen RA Dr. R-H über seine Tätigkeit zu berichten, sowie in weiterer Folge ohne entsprechende Abrechnung am 14.3.1996 einen Antrag auf Enthebung als mittlerweiliger Stellvertreter gestellt zu haben".

1.2. Mit Disziplinarerkenntnis vom 24. April 1997 wurde über den Beschwerdeführer eine Geldbuße in der Höhe von S 10.000,- mit der Begründung verhängt, daß er "es unterlassen habe, die Schreiben des Masseverwalters, insbesondere jene vom 15. September 1994, 24. Juli 1995, 28. November 1995 und 2. Juli 1996 zu beantworten", wodurch er das Disziplinarvergehen der Berufspflichtenverletzung und der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes begangen habe.

1.3. Der dagegen erhobenen Berufung wurde mit Erkenntnis der Obersten Berufungs- und Disziplinarkommission für Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter (im folgenden: OBDK) "puncto Nichtigkeit" nicht Folge gegeben; hingegen wurde der Strafberufung Folge gegeben und anstelle der verhängten Geldstrafe die Strafe des schriftlichen Verweises ausgesprochen.

Begründend wird im wesentlichen ausgeführt:

"Mit Beschluß des Landesgerichtes Innsbruck vom 7. Juli 1992 wurde über das Vermögen des Dr. D R-H das Konkursverfahren eröffnet und Dr. P M, Rechtsanwalt in Innsbruck, zum Masseverwalter bestellt.

Mit Bescheid des Ausschusses der Tiroler Rechtsanwaltskammer vom 16. Juli 1992 wurde der Disziplinarbeschuldigte als mittlerweiliger Stellvertreter bestellt.

...

Im Zuge des Konkursverfahrens urgierte der Masseverwalter Dr. P M mehrmals beim Disziplinarbeschuldigten die Erstellung einer Abrechnung über jene Akten, zu welchen er als Masseverwalter vom Disziplinarbeschuldigten Geld überwiesen erhalten hat, bzw. die Auflistung jener Akten, durch welche allenfalls Geldbeträge zur Konkursmasse hinzukommen würden. Bei diesen Urgenzschreiben handelt es sich insbesonders um die Schreiben vom 15. September 1994, 24. Juli 1995, 28. November 1995 und 2. Juli 1996; diese vier Schreiben hat der Disziplinarbeschuldigte nicht beantwortet.

Nicht festgestellt werden konnte, daß der Disziplinarbeschuldigte es unterlassen habe, eine pflichtgemäße Tätigkeit als mittlerweiliger Stellvertreter in dieser Funktion zu entfalten und innerhalb angemessener Frist über seine Tätigkeit dem Ausschuß der Tiroler Rechtsanwaltskammer sowie dem Masseverwalter Dr. P M und dem betroffenen Rechtsanwalt Dr. D R-H zu berichten.

Dieser (im Erkenntnis des Disziplinarrates vom 24. April 1997) festgestellte Sachverhalt wurde (in diesem Erkenntnis) rechtlich wie folgt beurteilt:

Der Disziplinarbeschuldigte wurde mehrmals durch den Masseverwalter mit Schreiben vom 15. September 1994, 24. Juli 1995, 28. November 1995 und 2. Juli 1996 aufgefordert, mitzuteilen, ob noch Honorarakten im Konkursverfahren offen wären, insbesonders, ob die Masse noch etwas an Geld zu erwarten habe. Unabhängig davon, ob nun tatsächlich noch offene Akten vorlagen und Geld für die Masse erwartet werden konnte, wäre der Disziplinarbeschuldigte verpflichtet gewesen, dem Masseverwalter wenigstens einmal schriftlich Antwort zu geben und sich zu erklären.

