TE Vwgh Erkenntnis 2003/10/22 2000/20/0237

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Veröffentlicht am 22.10.2003
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Index

41/02 Passrecht Fremdenrecht;

Norm

AsylG 1997 §7;
AsylG 1997 §8;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Steiner und die Hofräte Dr. Nowakowski und Dr. Grünstäudl als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde des F (auch: F) in S, geboren 1970, vertreten durch Dr. Friedrich Fromherz, Dr. Wolfgang Fromherz und Dr. Bernhard Glawitsch, Rechtsanwälte in 4010 Linz, Graben 9, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 10. Mai 2000, Zl. 214.769/4-II/04/00, betreffend §§ 7 und 8 AsylG (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.172,88 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, reiste am 14. August 1999 in das Bundesgebiet ein und ersuchte um Asyl. Vor dem Bundesasylamt gab er dazu an, er gehöre der Volksgruppe der Hazaras an, die in ihrer Existenz durch die Taliban bedroht sei. Die Taktik der Taliban, die schon seit Jahrhunderten gegen den Stamm des Beschwerdeführers Vorurteile hätten, sei es, nach Eroberung einer Ortschaft zuerst die Hauptpersonen und dann die ganze Jugend zu vernichten, um spätere Racheakte zu verhindern.

Mit Bescheid vom 15. Dezember 1999 wies das Bundesasylamt den Asylantrag des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab und stellte gemäß § 8 AsylG fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei. Begründend stellte die Erstbehörde im damaligen Bescheid fest, die Taliban hätten als zunehmend dominierender Faktor im afghanischen Machtkampf den Einfluss auf mehr als 80 % des Staatsgebietes ausgedehnt. Das Volk der Hazaras sei auf Grund seiner Zugehörigkeit zur schiitischen Glaubensgemeinschaft in der politischen Geschichte Afghanistans immer wieder verfolgt worden und sei die von den Übergriffen der Taliban am stärksten betroffene Volksgruppe des Landes. Obwohl die Hazaras im Jahr 1998 einer Massenverfolgung durch die Taliban ausgesetzt gewesen seien, alle Siedlungsgebiete der Hazaras von den Taliban eingenommen und sowohl die politische als auch die traditionelle Führung der Hazaras ausgeschaltet worden seien, sei doch eine allgemeine Verfolgung dieser Volksgruppe nicht bekannt. So sei der Beschwerdeführer in den vergangenen Jahren von den gegen seinen Volksstamm gerichteten Übergriffen offenbar völlig unbehelligt geblieben, was die immer wieder generalisierten Übergriffe auf diese Volksgruppe deutlich relativiere.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Berufung. In der Berufungsverhandlung, in der die belangte Behörde ein Gutachten über die politische Situation in Afghanistan einholte, wies der Beschwerdeführer darauf hin, dass sein Heimatdorf im September 1998 von den Taliban kampflos besetzt worden sei. Als letztere die Herausgabe der Waffen gefordert hätten, habe ihnen der Vater des Beschwerdeführers ein Maschinengewehr mit Munition ausgehändigt und ihnen den Beschwerdeführer, der sich zu diesem Zeitpunkt in den Bergen versteckt gehalten habe, als Verantwortlichen genannt. Der Beschwerdeführer gab an, selbst nicht mit Waffen gegen die Taliban gekämpft zu haben, vielmehr habe er das Maschinengewehr nur der eigenen Sicherheit wegen zu Hause aufbewahrt. Der Beschwerdeführer stehe nun aber, wie sein Vater erfahren habe, auf einer Fahndungsliste der Taliban. Weil der Beschwerdeführer keinerlei Erfahrung als Kämpfer habe und darüber hinaus den Krieg aus Überzeugung ablehne, erachte er es als nicht zumutbar, sich den Truppen der Nordallianz anzuschließen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheides wies die belangte Behörde unter Spruchteil I. die Berufung des Beschwerdeführers gemäß § 7 AsylG ab. Unter Spruchpunkt II. gab sie der Berufung des Beschwerdeführers in Bezug auf die Refoulemententscheidung insoferne Folge, als die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers "nach dem nicht von den Taliban beherrschten Teil Afghanistans, das heißt in das Gebiet der 'Nordallianz' (d.h., das dem Staatspräsidenten RABBANI gegenüber loyale Gebiet)" gemäß § 8 AsylG zulässig sei.

