Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Zweiten Präsidenten Dr. Fellner als Vorsitzenden und durch die Räte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schuster, Dr. Gitschthaler, Dr. Zierer und Dr. Bachofner als Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien
1.) Julia P*****, 2.) Günther P*****, vertreten durch Dr. Ferdinand Pressl, Rechtsanwalt, Wien IX., Rooseveltplatz 4, wider die beklagte Partei Stadt Wien, vertreten durch Dr. Robert Jörg, Rechtsanwalt, Wien VIII., Albertgasse 33, wegen Freimachung und Übergabe einer Wohnung, infolge Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien als Berufungsgerichtes vom 8. März 1960, GZ 45 R 77/60-13, womit infolge Berufung der klagenden Parteien das Urteil des Bezirksgerichtes Floridsdorf vom 23. Dezember 1959, GZ 5 C 717/59-6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben. Die Urteile der Untergerichte werden aufgehoben. Die Rechtssache wird zur neuerlichen Verhandlung und Urteilsfällung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Revisions- und des Berufungsverfahrens werden als Prozesskosten erster Instanz zu behandeln sein.
Text
Begründung:
Die Erstklägerin, die Witwe des Walter P*****, und der Zweitkläger, dessen Sohn, begehren, dass die Beklagte in Einhaltung des bestehenden Mietvertrages die Wohnung im städtischen Wohnhaus W*****, bestehend aus 1 Zimmer, 2 Kabinetten, Küche, Vorraum und Balkon, freimacht und ihnen geräumt übergibt. Sie seien gemäß § 19 Abs 2 Z 11 MietG ungekündigte Hauptmieter der Wohnung. Die Beklagte wendet dagegen ein, dass sich die Kläger um die Wohnung fünfzehn Jahre lang nicht gekümmert und dadurch ihre allfälligen Mietrechte verwirkt hätten.
Nach den Feststellungen der Untergerichte mietete die Erstklägerin im Namen ihres Gatten Walter P***** am 1. 9. 1938 die in Frage stehende Wohnung. Dieser rückte in der Folge zur deutschen Wehrmacht ein und wurde im Jahre 1944 vermisst. Während der Abwesenheit der Kläger kündigte die Beklagte die Wohnung am 5. 12. 1945 dem Walter P*****, der durch einen Abwesenheitskurator vertreten wurde, gemäß § 22 VerbG 1945 (Illegalität) auf. Das stattgebende Urteil des Bezirksgerichtes Floridsdorf vom 8. 5. 1947, 4 C 529/45-10, wurde rechtskräftig. Kurz danach, am 16. 8. 1947 vermietete die Beklagte die Wohnung dem Ernst W*****. In der Folge erwirkte die Erstklägerin das Erkenntnis des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 16. 12. 1949, 48 T 2668/49-8, mit dem als bewiesen erkannt wurde, dass Walter P***** am 31. 8. 1944 in Hussi (Rumänien) gefallen sei. Auf Antrag der Erstklägerin hob die Magistratsabteilung 50 der Beklagten mit dem Bescheid vom 20. 6. 1950 die dritten Personen erteilten Bewilligungen zur Benützung der in der Wohnung befindlichen Möbel mit der Begründung auf, dass weder die Erstklägerin, noch deren am 31. 8. 1944 gefallene Gatte Walter P***** dem verzeichnungspflichtigen Personenkreis angehörten, letzterer deshalb nicht, weil er noch vor dem für die Registrierung maßgebenden Zeitpunkt gestorben sei. Das Erstgericht wies die Klage ab. Eine Doppelvermietung der Wohnung liege - so nimmt das Erstgericht an - nicht vor, weil die Beklagte anlässlich der Vermietung an Ernst W***** am 16. 8. 1947 keine Kenntnis vom Tod des Walter P***** gehabt habe. Da die Erstklägerin nach der Beweisführung des Todes ihres Gatten Walter P***** zwar um die Freigabe des Mobiliars, aber nicht auch der Wohnung angesucht und sich neun Jahre für die Wohnung nicht interessiert habe, könne sie ihre Rechte nicht mehr geltend machen.