Es könne als anerkannte kollegiale Pflicht gelten, daß ein Rechtsanwalt Briefe eines Rechtsanwaltskollegen zu beantworten hat. Es ergebe sich dies zwar nicht aus einer ausdrücklichen Vorschrift oder den Richtlinien für die Ausübung des Rechtsanwaltsberufes, sondern aus dem Grundsatz der Kollegialität und der allgemeinen Verpflichtung im Umgang mit Kollegen bei der Berufsausübung. Demnach wäre es Aufgabe und Verpflichtung des Disziplinarbeschuldigten gewesen, wenigstens das erste Schreiben oder zumindest eines der weiteren drei Schreiben des Masseverwalters zu beantworten, um diesem im Konkurs über das Vermögen von Dr. D R-H die Möglichkeit zu geben, weitere Entscheidungen zu treffen und Anträge zu stellen.

Da der Disziplinarbeschuldigte dieses Verhalten auch im Rahmen der Berufsausübung gesetzt habe, habe er die Disziplinarvergehen der Beeinträchtigung von Ehre und Ansehen des Standes sowie der Berufspflichtenverletzung zu vertreten.

Bei der Strafbemessung wurde die Unbescholtenheit des Disziplinarbeschuldigten sowie die Tatsache, daß er seine Tätigkeit als mittlerweiliger Stellvertreter freiwillig übernommen habe und zweifellos mit einer Vielfalt von Schwierigkeiten konfrontiert gewesen sei, als mildernd angenommen.

Gegen dieses Erkenntnis hat der Disziplinarbeschuldigte das Rechtsmittel der Berufung erhoben, die Kammeranwaltschaft hat hiezu eine Äußerung erstattet.

In seiner Berufung macht der Disziplinarbeschuldigte geltend, daß man, stelle man den Einleitungsbeschluß dem Schuldspruch gegenüber, zum Ergebnis komme, daß im Einleitungsbeschluß der letztendlich zum Schuldspruch führende Vorwurf überhaupt nicht enthalten sei. Zwar werde am Ende des Protokolls über die mündliche Disziplinarverhandlung vom 24. April 1997 angeführt, daß der Disziplinarbeschuldigte im Sinn des modifizierten Antrages schuldig erkannt werde, doch gebe es einen solchen modifizierten Antrag nicht. Überdies aber habe der Disziplinarbeschuldigte auf die Schreiben telefonisch reagiert und sie damit beantwortet. In jedem Fall sei die verhängte Strafe überhöht.

Der Vorwurf einer Nichtigkeit durch Überschreitung des Einleitungsbeschlusses ist unbegründet. Der Einleitungsbeschluß umschrieb den Verfahrensgegenstand dahin, daß die Unterlassung pflichtgemäßer Tätigkeit als mittlerweiliger Stellvertreter und andere näher bezeichnete Unterlassungen zum Vorwurf gemacht werden. Die dem Schuldspruch zugrundeliegende Nichtbeantwortung von Schreiben des Masseverwalters wäre pflichtgemäße Tätigkeit des mittlerweiligen Stellvertreters gewesen. Der Einleitungsbeschluß deckt hier durchaus den Schuldspruch. Eine einmalige telephonische Antwort, wonach der Disziplinarbeschuldigte zu keiner Abrechnung bereit sei, stellt keine von einer disziplinären Verantwortung enthebende gehörige Beantwortung für insgesamt vier Schreiben dar. Der Beschuldigte hätte im Interesse eines Mindestmaßes an standesgemäßem Umgang zwischen Kollegen wenigstens ein Mal schriftlich, wenn auch kurz, zu antworten gehabt.

Durch den Schuldspruch wurde daher der Einleitungsbeschluß nicht überschritten. Daß der Beschuldigte hinsichtlich der weiteren im Einleitungsbeschluß enthaltenen Punkte freigesprochen wurde, geht zwar nicht aus dem Spruch des angefochtenen Erkenntnisses, aber doch aus dessen Gründen hervor.