Begründend vertrat die belangte Behörde nach Wiedergabe des Verfahrensgeschehens sowie der maßgeblichen Rechtsvorschriften und nach einem Verweis auf einen bei ihr anhängigen ähnlich gelagerten Berufungsfall zusammengefasst die Ansicht, der der schiitischen Glaubensgemeinschaft angehörende Beschwerdeführer werde nach seiner Rückkehr in das Gebiet der Nordallianz, das "derzeit" von Tadschikistan aus zugänglich sei, in der Lage sein, eine genügende Vertrauensbasis (zu ergänzen: zu den dortigen Gegnern der Taliban) aufzubauen, auch wenn er nach den Aussagen des Sachverständigen mit allfälligen verbalen Diskriminierungen "in sunnitischer, militärischer Umgebung im Nordgebiet" rechnen müsse. Wenn zu diesem Zweck eine Integration des Beschwerdeführers in die Armee der Nordallianz erforderlich sei, so sei ihm dies nach Ansicht der belangten Behörde zumutbar.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Vorweg ist festzuhalten, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid anhand der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat (vgl. in diesem Zusammenhang etwa die hg. Erkenntnisse vom 12. Mai 1999, Zl. 98/01/0455, und vom 20. Oktober 1999, Zl. 99/01/0117).

Der vorliegende Beschwerdefall gleicht, worauf im angefochtenen Bescheid zutreffend hingewiesen wird, sowohl hinsichtlich der maßgebenden Fluchtgründe, hinsichtlich des von der belangten Behörde zugrunde gelegten Sachverständigengutachtens als auch bezüglich der Bewertung der Gefahrenlage für den Beschwerdeführer bei Rückkehr in den nördlichen Teil Afghanistans im Zeitpunkt der Bescheiderlassung im Wesentlichen jenem Beschwerdefall, der dem hg. Erkenntnis vom 17. September 2003, Zl. 2000/20/0209, zugrunde lag. So stützt sich die belangte Behörde auch im vorliegenden Fall auf die Angaben des Sachverständigen, denen zufolge einerseits "bis vor kurzem" alle offiziellen Grenzübergänge Afghanistans unter der Kontrolle der Taliban, die 90 % des Landes beherrschten, gestanden wären und sich andererseits nach den "neuesten Kenntnissen (ca. ein Monat)" ein Grenzübergang wieder unter der Kontrolle eines oppositionellen Kommandanten befand. Davon ausgehend meinte die belangte Behörde auch gegenständlich, dass der Beschwerdeführer das im zweiten Spruchteil des angefochtenen Bescheides genannte "Gebiet der Nordallianz" jedenfalls hätte erreichen und dort Schutz finden können. Schon aus den im zitierten Erkenntnis, Zl. 2000/20/0209, genannten Gründen, auf die gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, ist der angefochtene Bescheid daher mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit behaftet.

Anders als in dem dem zitierten Erkenntnis zugrundeliegenden Fall kommt gegenständlich im Übrigen noch hinzu, dass der Beschwerdeführer nach seinen unwidersprochenen Angaben bislang keine Kampferfahrung hatte und auch seine Bereitschaft, für die Nordallianz zu kämpfen, ausdrücklich verneint hat. Geht man daher nicht mit der belangten Behörde davon aus, dass dem Beschwerdeführer eine Integration in die Armee der Nordallianz zumutbar gewesen sei (wofür sich mangels näherer Begründung im angefochtenen Bescheid keine Argumente finden), so ist nicht zu übersehen, dass der Sachverständige in der Berufungsverhandlung dargelegt hat, der Beschwerdeführer hätte im Gebiet der Nordallianz (abgesehen von ihm auch dort wiederverfahrenden Diskriminierungen) "zum Überleben eines engeren Bezuges zu einer der in dieser Region existierenden familiären oder politischen Gruppen" bedurft. Dass Letzteres der Fall gewesen wäre, hat die belangte Behörde nicht schlüssig dargetan. Insbesondere die Refoulemententscheidung erweist sich daher auch unter diesem Gesichtspunkt als rechtswidrig.

Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2003.

Wien, am 22. Oktober 2003

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2003:2000200237.X00

Im RIS seit

13.11.2003
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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