Infolge Berufung der Kläger bestätigte das Berufungsgericht das erstgerichtliche Urteil. Die Erstklägerin habe - so argumentiert das Berufungsgericht - im Jahre 1950 vom Tod ihres Mannes und auch davon Kenntnis gehabt, dass ihre Wohnung von einer Mietpartei bewohnt werde. Die unter Mitwirkung des Abwesenheitskurators des Walter P***** zustandegekommene gerichtliche Kündigungsentscheidung werde durch ein später erflossenes Erkenntnis über den Beweis des Todes zwar nicht unwirksam, könne aber nicht Rechte berühren, die Kraft Gesetzes (§ 19 Abs 2 Z 11 MietG) nicht einmal in die Verlassenschaft des ursprünglich als vermisst geltenden Verstorbenen fallen könnten. Dieser Umstand könne sich aber nicht zugunsten der Kläger auswirken, weil sie ihre allfälligen Mietrechte in der der Folge verwirkt hätten. Diesbezüglich könne zwischen den beiden Klägern kein Unterschied gemacht werden. Mangels gegenteiliger Behauptung sei nämlich davon auszugehen, dass die Rechte des Zweitklägers zweckmäßig durch seinen Vormund oder durch seine Mutter, die Erstklägerin, hätten vertreten werden können. Ein Mieter, der sich längere Zeit nicht um sein Bestandrecht kümmere und längere Zeit verstreichen lasse, ohne seine Rechte geltend zu machen, verwirke seine Rechte. Die Erstklägerin habe von 1950 bis 1959 bis zu dem im Mai 1959 gestellten Antrag auf Aufhebung der gar nicht verfügten Einweisung des Ernst W*****, somit durch neun Jahre, keine Schritte zur Erlangung der Wohnung unternommen, sodass die Beklagte schon daraus eindeutige Schlüsse auf den Mangel eines Interesses der Kläger an der Wohnung habe ziehen dürfen. Daran könnte es nach der Meinung des Berufungsgerichtes nichts ändern, wenn die Beklagte im Jahre 1950 der Erstklägerin tatsächlich Versicherungen über die Aussichtslosigkeit ihrer Schritte abgegeben hätte. Den Klägern sei es nämlich unbenommen geblieben, sich damals wie heute eines Anwaltes zu bedienen oder sich sonst an geeigneter Stelle beraten zu lassen, und die Beklagte nehme auch heute noch dieselbe Haltung wie im Jahre 1950 ein. Gegen das Urteil des Berufungsgerichtes, das den Wert des Streitgegenstandes mit mehr als 10.000 S angenommen hat, richtet sich die Revision der Kläger, worin der Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung geltend gemacht und der Revisionsantrag gestellt wird, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass der Klage stattgegeben werde. Allenfalls möge das Urteil aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden. Die Beklagte beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist begründet.
Wie der Oberste Gerichtshof wiederholt (etwa in den Entscheidungen vom 2. 7. 1958, MietSlg 6254, vom 10. 4. 1957, MietSlg 5563) ausgesprochen hat, steht es jedem Berechtigten innerhalb der vom Gesetz bestimmten Verjährungszeit frei, den zur Leistung Verpflichteten zu belangen. Dieser muss grundsätzlich bis zum Ablauf der Verjährungsfrist damit rechnen, vom Berechtigten in Anspruch genommen zu werden. Nur dann, wenn der Berechtigte noch vor dem Eintritt der Verjährung ausdrücklich oder stillschweigend auf seine Rechte verzichtet, wird der Schuldner seiner Verpflichtung ledig. Dem Gesetz ist in Fällen wie dem vorliegenden das Institut der Verwirkung fremd und das Verhalten der Beteiligten kann in der Regel nur nach § 863 ABGB dahin beurteilt werden, ob ein stillschweigender Rechtsverzicht angenommen werden kann. Dabei spielt der Umstand eine besondere Rolle, ob den untätig gebliebenen Berechtigten nach der Verkehrssitte die Pflicht zum Handeln getroffen hätte und ob der Schuldner aus dem Untätigbleiben berechtigterweise auf einen Vezicht schließen konnte.