Unter den besonderen Umständen des Falles erscheint die verhängte Geldstrafe nicht schuldangemessen; es konnte vielmehr mit einem schriftlichen Verweis das Auslangen gefunden werden."

2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter sowie auf ein faires Verfahren geltend gemacht und die Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

3. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, erstattete jedoch keine Gegenschrift.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1. Der Beschwerdeführer bringt gegen die dem angefochtenen Bescheid zugrundeliegenden Rechtsvorschriften keine verfassungsrechtlichen Bedenken vor. Aus der Sicht des Verfassungsgerichtshofes sind solche aus Anlaß dieses Beschwerdefalles nicht entstanden.

Der Beschwerdeführer wurde deshalb nicht wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt.

2.1. Zu den behaupteten Vollzugsfehlern:

2.1.1. Der Beschwerdeführer behauptet, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt zu sein, weil der im Schuldspruch enthaltene Vorwurf, mehrere Briefe des Masseverwalters nicht schriftlich beantwortet zu haben, im Einleitungsbeschluß nicht enthalten sei. Gegenstand eines Disziplinarverfahrens sei jedoch nur die im Einleitungsbeschluß konkret umschriebene Tat. Der Beschwerdeführer räumt zwar ein, daß im Laufe des Disziplinarverfahrens eine spätere Erweiterung der Anschuldigungspunkte nicht ausgeschlossen sei, eine solche Erweiterung sei aber im gegenständlichen Disziplinarverfahren nicht erfolgt.

2.1.2. Der vom Beschwerdeführer erhobene Vorwurf, der angefochtene Bescheid verletze das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter, trifft nicht zu:

Nach ständiger Judikatur des Verfassungsgerichtshofes ist das verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter unter anderem dann verletzt, wenn die Behörde eine Zuständigkeit zur Entscheidung über eine Sache in Anspruch nimmt, die ihr nicht zusteht (vgl. VfSlg. 8176/1977, 8886/1980, 9696/1983). Spricht die Behörde über Anschuldigungen ab, die nicht Gegenstand des Einleitungsbeschlusses waren, so wird eine Zuständigkeit in Anspruch genommen, die der Behörde nicht zukommt. Durch den Einleitungsbeschluß kann sich der Disziplinarbeschuldigte Klarheit darüber verschaffen, welcher disziplinäre Vorwurf gegen ihn erhoben wird, wenngleich dadurch eine spätere Erweiterung der Anschuldigungspunkte nicht ausgeschlossen wird (vgl. dazu insbesondere VfSlg. 9425/1982 und VfGH 4.10.1999, B2347/97). Der Verfassungsgerichtshof hat bereits wiederholt ausgesprochen, daß dem Einleitungsbeschluß sohin nicht die Funktion einer Anklageschrift nach der StPO zukommt, was aber unter dem Aspekt des Art90 Abs2 B-VG verfassungsrechtlich unbedenklich ist, weil es sich bei einem Disziplinarverfahren nicht um ein Strafverfahren iS dieser Verfassungsbestimmung handelt (vgl. VfSlg. 12462/1990, 13419/1993, 13762/1994). Es handelt sich lediglich um eine prozeßleitende Verfügung, die der Durchführung des Disziplinarverfahrens vorauszugehen hat und den Gegenstand des Disziplinarverfahrens vorläufig festlegt.

2.1.3. Im Beschwerdefall trifft schon der Beschwerdevorwurf, daß der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid wegen eines Verhaltens verurteilt wurde, das nicht Gegenstand des Einleitungsbeschlusses war, nicht zu. Im Einleitungsbeschluß wird dem Beschwerdeführer neben anderen näher bezeichneten Unterlassungen auch eine pflichtwidrige Ausübung der Tätigkeit als mittlerweiliger Stellvertreter vorgeworfen. Damit mußte dem Beschwerdeführer klar sein, daß Gegenstand des Disziplinarverfahrens alle Umstände waren, die im Zusammenhang mit Pflichtverletzungen im Rahmen der Ausübung seiner Tätigkeit als mittlerweiliger Stellvertreter standen. Der Behörde oblag es, im Zuge des Disziplinarverfahrens zu untersuchen, ob der erhobene Vorwurf zutrifft sowie im Disziplinarerkenntnis zu konkretisieren, inwiefern zutreffendenfalls Berufspflichten bzw. Ehre und Ansehen des Standes verletzt wurden.

