TE Vfgh Erkenntnis 2001/6/12 B1580/00

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Veröffentlicht am 12.06.2001
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Index

19 Völkerrechtliche Verträge
19/05 Menschenrechte

Norm

B-VG Art83 Abs2
B-VG Art129a
EMRK Art2
AVG §67a

Leitsatz

Verletzung im Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter durch Zurückweisung einer gegen die Erschießung ihres Vaters im Zuge einer polizeilichen Amtshandlung gerichteten Beschwerde der minderjährigen Söhne des Verstorbenen; Beschwerdelegitimation auch naher Angehöriger zur Geltendmachung einer Verletzung des Rechts auf Leben gegeben

Spruch

Die Beschwerdeführer sind durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, den Beschwerdeführern zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit S 32.200,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Beschwerdeführer sind - ihren eigenen Angaben zufolge - "leibliche Söhne und gesetzliche Erben von I.B.".

Nach dem Beschwerdevorbringen fuhr I.B. am 19. Mai 2000 mit seinem PKW gemeinsam mit einem Freund zu einem Lokal in 1140 Wien, Heinrich-Collin-Straße 30, und parkte dort ein. Gemeinsam seien die beiden in das Lokal gegangen und hätten ein altes TV-Gerät abgeholt und in den PKW gestellt.

Sodann habe sich I.B. auf den Fahrersitz, sein Freund auf den Beifahrersitz gesetzt. Als sie gerade wegfahren wollten, seien sie von Organen der Bundespolizeidirektion Wien angehalten worden. I.B. sei durch ein Organ der BPD Wien angeschossen worden und unmittelbar darauf verstorben.

2. Die Beschwerdeführer wandten sich in der Folge mit einer Beschwerde nach Art129a Abs1 Z2 B-VG und §67c AVG an den Unabhängigen Verwaltungssenat Wien (im folgenden: UVS) und beantragten die Feststellung, daß sie dadurch, daß ihr Vater durch ein Organ der Bundespolizeidirektion Wien erschossen wurde, in ihrem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht gemäß Art8 EMRK verletzt wurden bzw. daß I.B. durch diese Amtshandlung in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Leben gemäß Art2 EMRK verletzt wurde.

3. Der UVS wies die Beschwerde mit Bescheid vom 16. August 2000 als unzulässig zurück, weil die Söhne des unmittelbar betroffenen I.B. nicht beschwerdelegitimiert seien.

4. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, mit der die Verletzung der verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter (Art83 Abs2 B-VG, Art13 EMRK) sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) bzw. ein Verstoß gegen das dem Vater der Beschwerdeführer verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Leben (Art2 EMRK), in eventu die Verletzung in diesen verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten "wegen Anwendung verfassungswidriger Gesetze, nämlich §67a Abs1 Z2 AVG und §67c Abs3 AVG" behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides beantragt wird.

5. Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift jedoch Abstand genommen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die zulässige Beschwerde erwogen:

1. Das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter wird durch den Bescheid einer Verwaltungsbehörde verletzt, wenn die Behörde eine ihr gesetzlich nicht zukommende Zuständigkeit in Anspruch nimmt oder in gesetzwidriger Weise ihre Zuständigkeit ablehnt (zB VfSlg. 9.696/1983), etwa indem sie zu Unrecht eine Sachentscheidung verweigert (zB VfSlg. 10.374/1985, 11.405/1987, 13.280/1992).

2.1. Die belangte Behörde hat die Zurückweisung der an sie gerichteten Maßnahmenbeschwerde damit begründet, daß eine stellvertretende Beschwerdelegitimation durch den Wortlaut des Art129a B-VG zwingend ausgeschlossen sei. Auch aus dem Rechtsstaatsprinzip lasse sich "eine Legitimation anderer als des in seiner 'Rechtssphäre' Betroffenen nicht ableiten". Es könne jedoch

"durchaus mit Grund vertreten werden, daß die österreichische Rechtslage im Falle der Tötung eines Menschen durch staatliche Organe den Anforderungen des Art2 iVm Art13 EMRK nicht entspricht. Dazu konkret Stellung zu beziehen, sieht sich der Unabhängige Verwaltungssenat Wien aber nicht veranlaßt.

Selbst bei Zutreffen dieser Annahme könnte nämlich daraus nicht abgeleitet werden, der Unabhängige Verwaltungssenat habe seinen durch die Verfassung zugewiesenen Auftrag durch 'menschenrechtskonforme Auslegung' und gegebenenfalls Lückenschließung dahingehend zu erweitern, daß über Beschwerden von Hinterbliebenen zu erkennen wäre."

2.2. Mit diesen Erwägungen ist die belangte Behörde nicht im Recht. Der Verfassungsgesetzgeber hat mit der B-VG-Novelle 1988 durch Art129a B-VG eine eigene Rechtsschutzinstanz eingeführt, die unter anderem gemäß Abs1 Z2 "über Beschwerden von Personen, die behaupten, durch die Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt in ihren Rechten verletzt zu sein", zu erkennen hat.