Bei Dauerschuldverhältnissen, wie etwa auf Grund eines Bestandvertrages, bei denen durch längere Zeit Leistungen und Gegenleistungen zu erbringen sind, wird, wie der Obersten Gerichtshof gleichfalls ausgesprochen hat (vgl z.B. die Entscheidung vom 16. 3. 1955, MietSlg 4359), ein stillschweigender Verzicht des Bestandnehmers etwa dann angenommen werden können, wenn er seine Leistungen durch längere Zeit nicht erbracht hat, ohne dass dafür besondere Gründe vorlagen, die dem Bestandgeber bekannt sein mussten. Im vorliegenden Fall kann den Klägerin jedoch nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass sie seit der anderweitigen Vermietung der Wohnung bis heute der Beklagten den Mietzins nicht entrichtet haben - was nach der Sachlage anzunehmen ist. Dadurch nämlich, dass die Beklagte die Wohnung an eine dritte Person vermietet hat, bezieht sie von ihr den Mietzins samt Nebengebühren und die Kläger, denen der Gebrauch des Bestandgegenstandes entzogen worden ist, sind gemäß § 1096 Abs 1 zweiter Satz ABGB für die Dauer der anderweitigen Vermietung von der Bezahlung des Mietzinses befreit gewesen (vgl Klang in Klang V2 S 44 unten). Es ist im Verfahren bisher nicht hervorgekommen, dass die Kläger darüber hinaus zu weiteren Leistungen an die Beklagte verpflichtet gewesen wären.
Mit Rücksicht darauf konnte die Beklagte aus dem jahrelangen Untätigsein der Kläger allein noch nicht den sicheren Schluss ziehen, sie hätten auf ihre Rechte verzichtet. Nach der Annahme des Berufungsgerichtes hat die Erstklägerin in den Jahren 1947, 1949 und 1950 bei der Beklagten wegen der Wohnung Schritte unternommen und seither weitere Bemühungen unterlassen. Es ist möglich, dass das Verhalten der Erstklägerin bei der Beklagten die Überzeugung hervorrufen konnte, sie habe sich mit dem Verlust der Wohnung abgefunden. Die Tatsachen des Verstreichens von neun Jahren allein vermöchte allerdings diese Überzeugung nicht zu rechtfertigen, wenn die Stellungnahme der Erstklägerin anlässlich ihrer Vorsprachen bei der Beklagten nicht berechtigten Grund dazu gegeben hätte. Die Untergerichte haben sich entsprechend ihrer abweichenden Rechtsmeinung mit den Vorgängen bei diesen Vorsprachen, deren Klarstellung zur rechtlichen Beurteilung nötig ist, zu Unrecht nicht befasst. Diesbezüglich liegt aus rechtlichen Gründen ein Feststellungsmangel vor. Ebenso ist nicht geklärt worden, ob alle Voraussetzungen des Mietrechtseintritts der Kläger nach dieser Gesetzesstelle überhaupt vorlagen.
Die Vorgänge anlässlich der Vorsprache der Erstklägerin bei der Beklagten im Jahre 1950 und allenfalls auch vor und nachher werden von den Untergerichten auch darauf zu untersuchen sein, ob das Verhalten der Erstklägerin für den Zweitkläger als verpflichtend angesehen werden kann, was insbesondere dann der Fall wäre, wenn die Erstklägerin als gesetzlicher Vertreter des Zweitklägers anzusehen war.
Die gegen Walter P***** ergangene rechtskräftige Kündigungsentscheidung könnte das vorher mit dessen Tod am 31. 8. 1944 begründete selbstständige Eintrittsrecht der Kläger nicht berühren.
Aus rechtlichen Gründen mussten die Urteile der Untergerichte aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung an das Erstgericht zurückverwiesen werden. Die Entscheidung über die Kosten des Revisions- und des Berufungsverfahrens beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.
Anmerkung
E83155 1Ob159.60European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:1960:0010OB00159.6.0601.000Dokumentnummer
JJT_19600601_OGH0002_0010OB00159_6000000_000