Der im Schuldspruch enthaltene Vorwurf, mehrere Briefe des Masseverwalters nicht schriftlich beantwortet zu haben, war sohin vom Tatvorwurf des Einleitungsbeschlusses mitumfaßt und war auch tatsächlich Gegenstand sowohl des Verfahrens vor dem Disziplinarrat als auch vor der belangten Behörde. Der Beschwerdeführer ist somit im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter nicht verletzt worden.

2.2.1. Unter dem Aspekt des durch Art6 EMRK gewährleisteten Rechts auf ein faires Verfahren bringt der Beschwerdeführer vor, daß er von jenen - bereits gegen ihn im Einleitungsbeschluß erhobenen - Vorwürfen, die er, wie sich nach Durchführung des Disziplinarverfahrens herausgestellt hat, nicht begangen habe, im Spruch der Bescheide nicht förmlich freigesprochen worden sei. Aus der Begründung der Erkenntnisse der OBDK und des Disziplinarrates gehe lediglich hervor, daß er diese ihm vorgeworfenen Vergehen nicht begangen habe. Nur der Spruch eines Bescheides sei aber der Rechtskraft fähig. Die Begründungen der in Rede stehenden Bescheide zeigen zwar, daß die Vorwürfe zu Unrecht erfolgt wären; da aber über die einzelnen Vorwürfe nicht (im Spruch der Bescheide) förmlich abgesprochen worden sei, sei das Verfahren nicht zur Gänze erledigt worden.

2.2.2. Dem ist zunächst entgegenzuhalten, daß der Beschwerdeführer nur für das im Spruch des Erkenntnisses des Disziplinarrates umschriebene Verhalten rechtskräftig verurteilt wurde, sodaß nur die Verurteilung für dieses Verhalten für etwaige zukünftige disziplinäre Verfehlungen innerhalb der Tilgungsfrist (vgl. §§73ff Disziplinarstatut 1990) Berücksichtigung finden könne. Im übrigen spricht der Beschwerdeführer mit diesem Vorwurf bloß einfachgesetzliche Fragen des Verfahrens vor den Disziplinarbehörden an (vgl. §38 DSt 1990), zeigt aber nicht Verletzungen in verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten auf.

Der Beschwerdeführer ist sohin nicht in dem durch Art6 EMRK gewährleisteten Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden.

2.3. Ob der Bescheid in jeder Hinsicht dem Gesetz entspricht, ist vom Verfassungsgerichtshof nicht zu prüfen und zwar auch dann nicht, wenn sich die Beschwerde - wie im vorliegenden Fall - gegen eine Entscheidung einer Kollegialbehörde nach Art133 Z4 B-VG richtet, die beim Verwaltungsgerichtshof nicht bekämpft werden kann (vgl. etwa VfSlg. 13419/1993, 14408/1996, VfGH 8.6.1999, B788/99).

3. Die behauptete Verletzung verfassungsgesetzlich gewährleisteter Rechte hat sohin nicht stattgefunden.

Das Verfahren hat auch nicht ergeben, daß der Beschwerdeführer in von ihm nicht geltend gemachten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten verletzt wurde.

Die Beschwerde war daher abzuweisen.

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG 1953 ohne vorangegangene mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

Schlagworte

Rechtsanwälte, Disziplinarrecht, Strafprozeßrecht, Anklageprinzip, fair trial

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2000:B422.1998

Dokumentnummer

JFT_09999379_98B00422_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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