Der Verfassungsgesetzgeber ist bei der Ausgestaltung der Kompetenzen des UVS ersichtlich von der Zielsetzung ausgegangen, die UVS als Organe einzurichten, die die Verwaltung kontrollieren (vgl. VfSlg. 14.891/1997). Zweck eines Maßnahmenbeschwerdeverfahrens vor dem UVS ist die - nachträgliche - Feststellung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit eines Akts unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt.

Wenngleich der Wortlaut des Art129a B-VG auch in Zusammenhalt mit §67a AVG den Schluß nahe legt, daß nur eine von der Maßnahme selbst betroffene Person zur Erhebung der Beschwerde berechtigt sei, so wird vor dem Hintergrund des vorliegenden Falles deutlich, daß diese reine Wortinterpretation dem spezifischen Charakter der Kontrolle von Rechten - insbesondere des Rechts auf Leben - nicht ausreichend Rechnung trägt.

Art129a B-VG wurde zu einem Zeitpunkt in die Verfassung eingefügt, als die - damalige - Europäische Kommission für Menschenrechte insbesondere in Fällen der behaupteten Verletzung des Rechts auf Leben eine Beschwerdelegitimation von nahen Angehörigen des Verstorbenen in ständiger Rechtsprechung bejaht hat, sofern die betreffenden Angehörigen durch die behauptete Rechtsverletzung mittelbar betroffen sind, also aufgrund ihrer engen Beziehung zu dem unmittelbar Betroffenen und/oder der gerügten Handlung oder Unterlassung ein schutzwürdiges Interesse an der Rechtsverfolgung haben (z.B. EKMR 8416/79, DR 19, 244; 9348/81, DR 32, 190; 9833/82, DR 42, 53).

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte geht von der Legitimation der Hinterbliebenen des Getöteten zur Geltendmachung von behaupteten Verletzungen des Art2 EMRK aus (vgl. etwa EGMR 17/1994/464/545, McCann, ÖJZ 1996, 233; 86/1996/705/897, Andronicou und Constantinou, ÖJZ 1998, 34; 33646/96, Çaçan).

Als nahe Angehörige, die zur Beschwerdeführung legitimiert sind, wurden in der Judikatur der EKMR und des EGMR jedenfalls der Ehepartner (z.B. EGMR 27602/95, Ekinci), die Eltern (z.B. EKMR 9833/82, DR 42, 53), die Kinder (z.B. EKMR 35981/97, Toluk; zuletzt EGMR 31725/96, Köksal) sowie die Geschwister (z.B. EGMR 27693/95, Çelikbilek) des Verstorbenen angesehen.

Die Beschwerdelegitimation der Hinterbliebenen zur Geltendmachung von Verletzungen des Rechts auf Leben im Falle der Tötung eines Menschen ergibt sich aus dem spezifischen Charakter des durch Art2 EMRK geschützten Rechts; anders könnte eine Verletzung des Rechts auf Leben im Falle des Ablebens überhaupt nicht releviert werden.

Unter Bedachtnahme auf die historische Zielsetzung der Rechtsschutz- und Kontrolleinrichtung im Sinne des Art129a B-VG kann dem Verfassungsgesetzgeber nicht zugesonnen werden, daß er eine eigene Beschwerdeinstanz für Rechtsverletzungen, die aus Akten unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt resultieren, geschaffen hat, und davon aber die Geltendmachung der Verletzung des Rechts auf Leben durch Angehörige im Fall des während der Amtshandlung eingetretenen Todes des von der Amtshandlung unmittelbar Betroffenen generell ausschließen wollte.

Wenn also der durch die Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt Betroffene während der Amtshandlung verstorben ist, so ist gemäß Art129a B-VG der UVS auch zuständig, über von nahen Angehörigen diesbezüglich behauptete, den Verstorbenen betreffende Rechtsverletzungen (insb. Art2 EMRK) zu erkennen (vgl. bereits das hg. Erkenntnis vom 6. März 2001, B159/00).

Die Beschwerdeführer sind unbestritten die leiblichen Söhne des I.B.. Sie erfüllen daher im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die notwendigen Kriterien, um an Stelle des verstorbenen Vaters Beschwerde gemäß Art129a B-VG zu erheben.

3. Die belangte Behörde hätte daher die gemäß §67a AVG an sie gerichtete Beschwerde nicht zurückweisen dürfen. Indem sie dies jedoch getan hat, hat sie den Beschwerdeführern zu Unrecht eine Sachentscheidung vorenthalten und sie dadurch in ihrem gemäß Art83 Abs2 B-VG gewährleisteten Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter verletzt.

Der angefochtene Bescheid war daher aufzuheben.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG 1953. In den Kosten sind ein Streitgenossenzuschlag in Höhe von S 2.250,--, Umsatzsteuer in Höhe von S 4.950,-- und die entrichtete Eingabegebühr in Höhe von S 2.500,-- enthalten.

5. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne vorausgegangene mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Ausübung unmittelbarer Befehls- und Zwangsgewalt, Behördenzuständigkeit, Unabhängiger Verwaltungssenat, Recht auf Leben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2001:B1580.2000

Dokumentnummer

JFT_09989388_00B01580_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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